Nach dem unweigerlichen Zusammenbruch des Putinsystems wird Moskau nach einer Wiederaufnahme seines vorputinschen Kurses enger Beziehungen zum Westen streben. Dann wird sich eine neue Chance ergeben, eine schrittweise Integration Russlands in westliche Strukturen ökonomischer Zusammenarbeit und internationaler Sicherheit zu beginnen.
Die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlicher Stagnation und fundamentaler Transition an der Spitze der Moskauer Machtpyramide machen die Ablösung des jetzigen charismatischen Führers Russlands durch eine ausreichend akzeptable, starke und perspektivreiche Alternativfigur (ohne sinnvolle demokratische Wahlen) zu einer schwierigen Aufgabe. Wozu genau die damit zusammenhängende unausweichliche Destabilisierung des politischen Regimes in Russland auf internationale Ebene führen wird, ist schwer vorherzusagen. Die Mehrzahl der Analytiker neigt dazu, entweder eine Anpassung des bestehenden Regimes an die neue Situation sowie die Beibehaltung des heutigen auswärtigen Kurses oder aber eine noch weitere Verschlechterung der russisch-westlichen Beziehungen infolge einer zunehmenden Radikalisierung oder gar Faschisierung des bestehenden Systems vorauszusehen.
Diese Szenarien würden jedoch darauf hinauslaufen, dass die heutigen tiefgehenden sozioökonomischen Defekte in Russland bestehen bleiben oder sich sogar noch vertiefen. Höchstwahrscheinlich werden die tiefe Einbindung Russlands in die Weltwirtschaft, seine Unfähigkeit zur Autarkie sowie fehlende geoökonomische Alternativen zu wirtschaftlichen Verbindungen mit dem Westen daher dazu führen, dass es nach einem Kurs- und Regimewechsel in Moskau letztlich zur Wiederaufnahme jenes Kurses auf Annäherung und Integration mit dem Westen kommen wird, der Ende der 1980er schon einmal eingeschlagen worden war. Sobald das geschieht, sollten Washington, Brüssel und Berlin – im Unterschied zu 1991 – bereits über einen umfassenden Aktionsplan verfügen.
Voraussetzung für die Aussöhnung zwischen Russland und dem Westen wird die Bereitschaft Moskaus sein, seinen verschiedenen expansionistischen Abenteuern in Osteuropa und im Südkaukasus zu entsagen und sich auch in anderen Regionen der Welt konstruktiver zu verhalten, etwa im Nahen Osten. Insbesondere wird der Kreml russische Truppen und Söldner aus jenen Ländern abzuziehen haben, die deren Aufenthalt auf ihren Territorien nicht wünschen. Einen solchen nicht einfachen Weg einzuschlagen und konsequent zu gehen, wird es der Ermunterung, Motivation und Unterstützung von außen bedürfen. Daher sollten die EU und USA schon heute den Russen die Vorteile eines Aufgebens ihrer irredentistischen Ambitionen auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR klar und öffentlich darlegen. Der Westen könnte noch vor dem Fall des „Putinsystems“ eine detaillierte Agenda zur weitgehenden Assoziierung und teilweisen Integration eines postputinschen Russlands in die westliche Welt entwickeln und publizieren – ein Angebot, welches über den Rahmen einer Wiederherstellung der unter Präsident Jelzin praktizierten russisch-westlichen Zusammenarbeit hinausgeht.
Die vor kurzem angelaufenen EU-Großprojekte mit der Ukraine, Moldova und Georgien im Rahmen der Initiative „Östliche Partnerschaft“ könnten als Modelle für eine im Vergleich zur Periode vor 2014 weit intensivere und engere Verbindungen zwischen Brüssel und einem postimperialen Moskau fungieren. Im Einzelnen könnten mit Russland und seinen derzeitigen Verbündeten ebensolche Aktionspläne zur Visaliberalisierung beziehungsweise Verhandlungen von Assoziierungsabkommen vorgeschlagen werden, wie sie die EU in den letzten Jahren mit der Ukraine, Georgien und Moldova umgesetzt hat. Nach der Verabschiedung einer Reihe notwendiger Gesetze und Erfüllung weiterer Bedingungen durch Moskau könnten Bürgern Russlands das Recht auf visafreie Einreise in den Schengen-Raum eingeräumt werden. Ebenso könnte Washington vorschlagen, Russland nach angemessener Vorbereitung in sein Programm für visafreies Reisen (Visa Waiver Program, VWP) aufzunehmen.
Ein Assoziierungsabkommen zwischen Moskau und der EU, welches die Schaffung einer vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) einschließt, könnte Russland dabei helfen, auf einen Schlag zwei seiner strategischen Hauptziele zu erreichen. Zum einen würde ein solches ein Abkommen einen ausgefeilten Maßnahmenplan unterbreiten, wie Russland schrittweise zu einem untrennbaren Teil des europäischen Rechts- sowie Wirtschaftsraumes und wie sich damit seine sozioökonomische Zukunft gestalten wird. Zum anderen würde ein solches Abkommen die postsowjetische Wirtschaft Russlands mit den Ökonomien der Ukraine, Georgiens und Moldovas reintegrieren, welche bereits heute ihre Freihandelszonen mit der EU im Rahmen ihrer Assoziierungsabkommen aufbauen. Auf diese Weise könnte man einen der Hauptkritikpunkte an der derzeit laufenden schrittweisen Integration der assoziierten Ostpartnerschaftsstaaten der EU entkräften, welcher besagt, Brüssel trenne diese Länder von ihren traditionellen Märkten und Partnern in der ehemaligen Sowjetunion.
Schließlich könnten Brüssel und Washington Moskau die gemeinsame Realisierung eines so genannten Membership Action Plan (MAP) der NATO unterbreiten, der den Beitritt Russlands zur Nordatlantischen Allianz vorbereiten würde. Russlands Eingliederung in das Verteidigungsbündnis des Westens würde, wie auch im Falle des Assoziierungsabkommens mit der EU, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen würde Russlands Zugang zum mächtigsten Sicherheitsbündnis der Welt die tief im kollektiven Bewusstsein der Russen verwurzelte Angst vor fremdländischer Eroberung – eines der Hauptgründe der heutigen Instabilität Europas – verringern. Zum anderen würde der Beitritt Russlands zur Nordatlantischen Allianz den russisch-westlichen Streit um die vorausgegangenen NATO-Erweiterungen und Anbindung anderer postsowjetischer Staaten an den westlichen Militärblock, in erster Linie der Ukraine, lösen.
Die Aufnahme des postimperialen Russlands in die NATO könnte Teil eines Great Bargain in Osteuropa und im Südkaukasus sein, eine große Vereinbarung, welche Moskaus Abkehr von seinen jetzigen territorialen und politischen Ansprüchen gegenüber verschiedenen ehemaligen Sowjetrepubliken mit aktiver westlichen Einbindung Russlands in ein Großeuropa verbindet. Der Sinn einer solchen Agenda für solch ein „anderes Russland“ bestünde nicht nur darin, dass diese zielgerichtet realisiert werden könnte, falls und sobald eine neue Situation in Osteuropa entsteht. Die Ausarbeitung und Öffentlichmachung eines derartigen Planes könnte schon heute zu einem Instrument der Beförderung einer postputinschen Transformation werden.
Der Text ist erstmals als Kurzvortrag auf der von Chatham House und dem Kieler Institut für Sicherheitspolitik organisierten Konferenz „Europe’s Strategic Choices“ am 7. Dezember 2017 in Berlin und seither mehrmals schriftlich in Englisch, Russisch und Ukrainisch vorgestellt worden. Zuerst in deutscher Sprache erschienen in „The European“. Eine ausführlichere Begründung und Darlegung dieses Planes erscheint demnächst in einer deutschen Fachzeitschrift.
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