Irgendwo in der Mitte treffen. Einen annehmbaren Kompromiss aufspüren. Zu einer friedlichen Regelung kommen, die keine erniedrigende Kapitulation bedeutet. Äußerungen und Handlungen von Präsident Se[lenskyj] spiegeln sehr gut die Nachfrage wider, die in den breiten Massen existiert.
Der bodenständige Durchschnittsbürger dürstet nach Frieden und ist nicht bereit Jahrzehnte auf den Zusammenbruch Russlands zu warten. Doch entgegen dem seit kurzem populären patriotischen Stereotyp wünscht der Durchschnittsbürger keine Niederlage der Ukraine.
In der Sprache der Mathematik ausgedrückt, würde der Durchschnittsbürger gern den ukrainisch-russischen Krieg in ein Nichtnullsummenspiel verwandeln. Wenn ein „du hast gewonnen“ nicht „ich hab verloren“ bedeutet. Wenn nicht nur verschiedene Win-Lose-Varianten möglich sind, sondern auch Win-Win-Situationen, die beide Seiten zufriedenstellen.
Das Problem liegt darin, dass nach 2014 alternative Szenarien der ukrainisch-russischen Wechselbeziehungen eben in ein Win-Lose münden.
Die Rückkehr der Ukraine in den russischen Einflussbereich? Eine offensichtliche Niederlage Kiews.
Die Billigung des Austritts der Ukraine aus der russischen Einflusssphäre? Fraglos eine Niederlage Moskaus.
Die Anerkennung der Krim als russisch? Fraglos ein Fiasko der Ukrainer.
Die Rückkehr der Halbinsel in den Bestand der Ukraine? Unstreitig ein Fiasko der Russen.
Die Reintegration des Donbass zu den Bedingungen des Kremls mit Sonderstatus, Amnestie, „Volksmiliz“ und faktisch nicht unter Kontrolle Kiews? Eine offensichtliche Niederlage des ukrainischen Staates.
Die Rückführung des Donbass ohne die Andeutung von Sonderrechten? Eine offene Niederlage des russischen Staates.
Leider Gottes stellt unser gesamtes Leben zu oft ein antagonistisches Spiel dar. Es ist ein Nullsummenspiel. Ein Spiel, in dem der Gewinn des einen Teilnehmers den Verlust des anderen nach sich zieht.
Wir konkurrieren miteinander um Geld, Macht und Ruhm, kämpfen um Posten, um Kunden, für Vorzüge, wetteifern aufgrund fremder Anerkennung, Aufmerksamkeit und Liebe. Und noch leben wir in einer Welt, wo alles relativ ist und wo als Maßstab jeglicher menschlichen Würden die Gegenüberstellung mit den Umgebenden auftritt.
Wie bedauerlich es auch ist, doch stark, klug, schön und reich kann man nur unter einer Bedingung sein, wenn im Vergleich mit dir jemand anderes schwach, dumm, hässlich und arm ist.
Die Nullsumme gebiert die verschiedensten Kollisionen, nicht selten zuwider der allgemeinmenschlichen Moral laufend.
Der Vizepräsident der USA gewinnt objektiv, wenn der amtierende Präsident vorzeitig aus dem Leben scheidet.
Der Medikamentenhändler gewinnt objektiv, wenn eine Epidemie ausbricht und die Zahl der potenziellen Konsumenten um ein Mehrfaches steigt.
Der als Krüppel geborene gewinnt objektiv, wenn im Krieg Millionen gesunder, starker, attraktiver Männer sterben und in der Gesellschaft ein kolossales Genderungleichgewicht entsteht.
Das bedeutet nicht, dass wir bewusst zu fremdem Unglück streben. Und das bedeutet auch nicht, dass wir uns an Siegen über Nahe im Konkurrenzkampf berauschen. Im Gegenteil sind gewöhnlich glückliche und erfolgreiche Leute nicht geneigt daran zu denken, dass die Kehrseite ihres Glücks und Erfolgs irgendjemandes Lebensniederlage bedeutet. Unbequeme Ursache-Folge-Beziehungen werden wenn möglich aus dem Bewusstsein verdrängt.
Die Menschheit bemüht sich, von der Wahrnehmung von seinesgleichen als Konkurrenten und Gegner wegzukommen. Das sogenannte Nullsummendenken ist das Objekt schonungsloser Kritik von Seiten von Psychologen, Soziologen und Ökonomen.
Ihm steht eine beeindruckende Schicht von Zivilisationsleistungen gegenüber: von christlichen Werten bis zum so populär im 21. Jahrhundert seienden positiven Denken.
Alle Menschen sind Brüder. Solidarität ist der Schlüssel zum Erfolg. Neid und Missgunst sind der Weg zur Selbstzerstörung. Jemandem die eigenen Probleme und Misserfolge zur Last legen, ist schändlich. Sich aufgrund fremder Schuld benachteiligt fühlen, ist absurd.
In unserer riesigen Welt findet sich ein Platz für jeden. Erfolg, Reichtum, Liebe und Glück reichen für alle. Wenn dir die nächste Chance nicht zufällt, dann wirst du jede Menge anderer Chancen haben. Der Klügere gibt zuerst nach. Kränkungen und Konfliktsituationen gilt es loszulassen, um vorwärtszukommen. Und so weiter und so fort …
Mit einem Wort, nicht wenige intellektuelle Bemühungen des Homo sapiens sind darauf gerichtet, um die Auffassung unseres Lebens als Nullsummenspiel abzustumpfen. Und all diese Bemühungen werden hinfällig, wenn der Krieg beginnt.
Während des Krieges ist die Wechselwirkung von Gewinn und Verlust zu augenfällig.
Die Begrenztheit der Ressourcen, die ins Spiel einbezogen sind, ist zu offensichtlich. Und die gewohnten Argumente, die gegen ein Nullsummendenken gerichtet sind, legen ihre Haltlosigkeit zu sehr bloß.
Auf den ukrainisch-russischen Konflikt angewandt, wirkt das sprichwörtliche positive Denken wie eine Verhöhnung.
„Die nationale Souveränität ist groß. Sie reicht für alle! Wenn ein Teil der ukrainischen Souveränität an den Kreml abgetreten wird, soll das nicht zu eurem Schaden sein.“
„Die Russen haben die Krim weggenommen? Versteift Euch nicht darauf! Das bedeutet, dass sie diese Krim mehr als anderes brauchten. Doch Euch bleiben noch so viele andere Krim!“
„Ukrainische Leben und Schicksale gingen während des Hybridkrieges mit Russland verloren und wurden zerstört? Es lohnt sich nicht, sich daran festzuhalten. Lasst die Situation frei und geht weiter!“
Krieg ist wie ein Lackmustest, legt Widersprüche frei, die unter gewöhnlichen Bedingungen nicht so bemerkbar sind.
Krieg erlaubt es nicht sich vor der unbarmherzigen Abhängigkeit zwischen fremden Gewinn und dem eigenen Verlust zu verstecken. Doch, was noch wichtiger ist, akkumuliert der Krieg Gedanken und Gefühle der Vielzahl der Verlierer, diesen eine komplett neue Qualität gebend.
Im Alltagsleben verwandelt sich Nullsummendenken sehr oft in soziale Isolation. Ein im Konkurrenzkampf verlierender ist ein kraftloser und verächtlicher Loser.
Ein pikierter und in aller Öffentlichkeit davon redender ist ein Verlierer, den kaum einer hören will.
Einer, der jemandem die eigenen Probleme anlastet, ist ein verbitterter Querulant und Misanthrop, der wohlhabendere Individuen von sich abstößt.
Doch hunderttausende Verlierer im Laufe eines Krieges sind eine mächtige Kraft.
Hunderttausende Beleidigte, die darüber öffentlich reden sind eine entrüstete Gesellschaft.
Hunderttausende, die dem Feind die eigene Not anlasten, sind der Keim einer politischen Nation.
Und eine sich formende Nation kann kaum davon überzeugt werden, dass der ukrainisch-russische Konflikt plötzlich aufhört, ein Nullsummenspiel zu sein. Und dass ein Frieden zu Bedingungen, die Moskau zufriedenstellen, keine Niederlage für Kiew ist.
2. November 2019 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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