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Ohne Tabu

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ohne Tabu
Historische Analogien können verschieden sein. Originell und abgedroschen, oberflächlich und tiefgründig, überdehnt und offensichtlich. Und sie können auch tabuisiert sein. Für unsere fortgeschrittene Öffentlichkeit war der Vergleich der ukrainischen Radikalen mit den Nationalsozialisten eine solche.

Die Analogien zwischen der Ukraine und dem Deutschland der 1930er zeugen von einer feindseligen russlandfreundlichen Gesinnung. Sie bedeuteten eine Weitergabe der Kremlpropaganda und die Diskreditierung des kämpfenden Landes in den Augen des Westens. Klugen und patriotischen Leuten blieb nur, über das Thema der Faschisten, die es bei uns nicht gibt und nicht geben kann, Witze zu machen. Lange Zeit war das ein Axiom: Wenn man die Reputation der Ukraine verteidigt, muss man den guten Namen unserer Ultrarechten verteidigen. Und wir haben strebsam jede Parallele mit dem Nationalsozialismus vermieden.

Nur ist das Paradoxe, dass dieses Tabu für unsere Rechtsradikalen niemals existiert hat. Sie haben jemals weder Hitlergrüße noch Fackelmärsche oder Hakenkreuze mit Wolfsangeln beunruhigt. Sie hat weder die Meinung Europas gerührt, noch das Zuspielen der Kremlpropaganda.

Der Vergleich mit den Nazis, der uns beleidigt, hat sie nicht beleidigt: im rechtsradikalen Milieu herrschte immer ein wohlwollendes Verhältnis zu Hitler vor. Natürlich, meinte man, hatte der Führer einen fatalen Fehler begangen, als er den Pakt mit der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) löste und Repressionen gegen die ukrainischen Nationalisten entfesselte, doch hinderte dies ihn nicht daran, für sie eine „geachtete Persönlichkeit“ und ein „großer Mann“ zu bleiben.

Eigentlich wurde der skandalöse Fall Marjana Batjuks (28-Jährige Lehrerin und Abgeordnete der Neonazipartei Swoboda, die in ihrem Facebook-Account Hitler an seinem Geburtstag als „großartigen Mann“ würdigte, A.d.R.) erst dadurch zu einem Skandal, dass die Aktivistin aus Lwiw Gedanken offen aussprach, die schon seit langem in ihrem Kreis diskutiert wurden.

Und jetzt, wo das Schwungrad der ultrarechten Gewalt in der Ukraine immer deutlicher in Schwung kommt, und Pogrome schon zur Normalität geworden sind, muss man die lügenhafte Scham abwerfen.

Wenn etwas wie eine Ente aussieht, schwimmt und schnattert, dann ist es logisch, es mit einer Ente zu vergleichen. Und wenn im Jahre 2018 junge ukrainische Radikale so handeln, wie junge deutsche Radikale Anfang der 1930er, ist es sinnlos, sich vor unangenehmen Parallelen zu verstecken.

Ja, es ist üblich, die deutschen Faschisten für das absolute Böse zu halten, für eine fremde und abstoßende Vogelscheuche. Aber die radikalen ukrainischen Jungs bleiben für uns „unsere“. Man schätzt ihre Aktivitäten, sucht nach mildernden Umständen. Indem man den Krieg und das kollektive Trauma in Rechnung stellt. Indem man daran erinnert, dass „nicht alles so eindeutig ist“.

Doch die Zahl der Hitlerjugend wuchs von 700 Mann im Jahre 1926 auf 18.000 im Jahre 1930 eben deshalb, da in Weimar-Deutschland nicht alles so eindeutig war. Nach den Erlebnissen der letzten Jahre können die Ukrainer die Uneindeutigkeit dieser Epoche besser nachempfinden.

Uns fällt es leichter, sich den Charakter der Jugend vorzustellen, die eine braune Uniform anzieht, damit sie „nicht einfach ihr Vaterland lieben, sondern für es kämpfen, ohne das Leben zu schonen“.

Uns fällt es leichter sich klarzumachen, warum das damalige Deutschland ihren Exzessen wohlgesonnen war.

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Rechtsradikale Gewalt in der Ukraine wird für begründet gehalten, wenn jemand die Gefühle von Millionen von Ukrainern beleidigt. Aber seinerzeit hat die Hitlerjugend mit Überfällen auf Kinos begonnen, die den Streifen ‚Im Westen nichts Neues‘ zeigten. Nach einer Reihe von Pogromen wurde der Film aus dem Verleih genommen.

Und er hat tatsächlich die Gefühle von Millionen Deutschen beleidigt. Ihre gefallenen Väter, Männer, Brüder, die für Helden gehalten wurden, wurden als Teilnehmer an einem sinnlosen Gemetzel dargestellt. Soll den heutigen Ukrainern diese aufrichtige Empörung etwa unbekannt sein – nachdem bei uns eigene Kriegserfahrung und eigene gefallene Helden aufgetreten sind?

Die rechtsradikale Gewalt in der Ukraine wird häufig als notwendige Selbstverteidigung interpretiert. Aber auch die Hitlerjugend musste sich verteidigen. Im Januar des Jahres 1932 erschütterte Deutschland der Tod des sechzehnjährigen Herbert Norkus. Gemeinsam mit seinen Kameraden hatte der junge Mann Flugblätter im Berliner Stadtteil Moabit verteilt und war von jungen kommunistischen Schlägern attackiert worden. Nachdem er einige Messerstiche erhalten hatte, verstarb Herbert auf dem Weg ins Krankenhaus.

Auf seiner Beerdigung skandierte man die zornigen Worte: „Niemand nimmt uns die Hoffnung darauf, dass der Tag der Rache kommen wird. Und dann werden die, die von Humanität und Nächstenliebe schwätzen, aber unseren Kameraden ohne Gericht ermordet haben, das neue Deutschland kennenlernen.“

Ist dieses Pathos uns nicht nahe – die wir schon gelernt haben, was gerechter Hass und von den Feinden vergossenes Blut sind?

Die rechtsradikale Gewalt in der Ukraine wird häufig gerechtfertigt, indem man auf den hybriden Krieg mit dem Kreml hinweist. Aber in den 20er und 30er Jahren hatte die deutsche Gesellschaft nicht weniger Grund dazu.

Im Jahre 1932 wurde der Plan zum kommunistischen Umsturz in Deutschland nicht in Berlin oder Hamburg, sondern in Moskau ausgearbeitet, auf der Augustsitzung des Politbüros. Die Gegner der jungen Hitleranhänger ordneten sich der Komintern unter, sie stellten eine wahre fünfte Kolonne und eine reelle Gefahr für die deutsche Souveränität dar. Und der Gedanke, dass die Jungs in den braunen Hemden als Gegengewicht nützlich sind, erschien völlig gesund.

Wer begreift das besser als die Ukrainer, die im Visier des Kremls leben? Wir müssen aufs Neue die berühmte Replik aus dem Film ‚Cabaret‘ von Bob Fosse einer Wertung unterziehen: „Lass sie mit den Kommunisten ein Ende machen, und dann werden wir sie kontrollieren können“.

Der prinzipielle Fehler der Weimarer Republik bestand darin, dass die braune Gewalt als Instrument angesehen wurde. Als ein Mittel, mit dem gewisse Ziele gerechtfertigt wurden und das nach deren Erreichen verworfen würde. Doch tatsächlich war die damalige Gewalt kein Mittel, sondern das Ziel – und wurde zum Präludium von unermesslich großer Gewalt.

Die Ukraine macht jedes Mal einen ähnlichen Fehler, wenn sie darüber streitet, ob ein weiterer rechtsradikaler Angriff gerechtfertigt war.

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Wir sehen den Kampf mit den Feinden als Ziel der Ultrarechten und die Prügel und Messer – als Mittel zu seinem Erreichen. Obwohl es eigentlich alles umgekehrt ist.

Für Tausende junger Ukrainer stellt die Gewalt ein Lebensbild dar, den Ausgangspunkt von Macht und Selbstachtung. Genau das ist das Ziel.

Und die Feinde – seien es der dahingeschiedene ukrainophobe Busina (gemeint ist der 2015 von Nazis erschossene Publizist Oles Busina, A.d.R.) oder Roma-Drogenhändler – sind Mittel. Ein Mittel, dank dessen die Gewalt gerechtfertigt und annehmbar erscheint.

Die Rechtsradikalen lösen das Problem der fünften Kolonne oder der Ethno-Kriminalität nicht: Sie lösen das Problem der Legitimierung rechtsradikaler Gewalt. Im Maße der Legitimierung wird die Gewalt nur steigen, und immer neue Gesellschaftsschichten berühren.

Und solange wir das nicht anerkennen, wird es für die Ukraine aktuelle unangenehme Parallelen mit Weimar-Deutschland geben. So wie auch die rhetorische Frage aus demselben ‚Cabaret‘ von Fosse: „Ihr denkt noch immer, dass ihr sie kontrollieren könnt?“.

29. Juni 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

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