Die sechste Sitzungsperiode der VI. Werchowna Rada, dem Parlament der Ukraine, endete Mitte Juli. Mittlerweile haben sich alle Abgeordneten, Regierungsmitglieder und sogar Präsident Janukowytsch in die Sommerferien verabschiedet. Die Zeit vorher war geprägt von wichtigen Entscheidungen und Weichenstellungen für das Land. Die dreiteilige Serie „Die Ukraine in der Sommerpause“ fasst die wichtigsten Ereignisse zusammen:
- Teil 1: Verfassungsänderung um jeden Preis
- Teil 2: Entscheidungen in der Gaspolitik
- Teil 3: Außenpolitik vor dem Besuch in Deutschland
von Dr. Kyryl Savin und Andreas Stein
Verfassungsänderung um jeden Preis?
Präsidialadministration und Koalition haben sich auf die Ansetzung der Kommunalwahlen für den 31. Oktober 2010 geeinigt. Der Bevölkerung wurde das offiziell als Machtwort des Präsidenten verkauft, der sich dabei einem Urteil des Verfassungsgerichtes zur Auslegung des Wahlgesetzes zu den Wahlterminen anschließe. In das Hinauszögern der Kommunalwahlen auch als Zugeständnis an die kleineren Koalitionsmitglieder zu verstehen. Sie wollen einen möglichst großen zeitlichen Abstand von ihrem Wechsel in die Regierung bis zur Wahl und versprechen sich davon Vorteile in der Wählergunst.
Insbesondere betrifft dies den Block Lytwyn, der vorher mit dem Block von Julia Tymoschenko und der Juschtschenko-Partei „Nascha Ukrajina“ (Unsere Ukraine) koalierte. In aktuellen Umfragen können sowohl dieser als auch der andere kleine Koalitionspartner, die Kommunistische Partei, landesweit keine drei Prozent erzielen. Andererseits konnte Janukowytsch die Kommunalwahlen nicht auf das Frühjahr 2011 verschieben, was Wunsch vieler Funktionäre in der Partei der Regionen war. Eine Verschiebung ins Frühjahr hätte nicht nur einen weiteren Verfassungsbruch dargestellt, sondern sich auch auf das Wahlergebnis der Partei der Regionen ausgewirkt: die Beliebtheit in den Umfragen geht langsam aber sicher nach unten, während sich der oppositionelle Block Julia Tymoschenko (BjuT) von der Wahlniederlage immer mehr erholt.
Neues Kommunalwahlgesetz
Da sich Kommunisten und Block Lytwyn dieser Schwäche bewusst sind, haben sie gemeinsam mit ihren Regierungspartnern von der Partei der Regionen eine Änderung der Modalitäten der Kommunalwahlen beschlossen. Dabei handelt es sich um die Regelung der Zulassung zu den Wahlen. Die wichtigste Neuigkeit ist ein Wechsel vom reinen Verhältniswahlrecht zu einem Mischmodell aus 50% Mehrheits- und 50% Verhältniswahlrecht. Gemäß der neuen Regelung können zudem nur Parteivertretungen bei den Wahlen antreten, die mindestens ein Jahr vorher im Wahlkreis registriert waren. Dies betrifft insbesondere die bei den Präsidentschaftswahlen dritt- und viertplatzierten, den jetzigen Vizepremier für ökonomische Fragen Serhij Tihipko mit seiner Partei „Silna Ukrajina“ (Starke Ukraine) und den ehemaligen Parlamentspräsidenten Arsenij Jazenjuk mit seiner Partei „Front Smin“ (Front der Veränderung). Diese hatten für ihren Präsidentschaftswahlkampf neue politische Kräfte geschaffen bzw. kleinere unwichtige bestehende Parteien übernommen, die somit im Oktober letzten Jahres noch nicht flächendeckend vertreten sein konnten. Interessanterweise gab es diesbezüglich weder von Serhij Tihipko, noch von Arsenij Jazenjuk größere Proteste. Tihipko kann mit der neuen Regelung mehr oder weniger gut leben, da lokale Organisationen seiner Partei in mehr als 600 Wahlkreisen antreten dürfen. Jazenjuks Partei kann hingegen nur in 19 Wahlkreisen Kandidaten aufstellen, laut Pressemeldungen überlegt er sich, eine andere Partei mit einem breit organisierten Regionalnetz vor der Wahl zu kaufen.
Die Partei der Regionen auf dem Weg zur Einheitspartei?
Eine weitere Neuerung bei den Kommunalwahlen wird ein Verbot von Wahlblöcken sein. Somit sollen nur noch Parteien antreten dürfen. Dies bereitet vor allem Julia Tymoschenko und Wolodymyr Lytwyn Probleme, da Tymoschenkos Partei „Batkywschtschyna“ (Vaterland) nur ein Teil des Blockes Julia Tymoschenko ist. Als Ausweg könnte eine Umbenennung der Partei „Batkywschtschyna“ in „Block Julia Tymoschenko“ erfolgen, doch könnte es hier Widerstand aus den Reihen der anderen Blockmitglieder geben. Der Block Lytwyn, als Koalitionsmitglied, steht vor dem gleichen Problem und die „Narodna Partija“ (Volkspartei) Lytwyns erwägt einen ähnlichen Schritt. Das zeigt: Parlamentspräsident Wolodymyr Lytwyn kann eben nicht alles blockieren.
Ebenfalls ausgeschlossen werden mit dem neuen Gesetz parteilose Einzelkandidaten für Räte auf Kreis- und Gebietsebene sowie parteilose Einzelkandidaten für Bürgermeisterposten. Die Partei der Regionen zwingt jetzt schon bekannte und anerkannte Persönlichkeiten in den westlichen Regionen, unter dem PdR-Dach bei den Kommunalwahlen anzutreten. Diese Auswirkungen des Gesetzes und die Tatsache, dass in den Wahlkreiskommissionen – zuständig für die Registrierung der Kandidaten und die Auszählung der Stimmen – nur Mitglieder von im Parlament vertretenen Parteien zugelassen sind, lassen erwarten, dass die Partei der Regionen landesweit die kommunalen Vertretungen übernehmen will und wohl auch wird. Den Koalitionsmitgliedern und einzelnen kontrollierbaren Teilen der Opposition werden dabei kleinere Gewinne zugestanden. Alles in allem kopiert die Partei der Regionen auch in diesem Bereich das russisch-putinsche Szenario der Einheitspartei „Jedinaja Rossija“ (Einiges Russland).
Verfassungsänderung um jeden Preis: die Regierung will eine Präsidialrepublik
Eine Verfassungsänderung ist zum jetzigen Zeitpunkt nur über die Zustimmung von 300 der insgesamt 450 Abgeordneten der Werchowna Rada möglich. Die Regierungskoalition befindet sich zwar auf dem Weg dahin, doch verfügt sie lediglich über 252-258 Stimmen. Deshalb sollte mit der Verabschiedung des „Gesetzes über die Referenden“, welches explizit Verfassungsänderungen per Plebiszit vorsieht, ein zusätzlicher Weg zur Änderung der Verfassung eröffnet werden. Die Regelungen des Gesetzes – drei Millionen Unterschriften in 40 Tagen durch eine Gruppe von 500 Leuten – sind so gestaltet, dass es nur der Partei der Regionen möglich ist, ein solches Referendum auf den Weg zu bringen.
Die Abgeordneten der Koalition haben allerdings jüngst gezeigt, dass sie keine politischen Selbstmörder sind – und dem Gesetzentwurf zu den Referenden in der zweiter Lesung keine Zustimmung gegeben. Damit scheint dieser Weg der Verfassungsänderung hin zu einer Präsidialrepublik erledigt zu sein.
Die Regierung versucht außerdem an anderer Stelle eine Änderung der Verfassung durchzusetzen. Sie forciert eine Rücknahme des „Kompromisses vom 8. Dezember 2004“ (Gesetz 2222-IV) durch das Verfassungsgericht der Ukraine. In diesem Kompromiss wurden, um die politische Situation während der „Orangen Revolution“ zu beruhigen, einige Vollmachten des Präsidenten, wie die Ernennung der Regierungsmitglieder und das Vorschlagsrecht für den Ministerpräsidenten, an das Parlament übertragen, wodurch dieses deutlich gestärkt wurde.
Am 14. Juli diesen Jahres reichten 252 Abgeordnete einen Antrag auf Prüfung des entsprechenden Gesetzes 2222-IV beim Verfassungsgericht ein. Das Gericht soll nun entscheiden, ob das Gesetz der Verfassung entspricht oder nicht. Hier beweist die ukrainische Politik ein weiteres Mal ihre seltsame Rechtsauffassung. Die Rechtmäßigkeit des Gesetzes wurde bereits 2005 unter Präsident Juschtschenko angezweifelt, doch wurden die Änderungen bekanntermaßen nicht zurückgenommen.
Die Argumentation der Gegner/innen stützt sich auf die Tatsache, dass damals nach der ersten Lesung des Gesetzes und der Zustimmung des Verfassungsgerichtes dem Gesetzentwurf vor der Verabschiedung noch Änderungen hinzugefügt wurden. Diese unterlagen keiner Prüfung des Verfassungsgerichtes. Nach Inkrafttreten des Gesetzes, so die Auffassung der Befürworter des Gesetzes, wurden die Änderungen Teil der Verfassung und können somit gar nicht mehr vom Verfassungsgericht geprüft werden. Die oben erwähnten 252 Abgeordneten der Regierung sind dabei offensichtlich anderer Auffassung.
Das Verfassungsgericht wird sehr wahrscheinlich das Gesetz nicht aufheben, sondern nur einzelne Punkte monieren und eventuell zurücknehmen. Interessant werden dabei Begründung und Umfang der Änderungen sein. Die Entscheidung kann auch als Indikator gewertet werden, inwieweit das Verfassungsgericht noch unabhängig von der Präsidialadministration ist. Die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der jüngsten Regierungsbildung lässt dabei aber das Schlimmste erwarten. Abenteuerlich ist in jedem Fall der Versuch, ein Gesetz, welches fünfeinhalb Jahre Geltung hatte und Teil der Verfassung ist, über eine Entscheidung des Verfassungsgerichtes beseitigen zu lassen.
Eine Verfassungsänderung um jeden Preis scheint also zur Zeit höchste Priorität für die Präsidialadministration und ihren Chef Ljowotschkin zu haben. Janukowytsch hat heute schon de facto alle Vollmachten, die er durch Verfassungsänderung de jure bekommen könnte. An der Verfassungsänderung ist deshalb vor allem Ljowotschkin interessiert. Er will seinen Machthorizont erweitern und seinen Einfluss als dann unumstrittener zweiter Mann im Staat stärken. In jedem Fall ist die Zielrichtung all dieser Bemühungen klar: eine autoritäre Präsidialrepublik nach dem Vorbild Russlands.
Der Artikel aus dieser Serie erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung
Forumsdiskussionen