Der Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission der UdSSR und Mitglied des Zentralkomitees unter Breschnew Nikolaj Konstantinowitsch Bajbakow galt als demokratischer Mensch. An Abenden stieg er nicht selten vor der Ankunft zu Hause aus seinem Dienstwagen und ging den Rest des Weges zu Fuß. Eines Tages im Winter stieß der hochgestellte Staatsangestellte auf eine Gruppe Schüler, als er sich seinem Aufgang näherte. „Onkelchen, musst du noch weit gehen?“, fragte ihn einer. In der Vorstellung des Parteibürokraten zeichnete sich ein idyllisches Bild der sowjetischen Timur-Pioniere ab, welche den älteren Menschen nach Hause begleiten wollen. „Nein Jungs, danke, ich bin bereits angekommen“, antwortete der gerührte Bajbakow. „Dann wirst du nicht erfrieren!“, schrie das Jüngelchen, die Bisammütze vom Beamtenkopf reißend, wonach sich die Gruppe davonmachte. Auf die Suche nach den Missetätern wurde die gesamte 83. Abteilung der Moskauer Miliz angesetzt. Nach einem Tag kehrte die entwendete Kopfbedeckung zum Besitzer zurück.
Natürlich kann man den Mitstreiter Breschnews belächeln, der es gewohnt war mit den imaginierten Volksmassen zu tun zu haben und der unerwartet mit realen Vertretern der sowjetischen Jugend konfrontiert wurde. Doch auch in unseren Tagen ist das Problem der Loslösung von der Realität nicht weniger akut als in den Jahren des Stillstands.
Wie oft lassen sich die Lenker unseres Schicksals von adäquaten Vorstellungen über die Situation leiten? Wie vertraut mit der umgebenden Welt ist Feind der Ukraine Wladimir Wladimirowitsch (Putin), der im Kreml bereits das 18. Jahr sitzt und Ausdrucke aus dem Internet von dienstfertigen Sekretären nutzt? Wie adäquat ist Pjotr Alexejewitsch (Poroschenko), der aktiv die sozialen Netzwerke studiert, doch aus dem Gelesenen verkehrte Schlussfolgerungen ziehend? Und wenn wir gerade dabei sind: Wie weit mit der Realität vertraut ist die ukrainische Zivilgesellschaft , die eben jene sozialen Netzwerken bevölkert und sich als Kontrolleur und Instrukteur der Regierung betrachtet?
Es schien so, als ob das 21. Jahrhundert uns beispiellose Möglichkeiten für das Vertrautmachen mit der umgebenden Realität gewährt. Die modernen Technologien erlauben uns die verlangten Informationen innerhalb von Sekunden zu erhalten. Interaktiv Ereignisse zu verfolgen, die an einem anderen Punkt des Landes, des Kontinents oder des Planeten vor sich gehen. Dem Leben von Hunderten und Tausenden absolut unbekannten Leuten zu folgen. In jedem Moment in jede Ecke der Realität einzudringen und skrupulös jede Facette zu untersuchen.
Doch die aufgezählten Vorteile der Informationsgesellschaft sind lediglich unter einer Bedingung aktuell: Wenn wir wirklich danach streben die Realität in all ihrer Vielfalt zu erfahren. Wenn wir der Realität entfliehen wollen, dann erleichtern eben jene Technologien die Aufgabe spürbar.
In der jetzigen Zeit kann jeder von uns selbstständig das gewünschte Bild des Weltgefüges konstruieren, dabei Überflüssiges und Unerwünschtes aussiebend. Man kann die umgebende Welt sogar nicht mit dem Internet oder Facebook gleichsetzen, sondern mit dem persönlichen Stream der Freunde. Man kann aus dem eigenen Universum jeden unliebsamen Gedanken und ihre Träger löschen, indem man eine Bannliste nutzt. Man kann Millionen ukrainischer Bewohner ignorieren, die nicht in deine Vorstellung vom Volk und der Nation passen – zum Glück triffst du im virtuellen Raum praktisch nicht auf sie. Man kann sich im engen Kreis von Gleichgesinnten einkapseln und dabei aufrichtig glauben, dass du im Einklang mit dem gesamten Land lebst und die Hand am Puls der Zeit hältst.
Aber wenn der aktive Teil der Gesellschaft im Zustand ist, leicht seine eigene virtuelle Welt aufzubauen, dann hat das politische Establishment erst recht freie Hand. Es ist sehr leicht ein Gleichheitszeichen zwischen dem Bot-Team in den sozialen Netzwerken und Millionen lebendiger Wähler zu machen. Die Illusion von massenhafter gesellschaftlicher Unterstützung zu schaffen und selbst an sie zu glauben. Das gewünschte Informationsbild in die kontrollierten Massenmedien einbringen und den Beschluss fällen, an eben jenes Bild anzuknüpfen. Ein gedankliches Imperium errichten, in dem die eigenen Wünsche magische Kraft haben, in dem man nur zu wünschen braucht und der potenzielle Konkurrent, dem die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, wird aus dem politischen Leben gestrichen …
Die Situation wird von dem fortgesetzten militärischen Konflikt mit der Russischen Föderation verschärft – dabei nicht einem einfachen, sondern einem hybriden. Ein gewöhnlicher Krieg lässt praktisch keine Chancen, sich vor der unbequemen Realität zu verbergen. Eine Bombe, die auf dein Haus fällt, kannst du nicht bannen. Den feindlichen Kämpfer mit Granatwerfer kannst du nicht abbestellen. Die Kolonne feindlicher Panzer verbietest du nicht, indem du ein entsprechendes Papierchen unterzeichnest. Die aggressive Realität, vor Grad-Raketenwerfern und Kalaschnikows starrend, drängt sich unverfroren in deine Welt und zwingt dich dazu ihr ins Gesicht zu schauen.
Jedoch ist ein hybrider Konflikt niederer Intensität eine komplett andere Sache. Wenn die Front weit weg und stabil ist, dann betreffen die Kampfhandlungen einen großen Teil der Gesellschaft nicht, unser eigener Krieg findet hauptsächlich im Informationsraum statt. Und uns steht es frei ihn uns so auszumalen, wie wir wollen. Es ist nicht notwendig sich mit den unansehnlichen Seiten des Krieges zu beschäftigen, mit der Schützengrabenwahrheit, Dreck, Blut, gegenseitigen Grausamkeiten, all das kann man ignorieren. Es ist nicht notwendig die bornierten Mitbürger zu überzeugen, welche unseren patriotischen Aufschwung nicht teilen, es reicht, ihnen das Wort nicht zu erteilen und ihre Existenz zu vergessen. Es ist nicht notwendig die russischen Propagandisten zu übertrumpfen, die in die Ukraine senden, man kann sie einfach verbieten. Und es ist nicht wichtig, dass im 21. Jahrhundert Verbote für die Verbreitung von Informationen oder Desinformationen leicht zu umgehen sind und sich als unzulänglich erweisen. Das ist bereits kein praktischer, sondern ein rituell-symbolischer Schritt – die Entfernung der feindlichen oder unangenehmen Sicht aus dem eigenen Feld. Eine psychologische Option, die es dem „Verbieter“ gestattet sich selbst komfortabler und sicherer zu fühlen.
Das Elend besteht darin, dass die Realität, die erfolgreich aus dem Blickfeld entfernt wurde, nirgendwohin entschwindet. Der von uns gebannte Facebooknutzer setzt damit fort, Statusmeldungen zu veröffentlichen und Likes zu sammeln. Dem die Staatsbürgerschaft entzogene Saakaschwili setzt damit fort sich an der ukrainischen Politik zu beteiligen und der Bankowaja (Sitz der Präsidialverwaltung) Probleme zu bereiten. Die verbotene Kremlpropaganda findet ihren Konsumenten auf alternativen Kanälen und wirkt wie gehabt auf anfällige Gemüter. Und die ignorierten und unter Verdacht stehenden Einwohner bleiben vollwertige Bürger der Ukraine und stimmen bei künftigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ab.
Für den zeitweiligen psychologischen Komfort muss mit aufgeschobenen Kopfschmerzen bezahlt werden. Und, um so eifriger wir unsere innere Welt vom Unbequemen und Missliebigen säubern, um so schmerzhafter wird die unvermeidliche Kollision mit der Realität.
15. September 2017 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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