Die sicherheitspolitische Grauzone im heutigen „Zwischeneuropa“ muss durch einen Beistandspakt der Staaten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer abgelöst werden.
Für die kommenden Jahre wird die geostrategische Grauzone zwischen der NATO und EU einerseits sowie der Moskau-dominierten Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrages und Eurasischen Wirtschaftsunion andererseits die Hauptquelle von Unsicherheit und Instabilität in Europa bleiben. Nicht nur ist ein langjähriger Fortgang des heutigen Hybridkonflikts niedriger Intensität im Donezbecken möglich. Das Schreckbild einer noch weit größeren Eskalation, welche die Dimension der jugoslawischen Kriege in den Neunzigern erreicht, kann nicht als bloße Fantasie abgetan werden. So gibt es mehrere Szenarien des Herganges eines großen russischen Krieges gegen die Ukraine.
Was passiert etwa, wenn die derzeit in Bau befindliche sogenannte Kertsch-Brücke, die Russland mit der Krim verbinden soll, nicht funktionieren wird? Das lange und komplizierte Bauwerk könnte nach seiner Fertigstellung aufgrund der schwierigen geologischen Bedingungen in der Kertscher Meerenge zwischen Asowschem und Schwarzem Meer einstürzen. In diesem Fall könnte Moskau sich – aufgrund der großen Bedeutung des Krim-Projektes für die Legitimität des Putin-Systems – entschließen, eine Landverbindung von Russland über ukrainisches Festland hin zur Krim herzustellen. Kiew würde dem jedoch nicht zustimmen. Im Ergebnis könnte es zu einem großen russischen Krieg gegen die Ukraine zur Eroberung eines Landweges entlang der Nordküste des Asowschen Meeres zur Schwarzmeerhalbinsel kommen.
Expansion im 20. und 21. Jahrhundert
Eine solche Entwicklung würde historische Analogien zum Zweiten Weltkrieg nahelegen. Etliche Beobachter – darunter auch russische – haben bereits die Krim-Annexion Putins 2014 mit der Annexion des Sudetenlandes durch Hitler 1938 verglichen. Allerdings gibt es einen prinzipiellen Unterschied: Das heutige patronalistische Regime in Russland ist eine Kleptokratie, während das deutsche faschistische Regime eine Ideokratie war. Hitler strebte eine geopolitische Weltrevolution an. Putin hingegen hat keine transzendentale Vision für die Zukunft der Menschheit, ja nicht einmal eine kohärente Großmachtstrategie für sein eigenes Land. Es geht ihm um Machterhaltung durch äußeres Machtgehabe sowie einen Zugewinn an Popularität durch graduelle – teils faktische, teils juristische – Ausdehnung des russischen Herrschaftsbereichs.
Daher sind Vergleiche zwischen dem Putinschen Russland und Hitlerdeutschland, trotz bestimmter analoger Sprechfiguren und Verhaltensweisen der beiden Diktatoren, wenig nützlich. Die Putinsche Außenpolitik wird von anderen Triebkräften als das nazistische Expansionsstreben bestimmt. Die Aktionen und Reaktionen des Kremls sind stärker als diejenigen des Dritten Reiches von kühler Machtkalkulation und Risikoabschätzung geprägt. Während die faschistische Geopolitik von Paranoia, Konspirologie und Neugeburtsphantasien getrieben war, ist die russische Kleptokratie vor allem an innerer Herrschaftssicherung sowie -legitimation interessiert. Außenpolitik ist für Putin eher ein Mittel und nicht so sehr die Fortsetzung von Innenpolitik. Es ist weniger weltpolitischer Millenarismus als machtpolitischer Utilitarismus, der das internationale Verhalten der russischen Führung leitet. Die Risiken einer Abschreckung und Abwehr gegenüber den Aktionen und Forderungen des Kremls sind daher weniger hoch, als es in alarmistischen Kommentaren zu russischem Nationalismus, Messianismus und Eurasismus häufig erscheint.
Wie real ist eine neue Eskalation?
Der Worst Case eines russisch-ukrainischen Krieges ist vor diesem Hintergrund zwar unwahrscheinlich. Er ist aber nicht unmöglich in dem Fall, dass ein solcher Großkrieg für den Kreml einerseits gewünschte innenpolitische Effekte erzeugt und andererseits außenpolitisch wenig riskant erscheint. Es sind nicht so sehr überschäumende Emotionen als kaltblütige Kalkulationen der russischen Führung, die die Ukraine und der Westen fürchten, analysieren und ansprechen muss.
So war das militärische und geoökonomische Kräfteungleichgewicht zwischen der Ukraine und Russland seit 1991 groß und steigend. Die ohnehin große Disbalance zwischen den beiden Staaten wurde nach der Jahrhundertwende wesentlich durch die Fertigstellung der Nord-Stream-Gaspipeline nochmals entscheidend erhöht. Dieses wirtschaftlich dubiose Projekt verminderte ab 2011 merklich die bis dahin aggressionsmindernde russische Abhängigkeit vom ukrainischen Gasleitungssystem. Trotz dieser und vieler weiterer Vorzeichen haben die westlichen Regierungen und Öffentlichkeit die Krim-Annexion 2014 nicht oder kaum erwartet. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass es nochmals in Europa einen Krieg geben könnte, wie er derzeit im Donezbecken seit über drei Jahren stattfindet.
Etliche westliche und ukrainische Beobachtern haben zwar seit dem russisch-georgischen Krieg 2008 mehrfach vor einem ähnlichen Konflikt um die Krim und russisch-ukrainischen Krieg als einem möglichen Worst-Case-Szenario gewarnt. Aber für die meisten Beobachter war eine solche Entwicklung vor 2014 – trotz der vielen vorausgehenden politischen und rhetorischen Signale aus Moskau – nicht denkbar. Publizisten, die entsprechende Warnungen aussprachen, galten häufig als unverbesserliche Kalte Krieger, wenn nicht als russophobe Spinner. So ist auch ein großer, offener und unverblümt zwischenstaatlicher Krieg – und nicht nur Scheinbürgerkrieg, wie zurzeit im Donezbecken – zwischen der Ukraine und Russland bis jetzt kaum vorstellbar. Aber er ist für die kommenden Jahre nicht auszuschließen, sollte er der russischen Führung innenpolitisch von Nutzen und außenpolitisch relativ wenig riskant erscheinen.
Solch ein Krieg würde wahrscheinlich die Implosion des ukrainischen Staates bedeuten. In der Ukraine als auch im Westen gibt es heute bei einigen Politikern und Intellektuellen die Illusion, dass das Land inzwischen einem Frontalangriff der russischen Armee standhalten könnte. Die militärische Übermacht Russlands gegenüber der Ukraine ist jedoch viel zu groß. Wenn Moskau Marschflugkörper, Jagdbomber, Mittelstreckenraketen, Landungsschiffe, moderne Panzer usw. einsetzen würde, hätte die Ukraine kaum eine Chance. Die westlichen Staaten würden Kiew in einem solchen Fall zwar aktiv unterstützen. Aber weder die NATO noch die EU würden militärisch eingreifen. Diese Organisationen werden ebenfalls nicht den dann wahrscheinlichen Kollaps der Ukraine verhindern können. Es ist zu befürchten, dass es bislang noch nicht einmal adäquate Krisenpläne für solch eine Eskalation gibt, obwohl ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rückwirkungen auch für etliche Mitgliedsstaaten der NATO und EU gravierend wären.
Vor allem würde eine große Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine mit ihren über 40 Millionen Einwohnern und womöglich auch aus weiteren osteuropäischen Staaten in die Europäische Union einsetzen. Vielleicht wäre Warschau bereit oder sogar glücklich, weitere 200.000 oder sogar 500.000 Osteuropäer zusätzlich zu den heutigen ukrainischen circa eine Million Arbeitsmigranten aufzunehmen. Sollten aber zwei, drei oder gar drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine eintreffen, würde Polen nicht wissen, wie mit derart vielen verzweifelten Menschen umzugehen ist. Ähnliches gilt für Rumänien, die Slowakei und Ungarn – die drei anderen unmittelbaren EU-Nachbarstaaten der Ukraine, in welche osteuropäische Flüchtlingsströme in einem Worst-Case-Szenario fließen würden. Es gäbe etliche weitere überregionale Sicherheitsrisiken, die sich im Falle einer Destabilisierung der Ukraine ergeben würden, über die man jedoch scheinbar weder in West- noch in Mittelosteuropa ernsthaft nachdenkt.
Eine Sicherheitsallianz zwischen Ostsee und Schwarzem Meer
Es wäre jedoch angebracht, schon jetzt Russland mit einem aussagekräftigen multilateralen Hilfsabkommen der mittelosteuropäischen Nationen und eventuellen weiteren koalitionsbereiten Partnern im Westen vorzuwarnen. Solch eine neue Allianz würde einem früheren Muster mehrseitiger Sicherheitskooperation im Südkaukasus folgen. Mit dem Partnerschafts- und Beistandspakt des NATO-Staats Türkei und EU-Ostpartnerschaftslands Aserbaidschan von 2010 gibt es ein Modell für eine Sicherheitsallianz zwischen einem NATO-Mitglied und -Nichtmitglied. Das türkisch-aserbaidschanische Abkommen könnte Referenzpunkt einer künftigen Zwischenmeerkoalition in Osteuropa sein. Der Verweis auf den ratifizierten Vertrag zwischen Ankara und Baku kann heute in der Kommunikation zwischen westlichen und östlichen Mitgliedern des Nordatlantikrates helfen, sich gemeinsam über die Modi und Implikationen eines neuen panregionalen Verteidigungsbündnisses zwischen dem Baltikum und der Schwarzmeerküste zu einigen.
Ein solcher Pakt wäre freilich kein Äquivalent zur NATO und EU bzw. deren künftiger Ausdehnung in die Ukraine, Georgien oder Moldawien. Keines der potenziellen Unterzeichner einer solchen Anti-Putin-Koalition postsowjetischer Staaten – also etwa Polen, Rumänien, die drei baltischen Republiken sowie die EU-Ostpartnerschaftsländer – ist ein Kernwaffenstaat. Daher wäre diese Allianz auch keine Bedrohung für die Atomsupermacht Russland. Nichtsdestoweniger wäre eine Allianz aus bis zu circa einem Dutzend mittelosteuropäischer und südkaukasischer Staaten ein weit mächtigerer Kontrahent für den Kreml, als die Ukraine, Moldawien und Georgien jeweils allein auf sich gestellt. Falls diese Staaten in Moskau als mögliche Opfer größerer russischer militärischer Aggression diskutiert werden, würde ihr Bündnis mit den östlichen Mitgliedsstaaten der NATO und EU die Kosten neuer Moskauer Eskalationen deutlich höher erscheinen lassen. Ein mittelosteuropäisches Verteidigungsbündnis könnte daher – trotz seiner begrenzten militärischen Macht – moderierend auf russische Entscheidungsträger wirken.
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