Vor einer geraumen Weile bemerkte der russische Historiker Kljutschewskij: „Früher war die Psychologie die Wissenschaft der Seele, heute ist sie die Wissenschaft ihres Fehlens.“ Ein kluger Gedanke… Und völlig aktuell für die ukrainische psychologische „Wissenschaft“ im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts.
Nicht zufällig setze ich „Wissenschaft“ in Anführungszeichen. Und nicht nur die psychologische, daneben entwickelt sich die medizinische „Wissenschaft“ genauso erfolgreich. Es geht hier überhaupt nicht um das Vorhandensein oder Fehlen von Seele. Mit Schmerzen und häufig auch voll Entsetzen höre ich die Berichte unserer obersten Führerschicht auf öffentlichen Konferenzen. Einmal unterlief mir die Fahrlässigkeit, gemeinsam mit einem amerikanischen Professor auf die Berichte unserer ehrwürdigen psychologischen Väter zu warten. Der Amerikaner, an eine ganz andere Qualität von Wissenschaftlern und Wissenschaft gewöhnt, verfiel in einen Zustand absoluter Verzweiflung. Er rief sogar: „Was reden sie da! Das ist absoluter Unsinn!“ Glücklicherweise verstand der Vortragende, ein Akademiker versteht sich, kein Englisch.
Eine Stunde später, mit mir schon auf dem Kreschtschatik spazierend, kam der amerikanische Kollege ständig auf das von dem ukrainischen wissenschaftlichen Klassiker Gehörte zurück. Seinen emotionalen Zustand ausnutzend suchte ich langsam nach den passenden englischen Worten und sprach: „Verstehst du jetzt endlich, warum du mir und meinem jungen Team helfen musst?“
Er hilft, wie er kann. Aber er kann die ukrainische Ministerin für Bildung und Wissenschaft nicht überzeugen, das universitäre Bildungssystem gründlich zu modernisieren. In ein den modernen Anforderungen in Nordamerika, Afrika, Asien, Lateinamerika völlig angemessenes. Aber ich – kann es nicht.
Gibt es niemand Anderes? Jemand Kluges, gut Gebildetes, ständig moderne professionelle Literatur Lesendes? Es gibt eine ganze Reihe, und nicht nur in Kiew und in Lwiw. Aber sie gehören leider nicht der Nomenklatur an. Es gibt die akademische Jugend, die angefüllt ist mit modernem Wissen, das dem ihrer europäischen, afrikanischen und asiatischen Kollegen entspricht. Aber morgens, wenn sie zur Arbeit gehen, müssen sie ihr nichtukrainisches Wissen (früher hätte ich gesagt antisowjetisches Wissen) vor ihren Bossen verstecken, den schlecht ausgebildeten und sehr, sehr rachsüchtigen. Und vor den häufig wechselnden Ministern, die ihrem Umfeld lieber ihren strikten Patriotismus demonstrieren als moderne Management-Fähigkeiten. Ich lüfte noch ein streng gehütetes Geheimnis: In der sowjetischen Ukraine war die Zahl der Verteidiger einer Dissertation deutlich geringer als heute.
Ja, es gab auch damals, in der UdSSR, schlechte Spezialisten und Dummköpfe, aber nicht so viele. Mein Vater, ein Medizin-Professor, erzählte mir nicht ein einziges Mal von Tricks unehrlicher Doktoranden. Sie versuchten mit der Verteidigung ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen in sogenannten geschlossenen Wissenschaftsräten und bei den Verantwortlichen der Abteilungen der Attest-Kommission durchzukommen, „Geheimes“ vor der Ägide des KGB und des Verteidigungsministeriums zu verbergen. Dorthin, in die geschlossenen Räte, ließ man Zuhörer von außen nicht vor, selbst solche wie meinen Vater, Mitglied der Kommunistischen Partei, verdienter Frontkämpfer usw. usf. Und natürlich gab es dort auch keine Diskussionen.
Täglich höre ich, dass wir, die Ukraine, ein Teil Europas werden wollen. Und wir tun dafür alles, was möglich ist. Ich versichere Ihnen, liebe Leser, mit diesen „Wissenschafts-Kadern“ nimmt man uns in Europa nicht auf. Mit diesem Personal müssen wir um Aufnahme ins putinsche Russland bitten. Dort nimmt und streichelt man uns. Und keine amerikanischen Professoren helfen uns. Wo es doch hier am ehesten am politischen Willen unserer Führung fehlt. Leider gibt es den nicht.
Die Bildung ist eines der trägsten Systeme des sozialen Organismus. Aber im Fall der Modernisierung dieses Systems wären die Veränderungen im Land fundamental.
26. Dezember 2016 // Semjon Glusman, Psychiater
Quelle: Lewyj Bereg
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