Die Zahl der registrierten Arbeitslosen in der Ukraine beläuft sich lediglich auf 1,5 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung beziehungsweise 422.000 Personen (Angaben gemäß des Staatlichen Statistikamtes, erhoben im September 2013). Allerdings spiegelt die offizielle Statistik weder das reale Niveau der Arbeitslosigkeit noch den negativen Einfluss wieder, den die Arbeitslosigkeit auf die wirtschaftliche Entwicklung im Land ausübt.
Der 37-jährige gebürtige Kiewer Igor Kosatschuk eröffnete vor nicht allzu langer Zeit sein erstes eigenes Geschäft im Bereich Webdesign „lavinaweb.com“. Zuvor arbeitete Igor einige Jahre als Systemadministrator bei einem Tochterunternehmen des Kiewer Bauunternehmens „Kiewgorstroj“. Nachdem das Unternehmen den vergangenen Herbst mit Stellenkürzungen einläutete, beschloss Igor, sich selbstständig zu machen. Woher das Startkapital nehmen?
Igor machte sich die Dienste des staatlichen Arbeitsamtes (Beschäftigungszentrum) zunutze. Dort absolvierte er eine Fortbildung, fertigte einen Businessplan an und lies sich als Unternehmer registrieren. Als Startguthaben erhielt er einen einmaligen Geldbetrag vom Arbeitsamt, der nach Dienstalter und Verdienst bei der vorherigen Arbeitsstelle berechnet wird. Diese Einmalhilfe beträgt zwischen 11.000 und 55.000 Griwna (1000 – 5.500 Euro). Igor möchte nicht sagen, wie viel er genau vom Staat erhalten hat, aber aktuell rechnet er mit einem Einkommen, das die Grenze von 8000 Griwna (ca. 727 Euro) nicht unterschreiten wird. Und wenn das Unternehmen wächst, möchte er Freelancer heranziehen.
Solche wie Igor stellen unter den Erwerbslosen eine Minderheit dar. Die Zahl zukünftiger Unternehmer ist im Vergleich zur Gesamtarbeitslosenzahl verschwindend gering. In dem Zeitraum Januar bis September 2013 haben von 422.000 Arbeitslosen lediglich um die 11.6000 den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt.
Die Sozialministerin Natalja Koroljewskaja lies Pläne verlauten, nach denen 2014 weitere 30.000 Privatunternehmen nach dem Modell Igor ins Leben gerufen werden sollen. Die Effektivität dieses vom Arbeitsamt entwickelten Programms zu bewerten, ist jedoch schwierig. Denn es gibt keine Statistik über die Konkurrenzfähigkeit solcher Existenzgründungen.
Im Arbeitsamt kann man finanzielle Zuwendungen erhalten, eine neue Ausbildung oder auch Unterstützung bei seinen Plänen. Der durchschnittliche Umfang an Unterstützung betrug im September ungefähr 1.108 Griwna (mindesten 822 Griwna und höchstens 4.544 Griwna – 75 – 413 Euro). Wenn jemand überhaupt noch keine Berufserfahrungen verfügt, wird die monatliche Unterstützung nicht nach dem letzten Einkommen, sondern nach dem Existenzminimum berechnet. Somit erhält ein Arbeitsloser ohne Berufserfahrung lediglich 544 Griwna (ca. 50 Euro). Insgesamt 327.000 Menschen erhalten derzeit finanzielle Unterstützung.
Aber das ist nur ein kleiner Teil der derzeitigen Erwerbslosen. Der Großteil wendet sich erst gar nicht an das Arbeitsamt, wo es ohnehin nur eine dürftige Auswahl an freien Stellen gibt – in der Hauptsache schlecht bezahlt. Der wirkliche Stand der Arbeitslosigkeit in der Ukraine (laut Messungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO) beläuft sich auf 1,6 Millionen beziehungsweise 8 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung (für den Zeitraum Januar-Juni 2013). Das heißt, dass nur jeder fünfte Arbeitslose Geldzuwendungen über das Arbeitsamt erhält. Darf man ein solches System der staatlichen Arbeitslosenunterstützung als effektiv bezeichnen?
Arbeitslosigkeit in der Ukraine, 2008 - 2013
Grafik: Stand der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2008-2013, Erwerbslosigkeit in Millionen
Die erfolgreichsten Regionen sind Kiew (Arbeitslosigkeit lediglich bei 5,9 Prozent), das Odessaer Gebiet (6 Prozent) und die Krim (6,2 Prozent). Vor allem in den landwirtschaftlichen Regionen mangelt es an Arbeitsplätzen.
In Abhängigkeit der Gründe des Arbeitsverlustes lassen sich drei Arten der Arbeitslosigkeit unterscheiden:
- Strukturelle Arbeitslosigkeit: Hervorgerufen durch die Technologisierung bei der Herstellung, die die Notwenigkeit einiger Berufsgruppen obsolet macht.
- Zyklische Arbeitslosigkeit: Hervorgerufen durch den wirtschaftlichen Rückgang und den Abfall der Nachfrage nach spezifischen Produkten beeinflusst sie auf höchst schädliche Weise die Entwicklung der Wirtschaft. In diese Kategorie fällt vor allem ein Großteil der Kündigungen durch den Abbau von Planstellen.
- Friktionelle Arbeitslosigkeit: Sie taucht infolge der Marktdynamik auf und hängt mit der Stellensuche derjenigen zusammen, die (vorwiegend) auf eigenen Wunsch kündigen, die einen höheren Bildungsabschluss erlangt haben oder auch ihre saisonale Arbeit verloren haben (in ländlichen Regionen steigt die Arbeitslosigkeit in den Wintermonaten an). Die Arbeitssuche nimmt bei dieser Form der Arbeitslosigkeit einige Monate in Anspruch. Im vergangenen Jahr betrug die Zahl der friktionellen Arbeitslosigkeit 12,5 Prozent aller gemeldeten Arbeitslosen.
Die strukturelle wie auch die friktionelle Arbeitslosigkeit zusammen geben einen natürlichen Stand der Arbeitslosigkeit wieder, also einen Zustand des Arbeitsmarktes unter Vollbeschäftigung, bei dem die Zahl der Arbeitsplätze der Zahl der Arbeitssuchenden entspricht. Der Stand der natürlichen Arbeitslosigkeit lässt sich mittels eines wirtschaftlichen Modells und unter Berücksichtigung der Inflation errechnen. Bei einem tatsächlichen Stand der ukrainischen Erwerbslosigkeit von acht Prozent beträgt die natürliche Arbeitslosigkeit 7,6 Prozent. Damit beläuft sich die zyklische Arbeitslosigkeit auf lediglich 0,4 Prozent bzw. 88.000 Menschen.
Das Okunsche Gesetz beschreibt die Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Wachstumsgeschwindigkeit des Bruttoinlandproduktes: Steigt die reale Arbeitslosigkeit um ein Prozent höher als die natürliche Arbeitslosigkeit, verringert sich das reale Bruttonationaleinkommen proportional um 2,5 Prozent. Auf diese Weise verlor die Ukraine in der ersten Jahreshälfte dieses Jahres ein Prozent des Bruttoinlandproduktes durch die zyklische Arbeitslosigkeit.
Wie lässt sich die Beschäftigungsrate der Bevölkerung erhöhen
Für die Verbesserung der Arbeitsmarksituation bedarf es eines Umdenkens in der Wirtschafts- und Steuerpolitik. „Die Schaffung gleicher Voraussetzungen zur Führung eines Unternehmens, die Vereinfachung des Anmeldeverfahrens einer Existenzgründung sowie die Verbilligung von Krediten (derzeit existieren keine Finanzierungsmöglichkeiten unter 25 Prozent Jahreszins) sind unumgänglich. Sozialbeiträge sowie der Druck auf Unternehmen seitens staatlicher Kontrollinstanzen müssen verringert werden“, so Pawel Rosenko, früherer Vizeminister für Sozialpolitik und Experte des Rasumkow-Instituts, Parlamentsmitglied für die Partei UDAR.
Aber auch diese Maßnahmen bleiben unzureichend, solange die Gerichte nicht unabhängig von der Exekutive sind, damit sowohl Investoren als auch Unternehmer ihre Interessen vor Gericht vertreten können. Die Verbesserung der Bedingungen für Unternehmen würde das Lohnniveau fördern und bewirkte damit einen Wandel der derzeitigen Situation, in der Beschäftigung keineswegs vor Armut schützt.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Wirtschaftsforschung und Politikberatung Alexander Betlij unterstreicht die Notwendigkeit zur Veränderung des Investmentklimas und zur Vereinfachung des Rechnungswesens eines Unternehmens, um die Beschäftigungssituation zu verbessern. „Derzeit gibt der Staat in großem Umfang Staatsanleihen heraus und verhindert somit Investitionen in kleine Unternehmen, insofern als Banken eher die weniger riskanten Staatsanleihen kaufen“, so Betlij.
Die Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung einer Reihe von Städten im Südosten der Ukraine spitzt sich durch Schließungen nicht konkurrenzfähiger Industriebetriebe mit veralteter Ausrüstung zu. Die Beschäftigungsfrage in solchen Städten wie Lissitschansk (Gebiet Lugansk), wo nach der Schließung einiger gewichtiger Unternehmen in den Jahren 2012 und 2013 ein bedeutender Teil der Bevölkerung die Arbeit verlor, lässt sich nur mit staatlicher Unterstützung lösen.
„Wie brauchen ein Programm zur Restrukturierung der Wirtschaft, damit Unternehmensschließungen nicht derart chaotisch über die Bühne gehen. Wir müssen die Menschen organisieren, oder Arbeitsshuttle zwischen den Städten einrichten. Mit diesen Aufgaben sollten die Politiker vor Ort nicht alleine gelassen werden“, sagt Lydia Tkatschenko, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ptucha-Instituts für demographische und soziale Forschung.
Integrative Herausforderungen
Die Arbeitslosigkeit wächst nicht allein aufgrund der problematischen Weltwirtschaftslage an. So fügte der Handelskrieg mit Russland der ukrainischen Wirtschaft einen bedeutenden Schaden zu und führte zu Kündigungen beim Stachanower Waggonbauunternehmen und Roshen. Der hohe Gaspreis führte zu Arbeitsunterbrechungen beim Chemieunternehmen Ostchem in Tscherkassy und in Sjewjerodonezk. Wenn die Blockade andauert, würden bald Tausende Ukrainer arbeitslos. Den Druck dürften auch die ca. 2 Millionen ukrainischen Arbeitsmigranten in Russland verspüren.
Der Eintritt in die Freihandelszone der Europäischen Union könnte sich anfangs auch negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken, sagt Wassilij Juritschischin, Direktor des Rasumkow-Instituts, das sich mit Wirtschaftsfragen auseinandersetzt. „Der Eintritt in die Freihandelszone der Europäischen Union wird kurzfristig die Beschäftigungssituation verschlechtern, wenn sich herausstellt, dass einige ukrainische Unternehmen dem europäischen Wettbewerb nicht standhalten können“, so der Experte. Obgleich sich die Situation perspektivisch einpendeln wird. Sobald neue Dienste in Orientierung am europäischen Markt entstünden, werde die Transportinfrastruktur erweitert.
Einen Schockeffekt aufgrund der Vereinbarungen mit der EU wird es nicht geben, da das Assoziierungsabkommen einen schrittweisen Übergang zur neuen Handelsordnung vorsieht. Alexander Schepotilo, Experte der Kiewer Schule für Wirtschaft, kommt in seinen Untersuchungen zu dem Schluss, dass nach dem Beitritt in die Freihandelszone der ukrainische Export um 36 Prozent ansteigen, sich das Bruttoinlandsprodukt um 10 Prozent bis 25 Prozent erhöhen sowie die Beschäftigungsquote in den exportrelevanten Wirtschaftszweigen – Textilindustrie, Metallindustrie, Transportbereich – um 15 Prozent anwachsen werde.
Im Falle eines Beitritts der Ukraine in die Zollunion stiege der Export um 18 Prozent bis 20 Prozent, insbesondere dank des Landwirtschaftssektors und der Lebensmittelindustrie, die einen Anstieg der Beschäftigungsraten zu verzeichnen hätten. Allerdings werden die Zollgebühren mit anderen Ländern ansteigen und die Ukraine wird ihren Verpflichtungen im Rahmen der Welthandelsorganisation nicht nachkommen werden, bemerkt Alexander Betlij. Das wird jenen Unternehmen einen Schlag versetzen, die bereits heute mit dem Westen in Handelsbeziehungen stehen.
Es wird deutlich, dass jedwede integrative Entscheidung bis zu einem gewissen Maße einen zeitweiligen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Ukraine mit sich bringt. Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur erzwingen den Wechsel vieler Menschen zu einer anderen Arbeitsstelle, hin zu einem anderen Wohnsitz, oder einer anderen beruflichen Qualifikation. Nur sind die ukrainischen Arbeitnehmer für einen solchen Wechsel einfach noch nicht bereit.
1. November 2013 // Georgi Erman
Quelle: Lb.ua
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