In dieser Woche haben die Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen einen weiteren „Boden“ durchbrochen. Unser langjähriger europäischer „Advokat“ wird mehr und mehr zu einem strengen Staatsanwalt.
„Bis jetzt haben wir die Zähne zusammengebissen, da, unter Berücksichtigung unserer militärpolitischen Doktrin und Sicherheit, die Erhaltung einer unabhängigen Ukraine von unschätzbarem Wert ist!“, verkündete der Außenminister Polens Witold Waszczykowski nach seinem Besuch in Lwiw streng.
„… Man nutzt uns aus. Die Ukraine geht davon aus, dass wir bedingungslos ihre Sicherheit und Unabhängigkeit bewahren, dass wir in dem Konflikt mit Russland an ihrer Seite sein werden und das wir nicht eine Lösung der bilateralen Probleme – in den Sphären der Geschichte oder Bildung – fordern werden“, diese Worte ähneln bereits einer Drohung.
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Allerdings sind die Beziehungen zu Warschau nur eines von einer Reihe von Problemen, die alle zusammen eine eindeutige alarmierende Tendenz entwickeln. Bei den Unterstützern der europäischen Zukunft der Ukraine könnte der Eindruck entstehen, dass wir „umzingelt“ sind.
Der Kreis besteht jedoch nicht mehr nur aus Russland – ihn bilden auch andere, für uns durchaus unerwartete Mächte. Barrieren und Probleme entstehen dort, wo es jüngst keine geben konnte.
Polen nutzt sehr aggressiv in den gegenseitigen Beziehungen die Geschichte aus, Ungarn sträubt sich, fordert eine Änderung des Bildungsgesetzes. Noch nie hatte Ukraine solche Konflikte mit einzelnen Ländern der Europäischen Union, dabei solchen, die von ihnen selbst initiiert wurden. Auch wenn es kein Gefühl von „Verrat“ erzeugt, so verwirren sie und können euro-skeptische Stimmungen hervorrufen.
Es gibt auch genügend andere Faktoren und Prozesse, die die Skepsis verstärken können.
Die internen politischen Ereignisse in den Ländern der Europäischen Union erinnern gelegentlich an einen Gang auf einem Minenfeld. Und wenn die Mine in die Luft geht, werden die Splitter garantiert auch die Ukraine treffen.
Beinahe jede Wahl in den Ländern der Europäischen Union bringt nun eine große oder kleine Gefahr durch den Sieg oder zumindest eine Zunahme der Präsenz in der obersten Machtpolitik von Kräften, welche die Grundlagen des europäischen Projektes angreifen: die liberale Demokratie und den gemeinsamen Markt. Der Einfluss von unberechenbaren ideologiefreien Populisten wächst – als eine gute Veranschaulichung dafür erweisen sich die vergangenen parlamentarischen Wahlen Tschechiens.
Das konstante „russische Roulette“ bei Wahlen schwächt das Image der Europäischen Union und trägt auch nicht unbedingt zum Vertrauen bei, einschließlich dessen der Ukrainer, in der Beständigkeit des vereinigten Europas und seiner künftigen Rolle als heller Leuchtturm.
Zur gleichen Zeit, wenn es um die Ukraine geht, überrascht die EU mit einer manisch vorsichtigen Herangehensweise auf das mögliche Niveau ihrer Integration – bis zum Unwillen unsere europäischen Bemühungen anzuerkennen. Dadurch wächst der Optimismus nicht unbedingt und kann die Stimmung „auf uns wartet dort niemand“ verstärken.
Dazu kommt noch, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt – das einzige westeuropäische Land, welches öffentlich die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU unterstützte.
Letzten Endes finden innerhalb der Ukraine Prozesse statt, oft direkt gegen die europäischen Versprechungen der jetzigen Regierung und ihrer übernommenen Verpflichtungen. Insbesondere bleiben wir bei der Umsetzung des Assoziierungsabkommens zurück.
Es besteht die Gefahr, dass die Idee der Integration mit der EU letztendlich verschwatzt und diskreditiert wird – denn sie bringt nichts Gutes denjenigen, die ohnehin an das Leben eines oligarchischen korrupten Staates gewöhnt sind. Vor allem da die nächsten vor Wahlen üblichen Übertreibungen vor der Tür stehen.
Litauen anstatt Polen, die Assoziierung ist ungefährdet
Nun, das alles sieht sehr kompliziert aus. Sogar in der vorrevolutionären Zeit vor vier Jahren war die geopolitische Ausgangslage verständlicher. Wenn nicht die Europäische Union, dann Russland. Vielleicht ist es für viele nicht mehr so klar. Sicherlich nicht Russland – aber was dann? Bleibt die EU der Bezugspunkt, der sie seit vielen Jahren war?
Als erstes müssen die Ukraine und die Ukrainer sich in diesen nicht einfachen Bedingungen ausschließlich von Pragmatismus leiten lassen, und nicht von Emotionen. Man muss verstehen, dass es keinen anderen Weg als die Europäische Union gibt und nicht geben wird. Banal, aber so ist es nun mal.
Und trotz der erwähnten besorgniserregenden Prozesse und Ereignisse ist die EU durchaus auch weiterhin in der Lage, ihre Rolle als Leuchtturm zu erfüllen. Die Realität ist immer noch besser als die emotionale Wahrnehmung der europäischen Gegenwart.
Wohlstand und Demokratie bleiben die Merkmale der Europäischen Union – selbst wenn es einigen „zu gut geht und sie übermütig werden“ oder versuchen die Demokratie einzuschränken. So wie in Polen und Ungarn.
Die Schlüsselelemente zur europäischen Integration der Ukraine sind ungefährdet oder ausreichend bruchsicher.
Vor allem ist es das Assoziierungsabkommen mit der EU, welches vor einigen Monaten in Kraft trat. Das erste Programm der Reformen der europäischen Integration in der Geschichte der Ukraine, die erfolgreiche Umsetzung dessen und der Ausstieg aus dem post-sowjetischem Sumpf hängen vor allem von der Ukraine selbst ab – und nicht von den Konstellationen innerhalb der EU oder den Ultimaten der benachbarten Länder.
Die zweite wichtige Sache ist die Europäische Union als Kontrolleur und politischer Spieler in der Ukraine.
Nichts kann in absehbarer Zeit die EU daran hindern – außer etwa Sabotage der pro-europäischen Reformen durch die ukrainische Regierung, die Passivität der Gesellschaft und als Resultat ein der Ukraine Überdrüssigwerden. Die Europäische Union wirkt regelmäßig auf die Annahme dieser oder jener Entscheidungen zugunsten einer europäischen Zukunft der Ukraine ein, und nicht einzelne Personen oder wirtschaftspolitische Gruppen. So kann es und sollte es auch weiterhin sein.
Drittens – die Hilfe seitens der EU kommt und wird nicht aufhören.
Man kann über die Wirksamkeit bestimmter Programme sprechen, über Zuschüsse und Darlehen. In der Tat ist eine strenge Annäherung Brüssels an die Bedingungen für die Bereitstellung dieser Unterstützung notwendig – jedoch sollte man einsehen, dass diese Milliarden von Euro sehr wichtig für die Ukraine sind und tatsächlich an vielen Stellen ihre Wirksamkeit zeigen.
Viertens – der derzeitige Zustand der Europäischen Union ist kompliziert, aber bei weitem nicht kritisch. Ihr Motor ist die Allianz zwischen Deutschland und Frankreich, diese ist in Ordnung, und das flößt Optimismus in Bezug auf die Stabilität der Organisation und die geeigneten Problemlösungen ein, welche offensichtlich auftreten werden.
Möglicherweise werden sich die aktuellen Probleme in der Perspektive auf den Charakter der Beziehungen innerhalb der Europäischen Union auswirken oder auf die Entscheidungsmechanismen, sie werden „von verschiedener Geschwindigkeit sein“ – aber es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre Attraktivität reduzieren oder gar in ihrer Existenz bedroht wird.
Es ist natürlich klar, dass die Ukraine zuverlässige und adäquate Lobbyisten innerhalb der EU als Ersatz für Polen braucht. Aber auch dies kann gelöst werden.
Als die aller offensichtlichste Alternative erscheint auch das historisch nahe Litauen. Eigentlich übernimmt Vilnius bereits seit geraumer Zeit die Funktion unseres wichtigsten Verbündeten in der EU.
Als Symbol kann Litauens Vorbereitung auf den „Marshall – Plan für die Ukraine“ betrachtet werden. Er ist zwar für die Umsetzung in der vorgeschlagenen Form unrealistisch, dennoch verdient die Idee einer umfangreichen finanziellen Unterstützung für die Ukraine an sich politische Aufmerksamkeit und Dankbarkeit.
Zudem steht Vilnius im Gegensatz zu Warschau mit Brüssel nicht in Konfrontation, und darin liegt sein größter Vorteil.
Ukraine kann auch auf eine weitere Reihe an anderen Staaten der EU zählen: Litauen, Estland, Schweden. Ein strategischer Sieg wäre die Hinzuziehung eines der führenden Mächte der EU, wie z.B. Deutschland, in die Reihe seiner Lobbyisten. Es sieht jedoch problematisch aus. Zum Beispiel gehört Berlin selbst zu den Ländern, aus denen ein kalter Wind weht, sobald es um den möglichen zukünftigen Beitritt zur Europäischen Union geht.
Die Aussichten auf eine Mitgliedschaft würden zweifellos Optimismus und Elan hinzufügen, die in solch schwierigen Zeiten sehr wichtig sind. Und sechstens: ihre Abwesenheit ist heute keine Frage, die von entscheidender Bedeutung für die Ukraine ist, wenn man den pragmatischen Ansatz verfolgt.
Und wieder kann niemand sagen, in was sich die Europäische Union in den nächsten 20 Jahren transformieren wird. Welche Vor- und Nachteile eine Mitgliedschaft mit sich bringt.
Zum gegebenen Zeitpunkt ist für uns wichtig, dass die Ukraine sich selbst in einen Staat mit einem widerstandsfähigen pro-europäischen Prozess und Reformen transformiert und das ist durchaus auch ohne Perspektiven auf eine Mitgliedschaft möglich – wenn der politische Wille, eine nicht gleichgültige Gesellschaft und die Hilfe der Verbündeten vorhanden sind.
10. November 2017 // Anatolij Marzinowskij
Quelle: Jewropejskaja Prawda
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