Aus meinen Kindheitserinnerungen: Ich bin krank und gegen Abend bringt mir die Mutter etwas noch nie gesehenes, etwas unglaubliches, ein unwiderstehlich riechendes und sehr-sehr leckeres Jagdwürstchen. Die Mama ist Therapeutin in einer Poliklinik, eine besonnene Ärztin. Ihre Patienten sind Arbeiter in einer Wurstfabrik, aus der Werkabteilung, welche Wurst für die Parteispitze aus Kiew produziert.
Nach einigen Jahren fange ich an, ein Teil der Gespräche meiner Eltern mit gedämpften Stimmen wahrzunehmen… So erfahre ich von geschlossenen Verteilern für die Partei- und Staatsführung (der nächste zu uns befindet sich im Hof des Gastronom an der Ecke Bolschaja Shitomirskaja und Wladimirskaja), über Schneidereien, Schuhfachwerkstätten, sowie über der Apotheke in der Puschkinskaja und einem absolut geschlossenen Krankenhaus in Feofania. Ein separates Leben der Volksdiener – diesen Spruch wiederholt mein Vater sehr oft. Er, ein Mitglied der KPdSU und Kriegsveteran, der den Krieg im besiegten Berlin beendete, wurde zu diesem Leben nicht zugelassen.
Die sowjetische sowie die Parteinomenklatur lebte immer separat, ernährte und kleidete sich separat ein. Sie ließ sich separat behandeln. Wenn sie starb, so fand sie sich separat, ohne mit einfachem Volk in Berührung zu kommen, am Friedhof ein. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts veröffentlichte noch ein sowjetischer „Nichtrückkehrer“ Michail Woslenskij in Deutschland und dann in Frankreich ein sensationelles Buch. Woslenskijs “Nomenklatura“ systematisierte bruchstückhaftes Wissen westlicher Sowjetologen über die Lebensrealien der führenden Etage in der UdSSR. Dort wurde ebenfalls die Entstehungsgeschichte der Nomenklatur als regierende Klasse in der UdSSR dargestellt. Früher war Michail Woslenskij ein ziemlich informierter Professor der Geschichte an der sehr speziellen Lumumba Universität in Moskau, wo internationale Terroristen in die Geheimnisse des Marxismus-Leninismus eingeweiht wurden. Er, Woslenskij, war auch ein Mitglied des Präsidiums der Akademie für Sozialwissenschaften. Er wusste viel und schrieb viel. Wir, Bürger der UdSSR erfuhren von Woslenskijs Buch aus den Sendungen der „feindlichen Stimmen“. Man verstopfte sie natürlich, doch wir passten uns daran an und hörten trotzdem.
Das sind keine müßigen Erinnerungen. Das ist eine Erklärung dessen, was die Besonderheiten des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der nun unabhängigen Ukraine bestimmt. Eine Tradition, die durch diejenigen aufgenommen und weitergegeben wurde, die ein Teil der sowjetischen Nomenklatur waren oder es sein wollten. Wenn sie es in der UdSSR nicht geschafft hatten, so kriegten sie ein Stück vom Kuchen in dem unabhängigen bürgerlichen Staat ab. Unser erster Präsident (wie übrigens auch der zweite) sowie ein bedeutender Teil der jungen Regierungsmitglieder stammen von dort. Von dort stammen auch die Gewohnheiten des separaten Lebens hinter hohen Zäunen. Nur ohne die ehemalige Parteidisziplin, die strikt den Grad an „Separatheit“ bestimmte. Jetzt ist alles grober, unverstellter. Das Prinzip „wir und sie“ wird nicht verborgen. Kleine Komsomolzenführer, die gerade anfingen, Karriere zu machen bedauern keineswegs den Zerfall der KPdSU; sie schafften es, sich ausgiebig und sicher in anderen Werten zu realisieren, die früher feindlich und fremd waren. Sie brauchen weder geschlossene Verteiler noch spezielle Schneidereien. Übrigens auch das Krankenhaus in Feofania brauchen sie längst nicht mehr, da sie zu ihren Haus- und anderen Ärzten fliegen. Und Feofania… ist lediglich der Symbol der Unzerstörbarkeit der Nomenklatur. Umso mehr, weil wir – einfache Steuerzahler, die in Bezirkspolikliniken behandelt werden – ihr Funktionieren bezahlen.
Volksdiener, Tennisplätze, Pferdeställe, königliche Hotelsuiten, das unkomplizierte Geschäft, das früher Diebstahl aus dem Staatsbudget genannt wurde. Und ich war so naiv und wollte Meinungsfreiheit, Reisefreiheit und Rückkehr ins Land. Ich saß in Arrestzellen, hungerte. Wozu? Für sie? Ich sinnierte über Menschenrechte, verteidigte Schwache und Verfolgte. Und sie privatisierten. Alles, Fabriken und Werke, Gasrohre, und auch mich selbst, eine naive Lusche, der über eine Million Dollar aus Zuschüssen ehrlich für die Übersetzung und Veröffentlichung von für mein Land nützlicher Bücher verwendete. Einer von denen, ein ehemaliger Komsomolzenführer, der jetzt Millionär und geachteter Staatsmann ist, sagte zu mir vor ein paar Jahren: „Sie bitten immer noch um fremdes Geld, Semjon Fischelewitsch? Und wieder nicht für sich selbst. So verging Ihr Leben. Ihre Taschen sind leer. Bedauern Sie es nicht?“
Ich bedauere es bereits. Nicht wegen des Geldes. Sondern, dass ich nicht ging, als ich noch jung war. Konnte nicht, wollte nicht. Ich konnte nicht die Gräber der Freunde aus dem Lager hinterlassen, die einsame Mutter Valera Martschenko, Ljolja Switlytschnaja. Natürlich bin ich eine Lusche.
10. Oktober 2012 // Semjon Glusman, Arzt, Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Gefängnisdienstes der Ukraine
Quelle: Lewyj Bereg
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