Selbst Einheimische, Einwohner benachbarter Städte wie Artjomowsk, Gorlowka oder Stachanow scheuen sich davor, nach Slawjansk zu fahren.
Teil 1: Ein klarer Himmel
Je näher man von Donezk aus Richtung Slawjansk kommt, desto deutlicher liegt das Gefühl der Anspannung in der Luft. Aktivistengruppen mit Flaggen, auf der einen Seite eine Zeltstadt rund um das Salzbergwerk mit einem Waffenarsenal im Inneren, auf der anderen eine Straßenblockade, etwa siebzig Menschen mit Transparenten und Flaggen der „Republik Donezk“.
Wir nähern uns Artjomowsk.
Wir werden eingeladen, kurz reinzuschauen, bei den sich hier scheinbar richtig niedergelassen habenden Föderalisten bzw. der „Bürgerwehr des Donbass“ – wie sie sich selbst bezeichnen.
Die Separatisten sind hier trotz allem weniger aggressiv als die „Bürgerwehr der Krim“. Sie lassen sich bereitwillig auf ein Gespräch ein. Bieten Tee, Sandwiches, eingelegte Pilze, Borschtsch an. Alles hausgemacht.
„Die Versorgung ist hier nicht so gut. Die Lebensmittel sind, wie Sie selbst sehen, nicht aus dem Laden“, lacht eine Frau namens Katerina, die hier alle „Mama“ nennen.
Gleich über der Straße befindet sich die Salzmine „Wolodarka“. Bewaffnete Wachen, Überwachungskameras.
„Wir sind zum Schutz hier“, kommentiert einer der „Separatisten“. Er sieht um die zwanzig aus, vielleicht auch etwas älter, er heißt Kirill. „Sie beschützen das Waffenarsenal und wir sie.“
„Warum sollte hier Waffenarsenal sein“, bin ich überrascht.
„Ah, das wussten Sie nicht“, fragt Katerina. „Hier gibt es ein riesiges Arsenal. Wir wohnen hier. Wir kriegen das mit. Im letzten halben Jahr haben sie die mit LKWs abtransportiert…Ich habe selbst einen Langmaterialtransorter gesehen, beladen mit Waffen. Sie wissen, was ein Langmaterialtransporter ist? Wie viele passen da rein? Hier, im Bergwerk, ist das größte Arsenal im Osten! Millionen, selbst aus den 40ger Jahren.“
„Woher wissen Sie, dass in den LKWs ausgerechnet Waffen sind?”
„Machst Du Witze? Schwarze Kennzeichen, Wachschutz, Soldaten … Was müssen die beschützen? Salz? Waffen, eindeutig Waffen…Und wenn keine LKWs vom Militär durchgeführt werden, dann mal welche mit Kiewer, ein anderes Mal mit Lwiwer Kennzeichen. Schauen Sie, wir haben hier einen Ausdruck hängen – Kennzeichen aller Regionen. Also sitzen wir hier … wie auf einem Pulverfass.“
Katerina ist Russischlehrerin. Grundschullehrerin. Sie ist hier aus Überzeugung. Morgens arbeitet sie. Mittags zieht sie ihren „Feldanzug“ an und geht zur Blockade.
„Die Kinder kommen vorbei und wundern sich. In der Schule stellen sie Fragen. Aber ich beantworte die nicht. Dort bin ich Lehrerin. Hier „Terroristin“, „Separatistin“, „Rebellin“ und vor allem „eine Touristin Putins“ (sie lacht). Ich wohne seit 30 Jahren in Soledar und plötzlich bin ich Touristin.
Wir haben hier noch nicht einmal eine Flagge gehisst…wir halten seit zwei Wochen die Stellung. Über uns schreibt die ganze Presse – Rebellen, Mörder…Ich weiß nicht, was dort, in Slawjansk, passiert ist, aber wie können wir hier „Rebellen“ sein. Und wenn man Dich zwanzig mal als Schwein beschimpft, fängst Du an zu grunzen. Wir haben hier nur einen, der bewaffnet ist, einen Igor.“
Igor verbietet Aufnahmen von sich. Auch von hinten. Auf der kugelsicheren Weste sind die halbverwaschenen Buchstaben „Berkut“ zu sehen. Gangart, Körpersprache lassen ihn als Berkut-Angehörigen erkennen, wahrscheinlich ehemaliger. Er kaschiert auch nichts – er hat den Background.
Die Augen…Wir haben in solche Augen gesehen, als wir auf dem Majdan standen. Wir haben uns nie die Zeit genommen, einander zuzuhören. Vielleicht gibt es ja doch Hoffnung? Ich stelle diese Frage und beginne ein echtes Gespräch.
In den Worten der Artjomowsker schwingt Euphorie mit. Und Naivität, der naive Glaube an eine bessere Zukunft. Mit Blick auf die eigene Euphorie während des Euromajdans – kann man das eine mit dem anderen vergleichen, egal, wie unmöglich ein Vergleich auch scheinen mag.
Und ein Vergleich fällt unerwartet leicht, wenn Du mit den eigenen Augen hinschaust.
Hier werden keine Lieder, nicht die ukrainische Hymne gesungen, aber es wird ebenso an die Befreiung von Korruption, vom Einfluss der Oligarchen, von Kriminalität geglaubt.
An und für sich ist die Tatsache, dass die apathisch-passive Gesellschaft im Donbass auf die Straße gegangen ist und selbst die Verantwortung für die Zukunft übernehmen, diese beeinflussen wollte, indem sie ihre Position deutlich machte, Straßensperren aus Reifen baute – das ist bereits ein Bruch mit dem Stereotyp.
Egal wie sehr man keine Ähnlichkeiten feststellen mag – sie sind vorhanden.
Der Point of no Return ist für sie bereits überschritten. Davon erzählt mir ausdrucksvoll Kirill, indem er zeigt, bis wohin genau sie genug davon haben, dass die Region ausgeraubt wird, aber keine Hoffnung auf Veränderungen bestehe.
„Wir sind wie Mann und Frau. Man hat uns verheiratet, und nun trennen wir uns. Die Frau treibt sich in Europa rum, und der Mann arbeitet. So ist das bei uns! Und wir wollen die Scheidung! Wir wollen eigenständig leben. Damit unser Geld in der Region bleibt. Wenn sie keine Scheidung will, gibt es ein Gerichtsverfahren. Am 11. haben wir ein Referendum. Dann werden wir entscheiden“, kommentiert Katerina.
Ich komme auf das Referendum auf der Krim unter vorgehaltener Waffe zu sprechen.
Kirill beginnt lange, weitläufige Erklärungen zum Euromajdan, mit Verzerrungen der Chronologie und Kausalzusammenhänge. Aus dem Ganzen geht hervor, dass hier aufgrund dessen, dass sich die Kiewer Regierung mit Russland „überwarf“ Arbeitsplätze verloren gingen.
Über die Truppeninvasion auf der Krim wollen sie hier nicht reden – ein unangenehmes Thema. Die Krim ist weit weg, und hier gibt es eigene Probleme. Ich frage, wann sie, die Regierung, es denn geschafft haben solle, sich mit Russland zu überwerfen. Während der vier Tage zwischen der Flucht Janukowitschs und dem Auftauchen der „grünen Männer“ auf der Krim?
Schweigen. Sie überlegen.
Eine Frau bringt eine Plastiktüte und alle schmeißen sich auf den „süßen Kuchen“. Krieg ist Krieg, aber Süßes möchte man immer.
Mit dem Mund voller Kuchen, der in seiner Mitte eine rührende kleine Kirsche hat, beginnt Kirill über den „Rechten Sektor“, Extremismus und über Transnistrien zu sprechen.
Die Assoziation mit Transnistrien – genauer gesagt, der Transnistrischen Republik Moldau – ist für mich ein vertrautes Thema. Die selbst ernannte Republik hat sich in ein kleines Fürstentum mit eigenen kriminellen und halbkriminellen „Diensthaltern“ verwandelt.
Den auf dem transnistrischen „Thron“ sitzenden Vater und Sohn gehört alles – von den Tankstellen bis hin zu einer Privatarmee aus privaten Sicherheitsdiensten. Unnötig zu sagen, dass die Auswirkungen einer „Republik“ diesen Formats äußerst bedauerlich wären. Leider begreifen dies hier nicht alle – oder wollen es nicht.
Es ist fühlbar, dass jedem von ihnen eine große Unsicherheit innewohnt.
Die aggressive ideologische „Schutzhülle“ bekommt zusehends Risse, man bemüht sich, diese rechtzeitig zu flicken. Daher ist es einfacher, Informationen nicht zu glauben, die Unsicherheit in die eh schon unsichere Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Sache bringt.
Das ist keine begründete Position. Das ist Glaube.
Glaube, der weitestgehend durch die russischen Truppen in Grenznähe bestärkt wird. Und durch die unmissverständliche Unterstützung des russischen Presse-Bulldozers. Sämtliche alternativen Ansichten werden in den Müll gekehrt.
Wie kann hier, in Artjomowsk, auch Vertrauen in ukrainische Massenmedien bestehen, wenn diese alle hier einhellig als Terroristen bezeichnen?
Man fühlt sehr gut, dass wir uns bereits auf halben Weg Richtung „Zentrum“ – sowohl dem ideologischen als auch militärischen – befinden.
Von hier aus wird mit Hoffnung auf den „Führungsstab“ geschaut, auf Befehle gewartet. Gleichzeitig fühlt man sich immer hemmungsloser – weil weder die lokale Miliz, noch das Militär eingreift. Zumindest bislang nicht.
Einen halben Kilometer entfernt befindet sich die erste Straßenblockade der Regierung.
Hier gibt es den eigenen „Untergrund“, die eigenen „Straßenpatrouillen“, die eigene Paranoia. Ein Grenzgebiet zwischen den vergleichsweise ruhigen, unbewaffneten Straßenblockaden 20 Kilometer von Donezk und den Belagerungsblockaden in Slawjansk. Zwischen den Gesprächsfetzen sind die „lokalen“ Nachrichten zu hören.
Irgendjemand wurde erschossen. Irgendjemand gefasst, offensichtlich ein Spion, natürlich ein westlicher.
Krieg? Auf meine Fragen antworten sie hier:
„Was für ein Krieg? Wie Sie sehen, ist bei uns alles ruhig…
Nach einigen Minuten klingelt bei jemandem das Telefon, das Gespräch ist in Fetzen zu hören:
„„Karandaschi“? Tote? Verletzte? … In welches Krankenhaus? … Alles klar.“
Nachdem sie zur Seite gegangen sind, erzählen sie sich untereinander flüsternd die neusten „operativen“ Meldungen.
Es herrscht trotz allem bereits Krieg. In den Köpfen. Man möchte daran glauben, dass ein Dialog immer noch möglich ist. Zwischen einfachen, glücklosen Menschen – sie sind doch gleich, im Westen und im Osten.
30. April 2014 // Cristian Jereghi
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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