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Die Ukraine in der Welt oder die Ukraine zwischen zwei Welten

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Die erstgenannte Losung, und zwar „Die Ukraine in der Welt“, wirkt etwas postmodern. Angeblich existieren auf der Welt mehrere hundert verschiedene Kulturen. Die ukrainische Kultur ist eine von vielen und kann mit diesen beliebig in Kontakt treten, ohne sich irgendeinem teleologischem Determinismus beugen zu müssen. Politische Bündnisse entstehen willkürlich auf der Grundlage rational analysierter politischer Interessen. Mit dieser Vorstellung haben wir auch das erste Jahrzehnt der ukrainischen Unabhängigkeit gelebt.

Auf politischer Ebene würde sich diese Losung folgendermaßen ausnehmen: Die Ukraine ist ans Ende einer ziemlich langen Reihe von Staaten gerückt, die auf eine Aufnahme in den „Eliteklub“ der Europäischen Union warten. Man ging davon aus, dass diese Staaten in Abhängigkeit vom Transformationsfortschritt, das heißt, in Abhängigkeit vom Fortschritt der Reformierung der Gesetzgebung, der Modernisierung der Ökonomie, der Überwindung der Korruption u.s.w. in die EU eintreten würden. Allerdings war nicht ganz klar, ob Russland in diese Reihe zu stellen war, vorausgesetzt, der Traum aller westlicher Strategen sollte sich verwirklichen und das Land demokratisch werden. Obendrein käme es hinsichtlich seiner Größe dem berühmten Elefanten im Porzellanladen auffallend gleich. Der Optimismus der 1990-ger Jahre eröffnete jedoch die Möglichkeit, die Lösung dieses Problems in die Zukunft zu verschieben.

Mit der Zeit jedoch kamen die Probleme. Nach dem 11. September 2001 benötigte Amerika Russland als Partner der antiterroristischen Koalition, und deshalb drückte der Westen bei den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ein Auge zu. Die gesamte globale geopolitische Konstellation hatte sich verändert. Indem es sein einstige Praxis der „Friedenserzwingung“ (oder, wenn Sie wollen, der „Erzwingung zur Liebe“) applizierte, schuf das Russland Putins, nachdem es eine Carte Blanche bekommen hatte, seine eigene kulturelle „Schlange“, in welche sich die Satellitenstaaten einzureihen begannen. Die politische Elite der Ukraine geriet in Erregung und brachte sein eigenes Prinzip einer „Multi-Vektoren-Politik“ zur Vollendung, was in einem Überspringen aus der einen in die andere Reihe im Sinne des Sprichworts „Das ergebene Kalb saugt an zwei Muttertieren“ mündete.

Und dann gerieten ausnahmslos alle in Erregung:

  • Die Europäische Union nahm plötzlich Bulgarien und Rumänien in ihren Klub auf, diese Länder waren zu jener Zeit ganz und gar nicht reifer als die Ukraine, wodurch sich zeigte, dass hinter der Fassade der offiziellen Beitrittskriterien trotz allem unkündbare politische Interessen stecken;
  • Russland blockierte die Aufnahme der Ukraine in die NATO;
  • Der EU stellte sich das Problem: entweder ein offener Marshall-Plan für die Ukraine, wodurch Europa die radikale Aushöhlung der Beziehungen zu Russland drohte und angesichts der unsicheren Haltung der ukrainischen Elite versprach dies keinen Erfolg; oder die Sicherstellung der Energieversorgung, was durch eine Abkehr von der Fürsprache für die Ukraine gekauft würde.

Die Lösung dieses Dilemmas war leicht vorherzusehen. Die Übernahme der Verantwortung für die käufliche, korrumpierte und unprofessionelle politische Elite der Ukraine erwies sich für Europa als too much. Wesentlich einfacher schien es, diese Kopfschmerzquelle der Verantwortung Russland zu übergeben, das eine 400-jährige Erfahrung mit der Bändigung der ukrainischen Elemente mitbrachte. Aber es ist dennoch kein neuer Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die Wiedergeburt der Sowjetunion im neuen Gewand ängstigt Europa nichtsdestoweniger, weshalb der besondere Schwerpunkt der westlichen Diplomatie darin besteht, die Ukraine so an Russland auszuhändigen, dass die „Wölfe einen vollen Bauch haben, während die Schafe unversehrt bleiben“.

Deshalb ist aus der Losung „die Ukraine in der Welt“ heute logischerweise „die Ukraine zwischen zwei Welten“ geworden. Letztgenannte wollte ich auch im Rahmen meiner Betrachtung fokussieren.

Auf der Waagschale der ukrainischen Trauer

Nichts läge näher, als anzunehmen, dass die Erscheinungen des Lebens sich nicht linear entwickelten, sondern oszillierten, das heißt entlang einer Sinuskurve schwankten. Teilhard de Chardin zufolge ist das Leben wie „eingefangenes Licht“, das sich noch an seine Wellennatur „erinnert“. In charakteristischen, wohlgeordneten Demokratien nehmen die erwähnten Oszillationen die Gestalt eines selektiven Pendels, sagen wir beispielsweise, entlang des Übergangs von liberaler zur sozialistischen Staatsform und umgekehrt, an. Die ukrainische Demokratie fungiert in einem kulturell ambivalenten Staat, infolgedessen sich das erwähnte Pendel entlang des Übergangs von der euroatlantischen zur eurasischen Kulturform und umgekehrt bewegt.

Die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung erfasst ganz deutlich die Existenz zweier äußerst distinkter Kulturkreise in unserem Land, aber alle mir bekannten Versuche, diesen eine terminologisch korrekte und wissenschaftliche Definition zu geben, hinken. Noch schwieriger erscheint es, eine klare Grenze zwischen beiden Kulturkreisen zu ziehen. Bei Huntington ist diese Grenze zwischen dem katholischen und orthodoxen Kulturkreis zu finden, und dafür existieren genügend gewichtige Argumente. Aber wo genau ist sie nun zu ziehen? Historisch ist der Sbrutsch denkbar, aber auch die Grenze des Molotow-Ribbentrop-Paktes, und wenn man noch einige Jahrhunderte zurück geht, auch die östliche Grenze des Magdeburger Rechts, die sogar bis Charkow reichte. Daher können wir behaupten, dass diese Grenze im historischen Sinne beweglich ist und ein Wechselspiel der beiden Kulturkreise an der gemeinsamen Grenze gemäß allen Gesetzen der Interferenz stattgefunden hat, bei welcher bestimmte Charakteristika verstärkt und andere wiederum abgeschwächt wurden.

Es heißt, dass die Chinesen einen speziellen Fluch haben: „Auf dass Du im Wendepunkt der Zeitalter geboren wirst!“ Die Ukrainer leben unter dem leicht adaptierten Fluch: „Auf dass Du auf der Grenze der Kulturkreise geboren wirst!“

Das, was in normalen Demokratien einem selektiven Pendel zwischen verschiedenen Führungsstilen gleichkommt, nimmt bei uns die Form einer Katastrophe, einer allgemeinen kulturellen Düsternis an. Den Majdan des Jahres 2004 und die folgenden fünf orangenen Jahre stufte der quasisowjetische Teil der Bevölkerung, der hauptsächlich im Südosten des Landes konzentriert ist, als Katastrophe ein. Die Feierlichkeiten des euroatlantischen Kulturkreises klangen für die Ukrainer jenseits der einstigen Grenze der Hetmanschen Ukraine wie Trauergeläut. Der Sieg Janukowitsch, genauer gesagt, die vehemente Invasion eines Kulturkreises, die dem zentral-westlichen Teil der Gesellschaft fremd scheint, wird jetzt sogar rechts vom Dnjepr als Katastrophe wahrgenommen. Heute triumphiert der Eurasianismus, während westlich von dessen Grenzen die euroantlantische Jaroslawna schluchzt.

Jede Seite träumt von der Extension ihrer kulturellen Charakteristika auf das gesamte ukrainische Territorium. Gestern lebte das orangene Lager von einer solchen Hoffnung, heute das blau-weiße. Die von diesem gewählte Regierung präsentiert sich nicht nur als Regierung der Revanche, sie hält sich darüber hinaus für die Regierung des endgültigen und unbefristeten Siegs, das heißt, sie hat noch nicht begriffen, dass auch sie die bittere Pille der Niederlage schlucken wird.

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So sieht jede Seite in der Existenz eben dieses Pendels eine Bedrohung für sich selbst . Psychologisch befinden wir uns nicht so sehr im Übergang von einer Staatsform zur anderen, wie wir uns tragischerweise in einer für uns unannehmbaren Kultur verlieren. Und unter Einheit verstehen wir nur das Aufgehen des anderen Lagers im eigenen.

Anscheinend werden wir keineswegs unser eigenes Schicksal, das Schicksal des Volkes, das an die Haken zweier benachbarter Kulturkreise aufgeknüpft wurde, begreifen. Und offensichtlich bleibt Gott nichts anderes, als uns permanent „die zweite Klasse“ wiederholen zu lassen, damit wir die Fragen verinnerlichen, die bei der Prüfung gestellt werden. Augenblicklich wäre es dumm, gegenseitige revanchistische Empfindungen zu nähren, indem man seine Trauer mit dem berauschenden Gift einer imaginierten Rache ertränkt. Dialogbereite und ausgeglichene Menschen beider Lager müssen so bald als möglich ein gerechtes Modell der Koexistenz ausarbeiten, welches das Andenken unserer Vorfahren und Nachkommen nicht beschämt.

Können in der Ukraine zwei politische Kulturen koexistieren?

Wir haben bereits festgehalten, dass es leicht sei, die (parallele) Existenz zweier politischer Kulturen in der Ukraine intuitiv zu erfassen. Wesentlich schwieriger ist es, die Repräsentanten der Reinkulturen auszumachen. Repräsentieren beispielsweise Dobkin und Kernes den genuinen Geist der Sloboda-Ukraine? Gott behüte! Die Paradoxie dieser Frage muss weder den Hütern des Charkower Parks, noch den rechtgläubigen Gemeinden des Erzbischofs Isitschenko, noch den Mitgliedern der Charkower Abteilung der SMU, denen mit der Wegnahme ihrer Räumlichkeiten (kann sein, dass ihnen diese auch schon weggenommen wurden) wegen eines Briefes an Präsident Obama gedroht wurde, erklärt werden.

Und worin unterschied sich von den derzeitigen Machthabern Charkows der schamlose Volksdeputierte Losinski, der nicht die „Dons“ repräsentiert, sondern BJuT? Verkörperte er etwa den Geist der Tscherkasschtschina? Oder der Lwower korrupte Richter Swarytsch: repräsentierte etwa er das Galizien der weihnachtlichen Sternsinger? Eine rein rhetorische Frage. Beide politischen Flanken einte in den letzten Jahren die Tatsache, dass sowohl die einen als auch die anderen bereitwillig Vetternwirtschaft betrieben und bestechlich waren, Protestkundgebungen finanzierten, Parlamentssitze verkauften, ihre Position missbrauchten, zügellos Volkseigentum veräußerten u.ä. Wie soll zwischen zwei politischen Kulturen differenziert werden, wenn in beiden Lagern die kulturellen Charakteristika in den Hintergrund treten, während sich gleichzeitig eine ungestrafte unverschämte Unmoral in den Vordergrund drängt?

Aber Unmoral ist kein Merkmal irgendeiner Kultur – sie ist ein Charakteristikum von Kulturlosigkeit, d.h. der Entartung von Kultur. Zum Zeitpunkt der aktuellen Wahlen fiel es der orangenen Wählerschaft wie Schuppen von den Augen, heute geschieht unablässig dasselbe mit der Wählerschaft der Blau-Weißen (ich unterscheide hier zwischen aufrichtigen Stimmen und gekauften oder gefälschten). Alle Regionen der Ukraine sehen sich der gemeinsamen Aufgabe gegenüber, eine moralische Läuterung zu erwirken. Wobei es hierbei nicht um Frömmigkeit geht, die in der Realität nicht mit der Logik der Macht vereinbar ist. Es geht um das Aufhalten dieser ungezähmten Degeneration der Machtstrukturen zu einer Struktur der Demoralisierung und Versündigung, sowie um die Implementierung präventiver Maßnahmen, die eine solche Entartung in der Zukunft rechtzeitig offen legen und entschärfen.

Dann werden auch die unverfälschten Grenzen der genannten politischen Kulturen zum Vorschein kommen. Dann wird man auch über eine Zusammenarbeit ihrer Repräsentanten bei der Ergründung der gemeinsamen Herkunft, der Wiege der Ukraine überhaupt, sprechen. In diesem Fall würden unsere regionalen Unterschiede nicht als Verhängnis für unser Land interpretiert, sondern zu seiner Bereicherung beitragen, da jede Eigenart einen Platz innerhalb der nationalen Profilierung fände.

Beispielsweise wird sich irgendeine politische Kraft im Osten der Ukraine verstärkt um die sozialen und ökonomischen Interessen der Menschen kümmern, während eine andere, im Westen, die nationale und geistige Sicherheit des Volkes bewahrt. Freie Wahlen eröffneten die Möglichkeit zu spüren, welche Aspekte zu einem bestimmten Moment seiner Geschichte wichtiger sind. Unter solchen Bedingungen könnte das spezifisch ukrainische Demokratiependel zum Wohle des Volkes ausschlagen und es nicht jedes Mal an den Rand eines bürgerlichen Konfliktes drängen.

Eine derart ideale Version eines kompetiven, aber nicht konfliktgeladenen Pendels scheint allerdings unrealistisch (zumindest vorerst), nicht nur hinsichtlich der herrschenden Unmoral. Wir sind dazu angesichts unserer Weltanschauung nicht bereit, weder in der Ukraine, noch jenseits der Grenzen unseres Landes.

Hinter der Fassade einer vermeintlichen Demokratie

Solange in unseren Köpfen die frühere weltanschauliche Trägheit herrscht, wird jede Seite, die an die Macht kommt, ihre Pflicht darin sehen, das gesellschaftliche Leben von den Charakteristika ihres Nebenbuhlers zu „säubern“, d.h. genau das tun, was heute Dmitri Tabatschnik übereifrig im Bildungsbereich realisiert. Anlass zur Hoffnung gibt dies nicht – auch das Volk wird kaum die endlose ideologische „Sanierung“ ertragen.

Deshalb kratzt sich unser beunruhigter Ukrainer am Kopf und denkt scharf darüber nach, wo im folgenden Satz das Komma zu setzen ist: „Объединиться нельзя разойтись“. (Je nachdem, an welcher Stelle das Komma gesetzt wird, heißt es: Es ist verboten sich zusammenzuschließen, auseinander!; Um sich zusammenzuschließen, darf man nicht auseinandergehen. Anm. d. Übs.)
Dem Einen, im Westen der Ukraine, scheint es hinreichend, den unruhigen Donbass abzuschütteln, und alles im Land werde sich schon zum Guten wenden. Der Andere, im Osten, ist überzeugt, dass es genügt, die „Fehler Stalins auszubügeln“ und sich Galiziens zu entledigen, damit die Ukraine ruhig und glücklich gesunden kann. So wie irgendwann mal in Sewerodonezk für „PiSUARi“ (Південно-Східна Українська Автономна Республіка/Süd-Östliche Ukrainische Autonome Republik) geschwärmt wurde, so kann man in Galizien jetzt öfter hören: „Um zu überleben, muss man auseinander gehen“.

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Aber es beunruhigt, dass in beiden Fällen von einer nationalen „Lobotomie“, d.h. der Durchtrennung des Verbindungsstücks, das für die Interaktion beider Gehirnhälften verantwortlich ist, gesprochen wird. Meiner Meinung nach wäre das Verrat, beispielsweise am Andenken Wassyl Stus’, Iwans und Nadeschda Swetlitschnajas, Mykola Rydenkos und Oleksa Tychij sowie noch vieler anderer bekannter Persönlichkeiten der Ukraine, die gebürtig aus der Region Donezk oder Lugansk stammen. Das heißt, diese vermeintlich demokratische Charakterzug – dieses „die wollen nicht mit uns zusammen sein, dann lass sie machen, was sie wollen“ – käme einem eklatanten Versagen bei unserer zivilisatorischen Hauptprüfung gleich.

Im Übrigen fallen nicht nur die Ukrainer diesem vermeintlich demokratischen Charakterzug anheim, sondern auch unsere westlichen Nachbarn. So appellierte das Vereinte Europa, bevor an eine Mitgliedschaft in der EU zu denken sei: „Die Ukraine sollte sich festlegen, auf wessen Seite sie stünde – auf der des Westens oder Russlands. Wir werden jede Wahl respektieren.“
Nun, in der Tat, wie tolerant und demokratisch, vor allem angesichts eines Russlands, das gierig die Ukraine schluckt, ohne ihr eine Alternative anzubieten.

Aber denken wir dieses europäische Demokratieverständnis weiter. Vermag die Ukraine heute eine solche Antwort geben? Und darin liegt auch der Haken, nämlich darin, dass sie es nicht vermag. Die Ukraine ist gezwungen, solange sie ein demokratischer Staat ist, mit dem Vorhandensein gegensätzlicher geopolitischer Ausrichtungen fertig zu werden und eindeutig klar zu stellen, auf wessen Seite sie ist, ist sie außerstande (zumindest nicht zu diesem historischen Moment). Stattdessen könnte sie eindeutig klären, was wäre, wenn sie aufhörte, demokratisch zu sein, wenn sie es zulassen würde, die Willensäußerung eines der beiden Bevölkerungsteile zu unterdrücken. Das heißt, wenn sie genau das täte, was jetzt die Regierungsriege Wiktor Janukowitschs versucht, indem sie die „Decke“ Richtung Russland zieht und die Proteste sowie den Kulturschock seitens eines unabhängigen und maßgeblich prowestlichen Gesellschaftssegments ignoriert.

Der vermeintlich demokratische Anspruch Europas zeugt in Wirklichkeit von seiner Unfähigkeit zu verstehen, dass die weltanschaulich gespaltene und wankelmütige Ukraine heute eben die wichtigste kulturelle Herausforderung Europas zu meistern hat: heterogene Kulturkreise zu vereinen. Die Fähigkeit eben diese kulturelle Herausforderung zu meistern, wurde zum „Markenzeichen“ des Europas des 20. Jahrhunderts. Warum kann es dann nicht erkennen, dass die Ukraine gezwungen wird, diese nahezu allein zu bewältigen und dabei zu Extremen neigt, Fehler begeht und deshalb den Europäern als „hässliches Entlein“ und Unruhestifter erscheint.

Europa sollte die Ukraine nicht an Russland zurückgeben als wäre sie die Quelle seiner Kopfschmerzen, sondern ihren „Grenzcharakter“ anerkennen, in welchem die Strukturen zweier Kulturkreise vereint sind und infolge dessen sie nicht nur einem angehören kann. In diesem Sinne benötigt die Ukraine seitens Europas margins of appreation, die Anerkennung der Tatsache, dass ihre Ungeschicklichkeit auf die Besonderheit ihrer kulturellen Aufgabe zurückzuführen ist, sowie die Bereitschaft, diese Herausforderung mittels gemeinsam ausgearbeiteter Programme zu meistern.

„Die planetarische Achse“ der Ukraine ist unter einem bestimmten Winkel geneigt, das heißt, sie, die Ukraine, durchlebt gezwungenermaßen verschiedene „Jahreszeiten“: mal sehnt sie sich danach, frei zu sein und blüht vor Hoffnung auf, mal vergilbt sie vor Desillusion und lässt diese vereisen. Zwei zugleich antithetische Zitate Taras Schewtschenkos sagen treffend über uns: «отам-то милостивії ми ненагодовану і голу застукали сердешну волю та й цькуємо» (ungefähr: “drüben dort klopften wir untertänig hungrig und nackt, elend und gehetzt an”) und «не вмирає душа наша, не вмирає воля, й неситий не виоре на дні моря поле, не скує душі живої і слова живого…» (ungefähr: “es stirbt nicht die Seele unsere, es stirbt nicht der Wille und der Teufel beackert nicht den Grund des Meeres und fesselt nicht die Seelen der Lebenden und überwältigt nicht das Wort”) („Kaukasus“). Bisher gereichte diese Neigung der „planetarischen Achse“, dieses Fallen zugunsten des einen oder anderen Kulturkreises, zum Verhängnis der Ukraine, vor dem es kein Entrinnen zu geben schien.

Aber wie viele Prüfungen müssen wir noch wiederholt ablegen, um zu verstehen: unser Schicksal ist in Wirklichkeit kein wirkliches Verhängnis (Gott bestraft Völker nicht), sondern eine Vorherbestimmung, die wir noch nicht zu begreifen vermochten. Seinerzeit habe ich im politischen Lager Perms für mich selbst das „elfte Gebot“ formuliert: „Begehre nicht ein anderes Schicksal“. Dies betrifft im gleichen Maße das einzelne Individuum, wie das gesamte Volk. So lasst uns nicht ein anderes Schicksal begehren, sondern den Sinn dessen verstehen, was ist. Lasst uns über Folgendes nachdenken: liegt in unserer nationalen Eigentümlichkeit, in dieser Existenz „zwischen zwei Welten“ nicht auch eine evolutionäre Chance, die bisher durch bestimmte kulturelle Verhältnisse nicht offenbar wurde, aber sich vielleicht durch andere zeigen wird: heute, morgen, in naher Zukunft?

13. November 2010 // Myroslaw Marynowytsch

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzerin:    — Wörter: 2625

Jahrgang 1978. Yvonne Ott hat Slavistik und Wirtschaftswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg studiert. Seit 2010 arbeitet sie als freie .

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