Wodurch die deutsche Kanzlerin enttäuscht hat und was die Ukraine zukünftig erwartet.
So hätte der letzte Besuch der deutschen Kanzlerin in der Ukraine nicht ablaufen sollen. In dem Land, das für die Wiederherstellung der Souveränität und Unabhängigkeit, für die Rückgabe der von Russland besetzten Gebiete kämpft, hoffte man darauf, eine andere Angela begrüßen – „unsere Angela“, wie sie einst in den ukrainischen Hinterzimmern genannt wurde – mit echten Ehren. Und obwohl ihr Besuch in Kyjiw nach dem traditionellen diplomatischen Einladungskanon der Gastgeberseite stattfinden hätte sollen, war es diesmal nicht so. Das Interesse war auf der Seite Berlins.
Wenn noch irgendjemand in der Illusion gefangen ist, muss er enttäuscht werden. Nein, bei Merkels Besuch in der Ukraine ging es nicht um die Ukraine. Am Vorabend ihrer Sitzungsreise in Kyjiw besuchte die deutsche Kanzlerin nicht zufällig, sondern ganz bewusst den Kreml. Diese Art der „Shuttle-Diplomatie“ Merkels war im eigenen Interesse. Diese Episode hat zusätzlich bestätigt, dass der Vorrang bei der Lösung von Angelegenheiten, bei denen das ukrainische Interesse vielleicht am kritischsten ist, nicht der Ukraine zukommt. Unser Schicksal wird hinter dem Rücke der Ukraine ohne die Ukraine entschieden, indem am Ausgang ein Scheck „zustimmen oder ablehnen“ ausgestellt wird. Genau so sieht auch reale Politik aus, wo die größten Dividenden von denjenigen kommen, die sich um ihre Zugänge vereinen, die sich aktiv und proaktiv in den Labyrinthen der Weltpolitik bewegen und die sich ein solides und breites Netzwerk an persönlichen Kontakten aufbauen. Kyjiw fand dafür keine Zeit und ruhte sich auf den Lorbeeren des Erfolges aus, die Welt von der Toxizität Russlands überzeugt zu haben, die Regierungschefs in den vergangenen Jahren erreicht hatte.
Ist Frau Merkel schuld daran, dass ihr das deutsche Interesse mehr am Herzen liegt? Nein. Bleibt sie eine Verfechterin der ukrainischen Interessen? Ja. Jedoch reichen ihr Glaube und ihre Hingabe an den ukrainischen Kampf allein nicht aus, um zu gewinnen. Sie unterstützen diejenigen, die sich selbst widersetzen und bieten wirksame Formeln zur Lösung von Problemen, welche mit den Interessen vieler zusammenhängen. Bei Nord Stream 2 war es immer so und wird es auch bleiben. Und genau zum Abschluss dieses Projekts kam Frau Merkel in die Ukraine, um sich mit Präsident Wolodymyr Selenskyj zu treffen. Der Donbas und die Krim haben diesmal nichts damit zu tun. Nicht mehr als eine „Sauce zum Hauptgang“. Belege gibt es dafür viele. Vom deutlich verkürzten Aufenthalt der Kanzlerin in der Ukraine – sie blieb ja doch weniger als einen Tag in Kyjiw und hielt nur zwei Sitzungen ab – bis hin zur äußersten Pünktlichkeit aller Veranstaltungen des Programms, bei dem jedes Treffen im festgelegten Zeitrahmen stattfand. Die angekündigten Verhandlungen am 23. August in Kyjiw zwischen den Energieministern der Ukraine, Deutschlands und USA haben endlich alles seinen Platz gerückt. Ohne die EU und Russland erinnert es eher an den Versuch, gute Miene zum bösen Spiel zu bewahren. Hinter den Kulissen dieser Nebelwand bietet man Kyjiw an, das bessere von zwei Übeln zu wählen – dem Energieangebot zuzustimmen oder nicht; schließlich könnte die Alternative schlimmer sein. Das ist Merkels Formel und Testament.
Während einer gemeinsamen Pressekonferenz versuchten Präsident Selenskyj und Kanzlerin Merkel vergeblich, die grundsätzlichen Differenzen zwischen den Positionen Kyjiws und Berlins zu verbergen. Das Treffen am 22. August brachte sie einander nicht näher, sondern schien sie im Gegenteil noch mehr zu entfremden. Nicht einmal die großzügige Geste Kyjiws, Merkel den Orden der Freiheit zu verleihen, hat dieses Gefühl beseitigt (und konnte es auch nicht). Eine vollkommen gerechtfertigte Auszeichnung im Hinblick auf den Beitrag der Kanzlerin zur Unterstützung der Ukraine. Doch der dafür gewählte Zeitpunkt demonstrierte einmal mehr die Kurzsichtigkeit der Bankowa [Bankowa wulyzja in Kyjiw- dort befindet sich das ukrainische Präsidialamt, A. d. Ü.], denn daran hinderte sie nach ihrem Ausscheiden aus dem politischen Amt nichts.
Der Hauptfehler Kyjiws, der infolge des Treffens zwischen Selenskyj und Merkel deutlich wurde, besteht darin, dass die Ukraine jedes Mal zulässt, den Fokus der Aufmerksamkeit einzuschränken und nur über die Interessen der anderen Seite zu sprechen. Es geht nicht um Nord Stream 2 oder um Nord Stream 1. Und nicht um das Geld, um das Kyjiw zu feilschen versucht oder Berlin als Kompensation anbietet. Es geht um den tektonischen Bruch, von dem das gesamte vereinte Europa und die transatlantische Welt bedroht ist, indem es sich dazu bereit erklärt, einen neuen Energiearm für Russland zu starten. Was zu einem Zwangsinstrument hätte werden können, um Russlands Verhalten zu ändern und es zu zwingen, sich in Zukunft an die Regeln zu halten, wird immer mehr zu einem Demotivator für diese Veränderungen und zu einer Einladung zu weiterer hybrider Aggression des Kremls.
Erinnern wir uns daran, dass die russische hybride Aggression weder durch das Budapester Memorandum noch durch die Washingtoner Merkel-Biden-Erklärung gestoppt wurde. Insbesondere nach der Inbetriebnahme von „Putins Gaspipeline“. In Kyjiw konnte die Kanzlerin der BRD keine klare Antwort auf die Frage geben, ob die Ukraine nach 2024 zumindest irgendwelche Garantien für den Transit und die Befüllung des ukrainischen Gastransportsystems erhalten wird. Sie konnte es nicht – das heißt, es gibt keine Garantien, und alles, wie es auch Moskau heißt, wird in Zukunft von der Marktsituation abhängen. In diplomatischen Kreisen, die mit den Verhandlungen vertraut sind, bestätigt man, dass in Kyjiw nichts Neues passiert ist: Zugeständnisse erwartet man sich gerade von der Ukraine.
Stattdessen hätte die Perspektive, irgendwo in Europa Nord Stream 2 einzustellen, nicht nur eine Abschreckung für Russland und ein Talisman für die Ukraine und die EU insgesamt, sondern auch ein Instrument sein können, um die Interessen einer Beendigung der russischen Aggression zu fördern und den Kreml zur Erfüllung seiner Sicherheitsverpflichtungen gemäß den Minsker Abkommen zu zwingen. Nach dem Start von „Putins Gaspipeline“ (und Zweifel daran gibt es immer weniger und das Treffen mit US-Präsident Joseph Biden scheint dies zu beweisen) ist ein Rollenwechsel zu erwarten. Es ist vollkommen offensichtlich, dass Moskau mit dem ersten Kubikmeter russischen Gases in Nord Stream 2 die Möglichkeit erhält, seinen Preis für die Stabilität der Energieversorgung festzulegen, und wahrscheinlich politische Zugeständnisse von Kyjiw zur Lösung der Situation im Donbas fordert , wenn die Ukraine eine sichere und stabile Gasversorgung und Transit anstrebt.
Bei einer so eindeutigen Betonung des Themas Energiewirtschaft ist es sinnlos, von irgendwelchen Fortschritten in Richtung der Minsker Regelung zu träumen. Ja, Kanzlerin Merkel hat dieses Thema in Kyjiw nicht ignoriert und zugegeben, dass sie es am 20. August in Moskau bei Präsident Putin zur Sprache gebracht hat. Aber ob das wesentlich ist? Verräterisch sind sowohl in Kyjiw als auch in Moskau ihre Worte über die „Tagesordnung“ eines möglichen Normandie-Treffens und die Anerkennung einer „unzureichend schnellen Bewegung“ in Richtung einer Einigung. Wenn man es aus der diplomatischen in verständliche Sprache übersetzt, bedeutet dies, dass ohne Zugeständnisse Kyjiws, d. h. die Implementierung der „Steinmeier-Formel“ [Von Frank-Walter Steinmeier in seiner Zeit als Außenminister eingebrachter Kompromissvorschlag, wonach die Autonomie für die Separatistengebiete bereits ab dem Wahltag und nicht erst nach der Anerkennung der Wahlen in den Gebieten durch die OSZE erfolgen soll. A.d.R.] in die ukrainische Gesetzgebung und die Bereitschaft zu weiteren Zugeständnissen auf dem politischen Weg, nicht mit Fortschritten zu rechnen sein dürfte. Die Situation wird auch weiterhin in einem eingefrorenen Zustand, unter der Kontrolle der Launen des Kremls und seiner Lieblingstaktik der kontrollierten Verschärfung an der Front.
Aus der Perspektive einer Bewertung des Erfolgs des Besuchs der Kanzlerin Deutschlands in der Ukraine war auch das Fehlen von Signalen einer Bereitschaft, die Sanktionen gegen Russland zu intensivieren, um dessen Aggression abzuschrecken, sehr bezeichnend. Wie auch kein Wort über die erträumten Perspektiven in der Ukraine auf eine europäische und euroatlantische Integration, den Aktionsplan bezüglich einer Mitgliedschaft oder eine Erklärung in Bezug auf die Unterstützung Deutschlands für die europäische Perspektive der Ukraine. Berlins Wort zu diesen Pfaden ist entscheidend. Das Schweigen ist bezeichnend.
Genauso ging man bei dem Besuch auch die Perspektiven für eine Handels-, Wirtschafts- und Investitionskooperation zwischen der Ukraine und Deutschland durch, die – wie Präsident Selenskyj versprochen hat – die Grundlage für jedweden Kontakt unter seiner Beteiligung sein soll. Die von der Kanzlerin mitgebrachten 1,5 Millionen Impfstoffdosen für den Kampf der Ukraine gegen das Coronavirus wurden vor dem Hintergrund aller anderen Themen eher zu einem „Trostpreis“ und einer Geste der Barmherzigkeit für Kyjiw und unterstrichen Merkels „Entschuldigungs“-Besuch.
Und während Kyjiw außer Anschuldigungen gegenüber den Partnern keine wirksamen Formeln zu bieten hat, um Russlands Aggression abzuwehren, handelt der Kreml weiter. Schon vor Merkels Besuch gelang es Putin, ein langes Telefonat mit dem französischen Präsidenten Macron zu führen, mit dem er die Ukraine-Frage ausführlich besprach. Ein persönliches Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel am nächsten Tag macht es möglich, das russische Narrativ zu verfestigen: für den stockenden Friedensprozess wird jetzt Kyjiw verantwortlich sein. Wenn sich am Trend der zuletzt abgehaltenen Treffen – von Genf bis Moskau – und während des Besuchs von Präsident Selenskyj in Washington nichts geändert hat, muss sich die Bankowa auf neue Realitäten einstellen. Nun wird auch die Taktik „in die Augen schauen“ [Anspielung auf eine Äußerung Selenskyjs vom 6. Dezember 2019 vor dem Treffen mit Putin. A.d.R.] nicht funktionieren, Putin wird seine Augen einfach abwenden oder damit rollen.
Mit einem gewissen Beigeschmack der Enttäuschung blättern wir die von Wolodymyr Selenskyj und Angela Merkel gemeinsam verfasste Seite im Buch der ukrainisch-deutschen Beziehungen um und erwarten in der Hoffnung auf Besseres die nächste Seite. Sollte man Berlin und Merkel persönlich dafür verantwortlich machen? Das ist eine rhetorische Frage. Über Gewinner urteilt man nicht.
23. August 2021 // Kostjantyn Jelisjejew, Diplomat, war unter anderem von 2010 – 2015 Vertreter der Ukraine bei der Europäischen Union
Quelle: ZN.ua
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