Der Direktor des Nationalen Instituts für strategische Forschungen Wladimir Gorbulin ist überzeugt: Ungeachtet der drohenden Verschärfung der Beziehung zwischen dem Westen und Russland ist die Wahrscheinlichkeit eines globalen Kriegs zwischen ihnen verschwindend gering. LB.ua. hat mit Waldimir Pawlowitsch über einen neuen „kalten Krieg“, das Bluffen Putins und den gemeinsamen Raketenangriff auf Ziele in Syrien befragt, und auch über einen möglichen Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine.
Der Raketenangriff in Syrien, die Einführung neuer Sanktionen gegen Russland – wir beobachten weltweit ein Anwachsen der Spannungen. Wie groß ist die Gefahr eines „großen Krieges“ in Anbetracht dieser Zuspitzung?
Nach meiner Ansicht hat die Anspannung wirklich ein sehr hohes Maß erreicht und ruft auf der ganzen Welt Besorgnis hervor. Das kann man heutzutage nicht bezweifeln. Wir sind schon in einen „Kalten Krieg“ getaucht. Ich glaube, dass wir daraus sobald nicht wieder auftauchen werden. Ich würde sagen, dass besonders im letzten Monat bei uns so ein „März-Wahnsinn“ geherrscht hat. Der Ausdruck kommt aus der Welt des amerikanischen studentischen Basketballs, der in Amerika angesagtesten Sportart, wo die Mannschaften reihum spielen, aber ab Anfang März im K.-o.-System (die alljährlich im März stattfinden Finalrunden im amerikanischen College-Basketball werden umgangssprachlich „march madness“ genannt, Anmerkung der Übersetzerin). Und bitte schön, am 1.März gab Putin die Tonlage vor, indem er über die unbegrenzten Möglichkeiten seines Verteidigungsministeriums sprach. Auch wenn ich annehme, dass in seinem Auftreten im Grunde viel technologische Fantasterei enthalten war. Dann passierten die Vorgänge rund um die Vergiftung Skripals, die Ausweisung von Diplomaten. Ja, so etwas hat es zuvor nie gegeben. 250 Personen innerhalb eines so kurzen Zeitraums. Plus dann muss man noch die Beziehungen zwischen den USA und China mitberücksichtigen, das ist schon fast ein Handelskrieg. Das alles schafft, wenn man ehrlich ist, eine sehr bedauerlichen Großwetterlage. Sehr bedauerlich. Dennoch glaube ich, dass es nur wenige Selbstmörder auf Erden gibt. Ich bin ein Mensch, der sich nicht nur mit Raketensystemen auskennt, sondern auch mit Atomwaffen, und ich glaube nicht, dass wir uns einem „großen Krieg“ angenähert haben.
Sie haben gesagt, ein „kalter Krieg“ habe begonnen…
Die Ereignisse heutzutage erinnern mich irgendwie an das Jahr 1962. Die Sowjetunion und die USA. Damals hat Nikita Sergejewitsch (Chruschtschow, Anmerkung LB.ua.) geblufft. Damals haben wir raketentechnisch nicht an die USA herangereicht. Er war unzufrieden. Aber wir waren von einer solchen Anzahl von Raketenbasen umgeben, dass wir uns nicht hätten gegen sie verteidigen können. Gegen die strategische und atomare Luftwaffe der USA. Ich glaube, dass es damals alles ziemlich eng war. Aber dank der Haltung Kennedys, in erster Linie, gelang es uns, in dieser Situation „den Knoten zu lösen“. Obwohl die Generalität und das Pentagon in dieser Zeit Druck auf Kennedy ausübten. Nach 1962 ist es zu nichts Vergleichbarem mehr gekommen. Es waren einfach nur tangentiale Berührungen zwischen den Militärmächten UdSSR und USA.
Wer wird nach Ihrer Meinung dieses Mal am Ende als Sieger aus dem neuen „kalten Krieg“ hervorgehen – Putin oder Trump?
Sie sind beide ziemlich komplizierte Menschen. Aber wenn ich über Putin schon viel gelernt habe, über Trump kann ich noch nichts Genaues sagen. Er ist ja bis zu einem gewissen Grad aus dem Bereich des Show-Business gekommen. Deshalb ist es ziemlich schwierig zu beurteilen, wie er die Vorgänge einschätzt. Aber in den USA gibt es neben dem Präsidenten den Kongress. In Russland aber gibt es nichts außer Putin. Putin – der alte, Putin der neue, aber im Grunde ändert sich nichts. Er ist seine eigene Opposition. Aber gleichzeitig glaube ich, reicht das, was man als „dummen Mut“ bezeichnen könnte, wenn man es mal so fassen will, nicht aus, um sich auf eine ernsthafte Zuspitzung einzulassen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand das Leben auf der Erde beenden will – morgen oder übermorgen. Genau das wird mäßigend wirken.
Das heißt, alle Erklärungen über das Atompotential, über neue Waffentypen – das ist alles nur Säbelrasseln?
Die USA und Russland haben so viel getan, um die atomare Bewaffnung zu begrenzen. 1985 existierten 60.000 Atomsprengköpfe. Heute sind nur noch 15.000 übrig. 7.500 auf russischer und 7.500 auf amerikanischer Seite. Und andere haben auch welche. Aber ich hoffe, dass der gesunde Menschenverstand die Oberhand behält.
Niemand wird es riskieren, auf den roten Knopf zu drücken?
Das würde einfach das Leben beenden. Aber sie alle wollen doch leben. So können Sie das schreiben. Aber sie alle wollen doch leben!
Nach Informationen des SNBO (=Nationaler Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine) verstärkt Putin die militärische Präsenz in unseren besetzten Gebieten. Spricht das dafür, dass sich Putin für einen neuen Angriff auf die Ukraine bereit macht?
Die Militärpräsenz Russlands ist schon vor langer Zeit erhöht worden. Zu einem Zeitpunkt waren im Donbass etwa 9.000 Russen, dann 7.500 und jetzt 2.900, und das sind nur die Russen. Auf der Krim gibt es etwa 30.000 gut bewaffnete Streitkräfte. Wissen Sie, ich glaube nicht, dass die Krim zu einem Auslöser wird. Das ist befremdlich – eine solche „ungeschützte Flanke“ zu haben, bezogen auf die Gebiete Saporosche, Odessa, Dnjepropetrowsk und Cherson. Aber ich glaube nicht, dass ein Krieg anfangen wird.
Das heißt, Putin lässt sich nicht auf einen neuen bewaffneten Angriff ein?
Ich glaube nicht, dass er es zu einer größeren Expansion und einem größeren Angriff kommen lässt. Übrigens auch nicht auf die Ukraine. Es ist absolut richtig, dass Russland seine Militärpräsenz erhöht. Wir sind in Wirklichkeit schon lange davon umgeben. Plus, man sollte nicht vergessen, dass es 18 Brückenköpfe im Umkreis gibt, auf denen sich das vierte und das sechste Luftgeschwader befinden. Und für die Ukraine ist nicht nur der russische „Iskander“ (=russische Bodenrakete) schrecklich, im Bereich der Raketen hat Russland die absolute Vorherrschaft. Deshalb können wir uns mit nichts verteidigen. Nur würde ein solcher angenommener Überfall auf die Ukraine zu einem neuen Weltkrieg führen. Ich glaube nicht, dass Putin es so weit kommen lässt.
Glauben Sie persönlich, dass die Ukraine sich die Krim und den Donbass zurückholt?
Ich werde auf diese Frage nicht antworten. Weil ich glaube. Aber ich will nicht mitsingen im vielstimmigen Chor der Kuckucke und Hähne (=Anspielung auf eine berühmte Fabel Krylows, in der Kuckuck und Hahn sich gegenseitig Schmeichelhaftes über ihren in Wirklichkeit schrecklichen Gesang sagen), die tagtäglich via Fernsehbildschirm stolz herumphilosophieren und dabei nicht verstehen, wie gewaltig das Atomwaffenpotenzial ist. Es reicht, sich zu erinnern: Auf Hiroshima und Nagasaki fielen 0,02 Megatonnen. Es starben 160-170.000 Menschen. Aber heutzutage enthält jeder Sprengkopf, in Russland ebenso wie in den USA, im besten Fall 0,4-0,5 Megatonnen. Das sollte all jenen zu denken geben, die aus den Fernsehkisten hinauskrakeelen. Man darf die Situation nicht weiter zuspitzen.
17. April 2018 // Anna Steschenko
Quelle: LB.ua.
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