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Nachtwache in Kiew

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Stellen Sie sich vor, Sie fahren nachts in Ihrem Auto zusammen mit drei Freunden. Jeder von Ihnen hat einen Helm sowie einen Baseballschläger oder einen einfachen Stock dabei. Sie fahren durch Berlin, Hamburg, München oder sogar durch das unsichere Frankfurt am Main. Draußen sind minus zehn Grad, und es schneit. Sie glauben, dass es schwer ist, sich so ein Wetter in Ihrer Stadt vorzustellen? Es gibt jedoch Dinge, die man sich noch schwerer vorstellen kann, ich würde sogar sagen, die sich der Verstand vorzustellen weigert.

Denn das Ziel Ihrer Nachtfahrt ist, erfahrene Banditen und kleine Randalierer zu fangen, die die Regierung auf die Straßen loslässt und ihnen je 20-40 Euro bezahlt. Für dieses Geld sollen sie Autos zertrümmern und alleingehende Fußgänger schlagen (häufiger) oder einfach einschüchtern (seltener). Als „Nachtwächter“ haben Sie noch eine Aufgabe – die Rettungswagen zu begleiten, die bei den Protestaktionen verletzte Menschen in Krankenhäuser fahren, denn diese Verletzten kommen oft gar nicht in den Kliniken an, stattdessen werden sie festgenommen und ins Gefängnis oder gar in den Wald verschleppt. Im besten Fall werden sie draußen herausgeschmissen, im schlimmsten getötet. Wo denn die Polizei sei, werden Sie fragen. Die Polizei arbeitet auch. Sie jagt nach solchen Volontären wie Sie und bringt sie in Untersuchungshaft. Sie versucht, die von Ihnen festgenommenen Banditen und Randalierer zu befreien. Sie lauert vor Wohnheimen auf Studenten und verhaftet sie (die Begründung dafür ist ganz einfach: wenn ein Student nachts heimkommt, bedeutet das automatisch, dass er auf dem Maidan war und die „Regimegegner“ unterstützt). Hin und wieder erfahren Sie, dass solche Volontäre wie Sie in eine Falle geraten sind: Man hat sie um Hilfe gebeten, aber als sie hinkamen, wartete schon die Polizei und die Sonderpolizeieinheit „Berkut“ auf sie. Ihre Autos werden zertrümmert, und sie werden festgenommen.

Unterwegs zum Maidan sammeln Sie weggeschmissene Autoreifen und bringen sie auf die Barrikaden. Dort werden sie ins Feuer geworfen, das Demonstranten von der Sondereinheit „Berkut“ trennt. Solange Reifen brennen, haben Sie eine Illusion, dass die „Berkut“ nicht vormarschiert.

Um 6.30 Uhr kommen Sie nach Hause und verschicken an Ihre Freunde SMS, dass Sie in Ordnung sind. Um 11.00 machen Sie die Augen auf, schauen auf die Decke und denken daran, dass man wieder den PC einschalten und Nachrichten lesen muss. Man hat Angst vor Nachrichten, aber man muss lesen, denn es besteht die Gefahr, dass schon morgen das Internet in der ganzen Stadt abgeschaltet wird! Und das ist kein Witz.

Das ist mein Kiew, eine der Hauptstädte in Europa mit den meisten Grünanlagen. Die Stadt, wo ich wohne und wo ich gerne Gäste aus der ganzen Welt empfange. Wenn dieser Schrecken einmal zu Ende ist, werde ich zu meiner Arbeit zurückkehren: Ich lektoriere zur Zeit die Übersetzung einer Monographie von meinem Freund Franco Nembrini. Dieses Buch – das sind Kommentare zu Dantes „Hölle“. Wie gerne ich schon endlich zum „Fegefeuer“ übergehen würde!

Wie auch soziologische Umfragen bestätigen, nennen die meisten Menschen, die schon seit zwei Monaten den Maidan nicht verlassen wollen, als den Hauptgrund für ihren Protest die Tatsache, dass die Regierung zur Gewalt griff. In diesem Kontext ist die Stellung der Kiewer Bürger gewissermaßen charakteristisch: Die meisten Einwohner der Hauptstadt sind ziemlich unpolitische Menschen, die jedoch alle „pro“ und „contra“ der Annäherung der Ukraine an die EU eine recht gute Vorstellung haben. Sie konnten nicht gleichgültig bleiben, als infolge der Gewaltanwendung von der Regierung auf Kiews Straßen Blut vergossen wurde. Trotz der schrecklichen Ereignisse der letzten Tage sind die meisten auf dem Maidan protestierenden Menschen überzeugt, dass die einzige Art zu beweisen, dass das Recht auf ihrer Seite ist, der Verzicht auf Gewalt ist und der Versuch, sich an legitime Mittel zu halten. Die am 16. Januar verabschiedeten diktatorischen Gesetze ließen uns jedoch keine Wahl: Wir haben verstanden, dass wir nun mit eigenen Kräften die Gesundheit und die Rechte der Menschen verteidigen müssen. Die Regierung drehte sich von dem Volk weg und spuckte friedlichen Demonstranten ins Gesicht, indem sie Banditen nach Kiew brachte und ihnen die Handlungsfreiheit gewährte. Es ist mir wichtig, zu betonen: Alle meine Handlungen haben schon lange keinen ideologischen oder politischen Charakter mehr. Ich habe keinen Wunsch, Russland zu „entfliehen“ und in die Arme der EU zu kommen. Aber ich will, dass Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde in der Ukraine respektiert werden – die Werte, die der europäischen Kultur zugrunde liegen. Ich bin in Kiew geboren und lebe hier. Ich bin Lektor im Verlag „Geist und Buchstabe“ («Дух и Литера»), der intellektuelle Literatur in Bereichen Philosophie, Geschichte, Theologie und Soziologie herausgibt.

Eine erste Version erschien am 25. Januar in La Stampa. Der russischen Version wurde noch dieser Absatz vorangestellt:

„Jetzt, eine Woche später, schlagen die von der Regierung bezahlten Randalierer Leute nicht nur in Kiew, sondern in anderen Großstädten der Ukraine und die Lufttemperatur ist viel niedriger als Minus 10 Grad. Aber nach wie vor bestehe ich auf der Unzulässigkeit der Gewalt und gebe keinem Gedanken an den Ausnahmezustand den Raum.”

27. Januar 2014 // Alexej Sigov

Quelle: Facebookeintrag

A.d.R. Zum Stand 2. Februar werden ukraineweit 36 Menschen laut der Seite Jewromaidan SOS vermisst. Dem Innenministerium liegen ganze neun Vermisstenanzeigen vor.

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