Noch vor einigen Wochen schien Russlands politisches Problem „das Problem 2024“ zu sein – das Jahr, wenn die zweite Amtszeit (eigentlich natürlich die vierte, jedoch die zweite nach dem Präsidenten Dmitri Medwedew) von Wladimir Putin als Staatsoberhaupt zu Ende geht.
Man ging davon aus, dass die Verfassungsänderungen – durch Putin eingeleitet – mit der Lösung genau dieses Problems einhergehen: die Sicherstellung eines „sanften“ Machttransits. Und das Putin, der für die Umverteilung der eigenen Befugnisse zugunsten des Parlaments und der Regierung eintrat, so seinen Posten für einen „verständlichen“ und entrechteten Nachfolger freimachte. Er selbst sollte dabei den Posten des Staatsrates, des Förderationsrates oder des Sicherheitsrates bekommen – kurzum: irgendeinen Posten, wo sich der tatsächliche Einflussbereich konzentriert. Und als Putin verkündete, dass er nicht vorhabe, der Leiter des Staatsrates zu sein und sich entschieden gegen die Doppelherrschaft positionierte – ernüchterte dies niemanden. Niemanden in Russland und auch nicht im Westen. Politiker und Experten suchten auch weiter fieberhaft nach einem Örtchen, von wo aus Putin nach 2024 Russland regieren wird.
Die Ereignisse des 10. März stellten diesen Wehen eine beinahe endgültige Diagnose. Es wird keine Doppelherrschaft und keinen Förderationsrat geben. Es wird Putin geben, der die Möglichkeit erhält – nach der absehbaren Justifikation des Verfassungsgerichts Russlands – für zwei weitere Amtszeiten zu kandidieren. Also das Land bis zum Jahre 2036 zu regieren, sofern dies seine Gesundheit zulässt.
Tatsächlich wurde bereits vor einigen Wochen ersichtlich, dass sich der Kreml auf solch eine Entwicklung der Ereignisse vorbereitete, und zwar nach dem berühmt-berüchtigten Interview mit Putins Helfer Wladislaw Surkow. In Kiew schenkte man vorerst jenen Thesen Aufmerksamkeit, die die Ukraine selbst und den russisch-ukrainischen Konflikt betrafen. Freilich sprach Surkow in dem Interview auch über Russland. Und er machte deutlich, dass „die rechtliche Logik es erforderlich macht, die Amtszeit des Präsidenten auf Null zu setzen.“ Die rechtliche Logik, nicht jedoch die politische! Denn „wenn die Regierung die Zählung nicht neu startet, verstoßen sie damit arg gegen die juristische Reinheit.“
Nach diesen Aussagen von Surkow hätte man auch aufhören können, aus dem Kaffeesatz zu lesen und verstehen, was Putin eigentlich vorhat. Doch die Leser von Surkow entschlossen sich dazu, über ihn zu lachen und sein Interview „das Wehklagen der Jaroslawna“ zu nennen [die Frau des Fürsten von Nowhorod-Siwerskyj – eine der wichtigsten Figuren des Igorliedes, zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, A.d.Ü.], mit dem Ziel Putins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Um zum wiederholtem Male sein Unverständnis, wie sich die Ereignisse im Kreml tatsächlich entwickeln, zu verdeutlichen.
Surkow hat es nicht nötig die Aufmerksamkeit von Putin auf sich zu ziehen. Er sollte über die Vorhaben Putins sprechen. Was er auch macht. Letztendlich: wer sollte sonst über diese Vorhaben sprechen, wenn nicht der Konstrukteur der „Gelenkten Demokratie“ in Zeiten ihres höchsten Triumphes: der faktischen Krönung Putins, die ihm zum lebenslangen Präsidenten macht, durch Salbung durch die servile erste Kosmonautin des Planeten, die nach dem Flug ins All fast ununterbrochen – seit dem Jahr 1966 – in den dekorativen Moskauer „Parlamenten“ tagt?
Man muss jedoch verstehen, dass die Krönung nicht so sehr das Zeugnis von Stärke ist, sondern auch und vor allem der Schwäche des Systems. Die Putin´sche Unendlichkeit demonstriert, dass das – nicht mal von Putin, sondern von seinem Vorgänger Jelzin – aufgebaute System, einen „Regenten“ braucht. Der Thron Jelzins kann nicht ohne einen Regenten existieren – wie auch der spanische Autoritarismus nicht ohne den Regenten Franco existieren konnte.
Russland stürzt sich endgültig in den Abgrund des späten Franquismus und nach dem Unvermeidlichen – alle Naturgesetze können ja nicht umgangen werden – dem Abgang des Caudillo, warten auf Russland neue große Erschütterungen, der Kampf der alt gewordenen Mitstreiter, die Entputinisierung, eine Perestroika, Glasnost – dies alles für etwa zehn Jahre, und dann wieder ein neuer Putin … Doch bis dahin muss man erstmal leben.
Und bisher sollte man noch einmal Surkow lesen. Und verstehen, dass wenn er nicht über die Nullsetzung der Amtszeiten scherzte – und diese Nullsetzung geschah buchstäblich einige Tage nach dem Interview des Zurückgetretenen, dass auch von der „Zwingung zu brüderlichen Beziehungen mit Gewalt – die einzige Methode ist, die ihre Effektivität in der ukrainischen Richtung bewiesen hat“, er auch darüber nicht scherzte.
Deshalb ist die Ukraine dazu verdammt, sich – solange Putin an der Macht bleibt – permanent in einem bewaffneten Konflikt mit Russland zu befinden. Es werden Menschen sterben. Es werden Versuche unternommen werden, das Land zu destabilisieren und weitere Teile des Landes zu besetzen. Die pro-russische Propaganda und die pro-russischen Kräfte werden auch weiterhin finanziert werden. Es wird keinen Frieden geben, jegliche Hoffnung darauf ist aufzugeben – was auch immer die ukrainische Regierung jetzt oder nach dem Abgang des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenski [Wolodymyr Selenskyj] von der Bühne unternehmen mag.
Eine Möglichkeit der Stabilisierung wird sich erst nach Putins Abgang ergeben, unter den Bedingungen des russischen Chaos und der Imitation einer Demokratie. Übrigens, wenn die Ukraine diese Periode nicht dafür nutzt, um sich von Russland abzugrenzen und der Nato beitritt, wird nach dem Machtantritt eines neuen Putins im Nachbarland der Krieg erneut entfacht und alles beginnt nach dem bewährten Schema.
11. März 2020 // Witali Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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