Der Polyglotte ist eine Person, die viele Sprachen beherrscht. Wie viele ist schon nicht wichtig, wichtig ist aber, dass es viele sind. Die Anzahl der Sprachen kann schon variieren. Als polyglott wird heutzutage gewöhnlich auch die Person bezeichnet, die nur ein paar Sprachen beherrscht – wenigstens mehr als fünf.
In der anglofonen Welt ist derjenige, der außer „English“ oder „American English“ zumindest eine (oder schon zwei) kann, wird auch mit einem Polyglotten gleichgestellt. Im Westen (wie auch wohl im Osten) kann dieses „English“ gewöhnlich die Mehrheit der Gesellschaft, das ist eine Art von „Lingua franca“ oder auch die „Sprache der internationalen Kommunikation“.
Bei uns in Galizien ist die Situation mit Vielsprachigkeit fast beispiellos. Dieses Minimum an Sprachen, um ein Polyglotte zu werden, kann um ein Kleines jeder Galizier. Warum? Wie ist es möglich? Das sind sinnvolle Fragen. Die Antwort ist aber sehr einfach. Natürlich betrachten wir das verallgemeinert. Jeder in diesem Sinne ist bei Weitem nicht jeder, aber die Tatsache bleibt bestehen. Jeder kann die Muttersprache Ukrainisch, saugte sie mit Muttermilch ein, wie man es ausdrücken konnte. Die russische Sprache kann auch jeder, obwohl sie in der Schule schon nicht mehr beigebracht wird; Fernsehen, Computer, gesellschaftliche Perversion usw. trugen dazu bei. Polnisch kann jeder, wie dem auch sei, zumindest als gebrochene Umgangssprache. Man lernt in der Schule wenigstens eine Fremdsprache – in meisten Fällen das Englische. Oder zwei, wie z. B. in unserer spezialisierter Mittelschule Nr. 28 – von Anfang an Deutsch, dann auch Englisch. Jemand hat noch mit einer anderen Sprache (anderen Sprachen) unter bestimmten Bedingungen zu tun. Einer der Gründe ist die Arbeitsmigration – Kinder von Eltern, die im Ausland erwerbstätig sind, von Besuchen der Eltern in anderen Ländern erlernen auch die entsprechenden Sprachen. Ganz oft klingt auf den Straßen von Lwiw Italienisch, Spanisch, Portugiesisch usw., und das aus dem Mund von jungen Lwiwern und nicht nur von „Romano turisto“. Über den Klang der anderen Sprachen auf den Straßen von Lwiw wollen wir aber jetzt nicht sprechen. Also haben wir die Situation, dass bei uns in Galizien so viele Polyglotte leben.
Wie viele Sprachen beherrschen aber die Politiker? So viele, wie auch die durchschnittlichen Leute. Falls einer der Politiker schon irgendeine Fremdsprache gut kann, sei es Englisch oder Deutsch, Französisch oder Spanisch, ist schon Material für seine PR, für seine Lobpreisung. Obgleich das normale Praxis sein sollte: Wenn du in die Politik gehen willst, dann lerne und könne Fremdsprachen, zumindest einige. Das alles ist jedoch eine Illusion, denn längst können nicht alle Ukrainisch. Für die „politische“ ukrainische Nation soll Ukrainisch nicht nur die Staatssprache sein, sondern auch die Muttersprache. Das ist dennoch ein anderes Thema.
Seit Sowjetzeiten wurde die Meinung aufgedrängt: Wozu die anderen Sprachen können, wenn man schon Russisch beherrscht? Diese absurde Meinung ist auch heute verbreitet. Gott sei Dank denken derart allmählich immer weniger Leute. So ist es in unserer „Inneren Mongolei“, aber in der „Äußeren Mongolei“, das heißt im Ausland, ist diese „Sprache der internationalen Kommunikation“ Englisch. Und daraus entsteht ebenso die Situation: Warum die örtliche Sprache können, wenn man schon Englisch beherrscht? In manchen Ländern ist Englisch außer der örtlichen Sprache die zweite Amtssprache. Jemandem, der sich dort eine längere Zeit aufhält oder es ab und zu besucht, reicht Englisch völlig aus. Denn wozu die örtliche Sprache können, wenn man schon Russisch kann? Entschuldigen Sie bitte, Englisch.
Zu den effizientesten Polyglotten im Bereich der ukrainischen literarischen Übersetzung gehört Mykola Lukasch (1919-1988), der bis zu seinem 5. Lebensjahr überhaupt Sprachentwicklungsstörungen hatte, er sprach gar nicht. Als zu seiner Heimatstadt Krolewez ein Zigeunerlager kam, ging Mykola mit den Zigeunern für ein paar Monate auf Reisen. Nachdem er zurückgekommen war, begann er zu sprechen, aber in der Sprache der Zigeuner. Später sprach er schon Ukrainisch, Russisch, Polnisch, Jiddisch, Französisch, Deutsch, Englisch und andere Sprachen. Außer Lukasch kann man auch Hryhorij Kotschur (1908-1994), Wassyl Myssyk (1907-1983) nennen. Pawlo Tytschyna (1891-1967) erlernte mehrere Sprachen, übersetzte. Maksym Rylskyj (1895-1964) konnte noch mehr Sprachen, übersetzte, überdies trägt ein Übersetzungspreis seinen Namen. Mein Freund „Pako“, das heißt Jurij Pokaltschuk (1941-2008), konnte über ein Dutzend Sprachen und übersetzte aus diesen Sprachen. Als einer der größten ukrainischen Polyglotten gilt der Sprachwissenschaftler Andrij Bilezkyj (1911-1995), der über neunzig Sprachen beherrschte. Über Ahatanhel Krymskyj (1871-1942) wird es weiter unten noch gesondert gehen.
Ich wurde nicht nur einmal gefragt, wie viele Sprachen ich könne. Gewöhnlich komme ich mit dem Zitat von Ahatanhel Krymskyj davon: „Ich bin auf dem Wege des Erlernens der ukrainischen Sprache.“ In der Geschichte der ukrainischen Kultur bleibt Ahatanhel Krymskyj, der apropos keinen Tropfen ukrainischen Bluts hat, das heißt kein „ethnischer“ Ukrainer, sondern ein „politischer“ ist, der größte Polyglotte. Wenn er auf die Frage über die Anzahl der Sprachen, die er kann, mit diesem „Ich bin auf dem Wege des Erlernens der ukrainischen Sprache“ antwortete, setzte er sich natürlich nur in Szene. Erstens war er einer der besten Kenner der ukrainischen Sprache, zweitens schrieb er in einem der Briefe: „Es ist leichter zu sagen, welche Sprachen ich nicht kann.“ Nach verschiedenen Angaben beherrschte er von sechzig bis hundert Sprachen.
Ich erlernte „offiziell“ zwölf Sprachen. Manche „erlernte“ ich außer diesen zwölf nur zum Spaß oder für die Erweiterung des Horizonts. Ukrainisch ist meine Muttersprache, ich lernte sie in der Schule wie auch Russisch (von der zweiten Klasse) und Deutsch (von der ersten Klasse). Noch in der Grundschule brachte meine Mutter mir und dem Bruder Taras Polnisch bei («Gramatyka na wesoło» war unser Lehrbuch). In der Grundschule begann mein Bruder selbstständig Georgisch zu erlernen, dann hielt er mir Vorlesungen für zehn Kopeken, und ich unterrichtete schon für 20 Kopeken diese Vorlesung unserem Nachbarn Lubko Petrenko. Hätte ich dasselbe Prinzip auch weiter befolgt, wäre ich schon ein Millionär geworden. Das dauerte aber nicht lange, wie auch mit dem Erlernen des Spanischen. Hier merkte ich mir nur, dass Ausrufe- und Fragezeichen auch am Anfang des entsprechenden Satzes gestellt werden, aber umgedreht. In der Sowjetschule gab es noch keine zweite Fremdsprache, wie es heute üblich ist. Mit sechzehn wurde ich an der Lwiwer Universität immatrikuliert. Meine erste Fachrichtung war die serbokroatische Sprache. Zu heutiger Zeit sind das in der Tat zwei Sprachen – Serbisch und Kroatisch. Meine zweite Fachrichtung war Polnisch, die ich schon früher erlernte, und in Lwiw ist es mit dem Polnischen leichter, obwohl ich ein richtiger Polenhasser war. Die dritte slawische Sprache stand zur Auswahl: Ich wählte Obersorbisch, das Kostjantyn Trofymowytsch (1923-1993) unterrichtete. An der Universität lernte ich noch Altkirchenslawisch. (Die vergleichende Grammatik der slawischen Sprachen berücksichtigen wir nicht.) Später unterrichtete ich einige Dutzend Jahre Kirchenslawisch in ukrainischer Redaktion, das heißt in der Redaktion von Iwan Lutschuk (*1965), an der Lwiwer Theologischen Akademie, die nach etlicher Zeit in die Ukrainische Katholische Universität umgestaltet wurde. Latein lernte ich im Laufe von zwei Semestern. Seit dem zweiten Semester lernte ich als Wahlfach dreieinhalb Jahre Persisch (Farsi-Irani) bei Jarema Polotnjuk (1935-2012), bei dem ich auch Einführung in Arabisch hatte. Die Prüfung in Farsi-Irani legte ich nicht ab, denn damals tobte der Krieg Afghanistan und wegen der Eintragung der Farsi-Kenntnisse im Diplom wäre ich sofort nach Afghanistan eingezogen worden, wo die Amtssprache zu jener Zeit Farsi-Dari war. Damals begann ich mit dem Erlernen des Jiddischen bei Olexandr Lisenberg. Bereits im hohen Alter wurde er der erste Leiter der ersten Scholem-Alejchem-Gesellschaft der jüdischen Kultur in der Sowjetunion und ich wurde sein erster Schüler, dem er Jiddisch beibrachte. Bulgarisch lernte ich vor dem fünften Studienjahr (im August-September 1985) an der Universität der Stadt Veliki Tirnava. Slowakisch erlernte ich in Bratislava in 1989 (Studia Academica Slovaca). Wenn während der Studienjahre zwei andere Mitglieder der literarischen Gruppe „LuHoSad“ Nasar Hontschar und Roman Sadlowskyj mithilfe von Fernkursen Italienisch lernten, begann ich diese Sprache selbstständig zu lernen, da ich keinen Wunsch hatte, außen vor zu sein und mich für einen Kurs nicht einschreiben mochte. Noch ein paar Sprachen bewältigte ich im Alleingang – Weißrussisch, Tschechisch, noch andere slawische Sprachen. Das bereitete mir als einem Slawisten keine Schwierigkeiten, obwohl ich Weißrussisch noch als Schüler beherrschte, indem ich Werke von Uladsimir Karatkewitsch las. So kann man zwölf Sprachen zusammenzählen, alles andere steht außerhalb dieser Rechnung.
Ich halte mich jedoch nicht für einen Polyglotten, habe keine Gründe dazu, und alles wegen jenes „English“, weil jeder, der so oder so zumindest „bad English“ kann, nennt sich schon fast einen Polyglotten. Ich hatte in jungen Jahren mindestens zwei Möglichkeiten, um Englisch zu lernen, und alles ist natürlich mit Weibspersonen verbunden. Erinnern Sie sich an den Schwindler Ostap Bender aus den Werken von Ilja Ilf und Jewgenij Petrow, den „Hausfrauen, Dienerinnen, Witwen und sogar eine Zahntechnikerin gern hatten.“ Mich mochten mindestens zwei Englischphilologinnen, mit der ersten sollte ich sogar schon eine Heirat schließen, aber ich war noch zu jung und nicht reif für solchen Schritt. Ich ergriff diese Gelegenheit nicht – vielleicht keine eigennützige Person; „man muss solche Tolstojaner umbringen“, wie derselbe Bender sagte. Der heilige Nikolaus brachte mir letztes Jahr aber ein Lehrbuch für den Selbstunterricht „Englisch ohne Tutor“, so dass ich mich in der kommenden Zeit an Englisch mache und es gewissermaßen „aneigne“.
Meine „missglückte Vielsprachigkeit“ war und ist weiter sehr nötig bei meiner Arbeit an der sechsbändigen Enzyklopädie „Weltliteratur in Persönlichkeiten und Denkmäler“, die schon Dutzend Jahre dauert. Ich bin nicht nur Mitverfasser dieses Buches zusammen mit Borys Schtschawurskyj, sondern auch wissenschaftlicher Redakteur. Solche Vor- und Familiennamen (oder Pseudonyme) der Autoren-Persönlichkeiten werden auch in der ursprünglichen Schreibung angegeben, die Namen der Werke gewöhnlich in Klammern in der Sprache des Originals. Aus eigener Belesenheit ausgehend komme ich irgendwie damit zurecht. Mit den slawischen Beschriftungen ist mir als einem Slawisten „unerträglich leicht“. Mit romanisch-germanischen, die in der Mehrheit sind, ist es im Allgemeinen dasselbe. Die persischen usw., die in arabischer Schrift aufgeschrieben sind, entziffere ich ständig, denn ich erlernte diese Schrift und konnte sogar in Studentenjahren mit dieser Schrift schreiben. Mit den jüdischen (Hebräisch und Jiddisch) ist alles klar – Oleksandr Mychajlowytsch (Lisenberg) fragte mich immer am Anfang unseres Unterrichts: „Iwas′, wie können Sie sofort und so geschickt von rechts nach links schreiben?“ und ich erzählte ihm von Farsi. Die ungarische Schreibung, wo überdies der Familienname immer vor dem Vornamen kommt, kann ich, denn ich machte Phonetik und Grafik des Ungarischen durch, das ich lernte, als ich nach dem ersten Studienjahr in eine schöne Philologin mit dem Nachnamen Krynyzja, die aus Rachiw kam und Rumänisch sowie Ungarisch konnte, verliebt war. Mit Türkisch, das ich nachlernte, als ich im dritten Studienjahr die Semesterarbeit in Sprachwissenschaften „Die türkischen Lehnwörter im Serbischen“ schrieb, komme ich auch zurecht. Es gibt noch verschiedene Nebensächlichkeiten, aber das sind schon Appendizes. Griechische, armenische, georgische Schreibungen überprüfe ich genau betrachtend mit einem Rechenschieber. Es gibt übrigens nicht so viele. Schwieriger ist es mit Chinesisch, Japanisch, Koreanisch und noch manchen Beschriftungen, die nehme ich auf Treu und Glauben an, obwohl ich die natürlich auch überprüfe. Es gibt aber nicht so viele in der riesigen Enzyklopädie. Das Leben und die Arbeit dauern also fort, sehr geehrte Herren Geschworenen.
16. Januar 2018 // Iwan Lutschuk
Quelle: Zaxid.net
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