Bereits anderthalb Jahre stellt die ukrainische Gesellschaft der russischen Okkupationsmacht auf der Krim immer dieselbe Frage: Where is Ervin Ibragimov? Der Befragte neigt aber lieber zu Schweigen, was dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entspricht.
Ervin Ibragimov, Mitglied des Koordinationsrates des Weltkongresses der Krimtataren und Mitglied des regionalen Medschlus, der nationalen Selbstverwaltung, wurde am 24. Mai 2016 in der Stadt Bachtschissarai (Krim, Ukraine) von Unbekannten entführt. Durch externe Überwachungskameras wurde aufgenommen, dass Ibragimov von mehreren unbekannten Personen, vermutlich Vertretern von de facto Strafverfolgungsagenturen der Krim, verhaftet wurde. Nach mehreren erfolglosen Fluchtversuchen setzten ihn die Entführer gewaltsam in ein Auto und fuhren mit Fahrzeug in Richtung des Waldstücks am Stausee von Bachtschissarai. Das war das Letzte, was von ihm bekannt geworden ist. Seitdem ist die Frage des Schicksals von Ervin ungeklärt.
Ervin IbragimovNachdem Ibragimovs Entführung bekannt geworden war, war das damals für viele Ukrainer der letzte Tropfen. Die russische Okkupationsmacht muss diesmal tatsächlich die Konsequenzen für alle Menschenrechtsverbrechen auf der Krim tragen. Aufgrund dessen haben die Aktivisten der Menschenrechtsorganisation CrimeaSOS die unverzügliche Entscheidung getroffen, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um einen maximal breiten Kreis von Menschen über den Fall Ibragimov möglichst schnell zu informieren.
Dutzende von Briefen an ukrainische Staatsorgane, internationale Organisationen, Medienredaktionen wurden damals, im Mai – Anfang Juni 2016, geschrieben. Dutzende von Statements im Rahmen dieser Thematik wurden als Ergebnis einer engen Zusammenarbeit mit anderen ukrainischen NGOs und Regierungsbehörden veröffentlicht. Und ein paar Tage später, nach dem Verschwinden von Ibragimov, stand das CrimeaSOS-Team zusammen mit anderen Menschenrechtsverteidigern schon vor den Mauern der russischen Botschaft in Kiew, mit Plakaten, die die Aufschrift trugen “Where is Ervin Ibragimov?” in den Händen, und forderte von der Russischen Föderation das Wichtigste – die Wahrheit.
Mit dieser Maßnahme gründete CrimeaSOS folglich eine große “Find & Free” Kampagne. Ukrainische und krimtatarische Aktivisten, Vertreter von internationalen Organisationen, Medien und nicht gleichgültige Bürger finden sich seitdem am Ende jedes Monates vor der Botschaft der Russischen Föderation in Kiew zusammen und mithilfe verschiedenen kreativen Performanzen versuchen sie, irgendwelche Informationen über das Schicksal über die Opfer des Okkupationsregimes zu bekommen.
Gemäß den aktuellsten Angaben von CrimeaSOS sind seit dem Beginn der Annexion 45 Menschen auf der Krim verschwunden; von denen wurden nur 19 Personen freigelassen, 7 wurden tot aufgefunden, 2 illegal von den De-facto-Strafverfolgungsbehörden verhaftet. Es gibt aber überhaupt keine Information darüber, wo sich weitere 17 ukrainische Bürger befinden. Das Furchtbarste in diesem Fall liegt nämlich in der Kontinuität der katastrophalen Menschenrechtsmissachtungen von russischer Seite, besonders im Bezug auf Krimtataren und pro-ukrainische Aktivisten. Das folgt, dass die Zahl der verschwundenen Personen auf der Halbinsel jederzeit ansteigen könnte.
Forderung der oben erwähnten Kampagne an die russische Regierung ist, Ibragimov und andere auf der Krim entführte Krimtataren und ethnische Ukrainer zu finden und eine objektive Ermittlung der gegen sie verübten Straftaten durchzuführen. Außerdem besteht eine wichtige Aufgabe darin, durch diese Demonstrationen Solidarität mit den vermissten Menschen zu zeigen und ihre Familien zu unterstützen. Dieser Aspekt spielt derzeit für sie eine riesige Rolle.
Obwohl die russische Seite auf Anfragen der Aktivisten aus der Ukraine ganz formell und verschwommen reagiert, hat dieser gesellschaftliche Zusammenschluss schon einige Früchte getragen. Am 26. Mai 2016 begann die Staatsanwaltschaft der Autonomen Republik Krim im Exil1 aus diesem Grund einen strafrechtlichen Ermittlungsprozess. Das Auswärtiges Amt der Ukraine erwähnt seinerseits oft in Statements und auch im Laufe der diplomatischen Verhandlungen mit einer Reihe von Staaten den Ibragimov-Fall und das Problem der Verletzungen der Menschenrechte auf der Krim, was sich danach deutlich in den Entscheidungen von UN-Organen oder des Europarates widerspiegelt. Darüber hinaus prüft die Arbeitsgruppe über erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen seit Februar 2017 den Fall der Entführung von Ervin Ibragimov.
So haben die Rechtsverteidiger am 27. November 2017 schon das siebzehnte Mal vor der Botschaft nachgefragt, „Where is Ervin?“. Und wieder Stille – statt einer Antwort. “Wie lange wird diese “Tradition” fortdauern?” – könnte jemand fragen. Das wird bis zu dem Zeitpunkt dauern, wenn alle Verschwundene auf der Krim gefunden sind und die Gerechtigkeit im Verlauf der Ermittlung von allen begangenen Verbrechen der Besatzungsbehörden auf der Halbinsel erreicht wird. Zu dem Zeitpunkt, wenn die Antwort endlich kommt.
Viktoria Savchuk
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