Wenn man verstehen will, was in der Ukraine derzeit vor sich geht, sollte man sich den Journalismus anschauen. Den Journalismus, in dem Autorenkolumnen das beliebteste Genre sind.
Er lässt sich reliefartig im Vergleich mit dem Journalismus im Nachbarland Polen betrachten. Die Gazeta Wyborcza und die Rzeczpospolita sind an entgegengesetzten Stellen der gesellschaftlichen Diskussion verortet. Die erste ist das Sprachrohr der Liberalen, die zweite führend unter rechten Konservativen. Aber wenn Wahlen im Land stattfinden, dann rücken beide Zeitungen Analysematerial auf die ersten Seiten. Autorenbeiträge finden sich dann erst an zweiter oder dritter Stelle.
Einfach deshalb, weil „Journalismus unter Personalpronomen“ in vielen Ländern als „niedriges Genre“ gilt. In dieser Zeit werden die Recherche, die Analyse, das Interview zu großen Formaten ausgebaut und stehen als Sieger auf dem Podest. Die Kolumne ist ein Genre der Subjektivität, und so wird sie auch bewertet. Aus professioneller journalistischer Sicht ist ihre Aussagekraft geringer als die klassischer Formate. Nur in der Ukraine ist das nicht so.
Übrigens ist daran überhaupt nichts überraschend. Die Situation im ukrainischen Journalismus unterscheidet sich nur geringfügig von der Situation in der ukrainischen Politik. Genau jener Politik, in der schon ein Vierteljahrhundert lang keine ideologischen Parteien existieren. Niemand liest die Parteiprogramme. Der Hauptakzent liegt auf den Personen, die die Listenplätze anführen.
Die personalisierte, auf die führende Figur reduzierte Ausrichtung der einheimischen Parteien ist sogar an deren Namen ablesbar: Der Petro-Poroschenko-Block oder der Block Julija Timoschenko gehen nicht auf die Schlamperei von PR-Leuten zurück. Im Gegenteil: Die erste Person fungiert als Lokomotive für die nachfolgenden Passagierwagen auf der Wahlliste.
Im Großen und Ganzen unterliegt das einer gewissen Gesetzmäßigkeit. Der ukrainische Wähler ist infantil und inkonsequent geblieben. Und deshalb kann er auch seine wirtschaftlichen Interessen nicht artikulieren. Genau die, die bei ihm Fragen an die politischen Programme aufkommen lassen würden.
Und obendrein hat der Bürger ein Gedächtnis wie ein Fisch im Aquarium – er vergisst leicht alle möglichen Skandale, die in anderen Ländern die Karriere eines Politikers stoppen würden. Und deshalb gibt es in der Ukraine bis heute nicht die Kategorie der Reputation.
Der Bürger ist emotional in seinen Vorlieben. Er wählt lieber mit dem Herzen statt nach Logik. Er orientiert sich am Charisma anstelle des gesunden Menschenverstands. Er gleicht einem Kind, das sich in einer Wahlkabine einen Erziehungsberechtigten aussucht. Der Wettbewerb läuft zwischen demjenigen, der es erlaubt, sich nicht die Hände zu waschen, und demjenigen, der unbegrenzt Süßigkeiten verspricht.
Es ist sinnlos, ihm zu beweisen, dass das Unerreichte eine direkte Fortsetzung des Erreichten ist. Für ihn ist die Erde eine Scheibe, die auf Walfischen und Schildkröten steht. Versuchen Sie mal ihm zu erzählen, dass es kein wirtschaftliches Wachstum ohne Inflation gibt. Dass es unmöglich ist, die Steuern zu senken und gleichzeitig die Renten zu erhöhen. Dass die Preisregulierung ins Defizit führt und die Fixierung des Wechselkurses in den Schwarzmarkt. Es ist sinnlos zu erklären, dass die Strategie des „Wegnehmens und Verteilens“ das Land umbringt – ganz unabhängig davon, in welcher Sprache diese Strategie ausgedrückt wird.
Das alles sind vererbte Schwachstellen des ukrainischen Wählers. Der bislang einfach noch nicht erwachsen genug geworden ist, um zu verstehen, dass seine Wünsche im Widerspruch zu den Möglichkeiten stehen. Über die Spielregeln kann man nur mit demjenigen verständigen, der zu Absprachen bereit ist. Über die Besonderheiten eines Budgets nur mit demjenigen, der weiß, dass Geld nicht unter der Matratze wächst.
Die Nachfrage regelt das Angebot. Die Listen ukrainischer Parteien auf den Wahlzetteln – das ist Freud, Jung und Fromm unseres kollektiven Unterbewusstseins.
Wenn du nicht weißt, was du willst, dann wirst du umkommen in der Unmenge dessen, was du nicht gewollt hast. Wenn du den Ärzten nicht glaubst, gewöhn dich an Wunderheiler aus dem Volk. Aber wundere dich nicht, wenn die Krebsheilkunde in ein finales Stadium tritt. In unserem Land ist die Politik einfach deshalb so personalisiert und auf Führerfiguren reduziert, weil die Masse der Bürger noch kein bisschen erwachsen geworden ist. Und genau aus dem Grund ist auch der Journalismus in der Ukraine so auf Führungsfiguren personalisiert.
Solange, wie sich in der Gesellschaft kein Koordinatensystem entwickelt, wird es sich am Personal orientieren, nicht an der Weltanschauung. Der Familienname des Autoren wird wichtiger als der Name des Mediums sein. Die Diskussionen in den Massenmedien werden nicht auf dem Niveau einer Diskussionsplattform geführt, sondern als Schlachten unter Publizisten.
Die Gesellschaft wird sich nur über die Zukunft verständigen können, wenn sie sich über sich selbst verständigen kann. Aber ein solcher Prozess kann sich im Minimum über Jahrzehnte erstrecken. Deshalb sind Meinungsartikel beliebter als Recherche und Analyse. Weil – da Reputation keine Kategorie ist – Recherchen Karrieren nicht beeinflussen. Solange Informationen nicht zur Grundlage geschäftlicher Entscheidungen werden, solange bleiben Bezahlabonnements zum Scheitern verurteilt. Die Analyse bleibt unwichtig, weil es keine Nachfrage nach Diagnosen gibt. Deshalb gibt es eine Nachfrage nach Behauptungen und Emotionen. Nach Noten und Publizisten-Ohrfeigen.
Es wird sich nur ein Wandel vollziehen, wenn an die Stelle von Einzelgängertum Institutionen treten. Wenn Ideologie an die Stelle von Politikern tritt. Wenn es eine Nachfrage nach Informationen geben wird, nicht nach Rezepten. Und bis dahin werden wir weiterhin Meinungsstücke lesen. Solche wie zum Beispiel dieses hier.
3. Dezember 2016 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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