1896 zeigten die Brüder Lumière einen der ersten Filme der Menschheit – „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“. Die Zuschauer, die damals im Saal saßen, erschraken sich. Ihnen schien, dass der Zug sich direkt auf sie zu bewege und jetzt alle zermalmt. Sie rannten aus dem Saal und einige verloren das Bewusstsein, einige sprangen sogar aus dem Fenster. 1896 konnten die Leute noch nicht die Realität vom Film unterscheiden.
In den 2000ern gab es noch kein „Die Krim ist unser“ und Netflix, wir schauten russische Serien (und einige machen es bis heute). All diese „Straßen der zerschlagenen Lampen“, „Kreml-Kadetten“, „Bullenkriege“, „Fernfahrer“, „Banditen-Petersburg“, „Agenten der nationalen Sicherheit“, „Jagd auf den Isubrahirsch“, „Brigaden“, „Assistenzärzte“ und andere „Muchtary“. In diesen lebten Menschen ein unserem gleichendes Leben. Ja, es gab auch dort schlitzohrige Politiker, diebische Staatsangestellte, geizige Geschäftsmänner, namhafte Banditen und Banditen als Gegenmittel. Doch gleichzeitig sahen wir gerechte Milizionäre/Polizisten, unkäufliche Richter, dem Treueeid verpflichtete Militärs, mutige Retter, geschickte Ärzte, qualifizierte und ihrer Sache ergebene Lehrer – all diejenigen, die in unserem realen ukrainischen Leben fehlten.
Und jemand, gerade eben meine Oma, verfolgte überhaupt nicht die Helden und den Verlauf der Ereignisse in der Handlung. Die Serien schaltete sie mit einem einzigen Ziel ein: „Schauen, wie die Leute leben“ – was sie essen, anziehen, in welchen Betten sie schlafen, welche Teppiche sie austreten. Für sie waren die Serien keine Show, die Szenaristen schrieben, Schauspieler spielten, Designer ausgestalteten und Produzenten veröffentlichten. Für sie waren die Serien wie ein Fenster zur Welt. Denn außer der Küche, den zwei Töchtern und dem Piloten-Ehemann, gab es in ihrem Leben überhaupt nichts.
Und im Jahre 2014 blockierten Tausende örtliche Einwohner auf der Krim und im Donbass ukrainische Militärs, besetzten staatliche Einrichtungen, brachten Essen an die Kontrollpunkte, trugen sich in die „Selbstverteidigung“ und riefen „Putin, hilf!“. Sie schauten nicht nur im Verlaufe vieler Jahre Nachrichten aus dem Nachbarland. Sie träumten nicht nur von einem anständigen Gehalt und der himmelhohen russischen Rente. Sie wollten gerechte Milizionäre/Polizisten, unkäufliche Richter, ihrem Treueeid verpflichtete Militärs, mutige Retter, geschickte Ärzte, qualifizierte und ihrer Sache ergebene Lehrer, schöne Möbel, Teppiche, Essen und ins märchenhafte Moskau aus dem Fernsehen umziehen. Sie wollte nicht einfach in Russland leben, sie wollte eben in den russischen Serien leben. Gleichzeitig kamen von der anderen Seite der Grenze andere gekrochen, geschwommen, mittels Flugzeugen, LKWs und Schützenpanzern – diejenigen, die davon träumten in der „Liquidation“, „Strafbataillon“, „Diversanten“, „Smersch“, „Speznas“, „Letztem Panzerzug“ zu leben …
Und wir schauten nach ein-zwei Jahren „Diener des Volkes“ [Serie in der Präsidentschaftskandidat Wolodymyr Selenskyj den Lehrer Wassyl Holoborodko spielt, der über Nacht zum Präsidenten wird. A.d.Ü.]. Aus unseren magnetischen Sofas hatten wir keine Möglichkeiten die neue Postmaidan-Korruption zu neutralisieren und die durch Russland eroberten Territorien zurückzuholen. Wir vermochten es nicht frechgewordene Politiker zur Besinnung zu bringen, doch mit ihnen wurde ein anderer fertig – der uns gleichende Geschichtslehrer Wassyl Holoborodko – er beschimpfte sie ohne Zensur, steckte sie für Diebstahl in den Knast, hackte die Extremitäten für Abstimmungen in Abwesenheit ab und erschoss sie aus Uzi-Maschinenpistolen. In den Jahren der Präsidentschaft Poroschenkos wollten wir so sehr in dieser fantastischen Serie leben, dass wir beinahe sogar Holoborodko zum Präsidenten wählten.
Doch das verwunderlichste (oder sogar im Gegenteil erwartbarste) ist: Unser Beinahe-Präsident lebt auch, wie es scheint, nicht in der realen, sondern der Welt der Serie. Seine Vorgänger meinten: Die Hauptsache in der ukrainischen Politik sind Verbindungen, Geld und ein warmes Plätzchen. Holoborodko, der Politiker des neuen Gefüges, ist dennoch überzeugt: Die Hauptsache sind humorvolle Einfälle der Szenarienschreiber, eine virtuose Arbeit der Kameraleute, ein guter Stimmklang und ein voller Zuschauersaal (wünschenswert wäre nicht weniger als ein Stadion).
Daher drängen wir uns alle in diesen Saal, die Einwohner des „Dieners des Volkes“, des „House of Cards“ und des „Agenten der nationalen Sicherheit“. Wir richten einander filmhafte Wahlen, Serienkriege, Sitcom-Verhaftungen und melodramatische Strafverfahren aus. Oder werden wir gezwungen sein, in ein oder fünf Jahren, erneut vor dem Zug davonzurennen, der sich von der Leinwand auf uns zubewegt?
4. April 2019 // Anton Jehanow
Quelle: Hromadske Telebatschennja
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