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Parallelrealität: Warum stecken die Ukrainer zwischen zwei Welten fest?

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Ukraine: parallele Realität

Von 23:59 am 8. Mai bis 00:01 am 9. Mai treffen in der Ukraine zwei Welten aufeinander, die ein unterschiedliches Verständnis der Geschichte, der Wahrnehmung der Realität und der Sicht auf die Zukunft zeigen.

Den 9. Mai zu feiern oder nicht zu feiern – dabei geht es nicht um einen Tag im Jahr, es geht um unsere Werte, unsere Weltanschauung und unsere Lebensweise. Dies ist eines der Seile, die uns bis heute im weltanschaulichen Orbit der UdSSR halten. Die Tötung von zig Millionen Menschen, die Vergewaltigung von Frauen, die Zerstörung von Ländern und des Schicksals von Millionen von Familien zu feiern, hat eher mit der asiatischen Diktatur als mit der europäischen Demokratie zu tun. Irgendwie so kann man kurz und ohne Beleidigungen alles beschreiben, was die Patrioten und Anhänger der europäischen Wahl über diese beiden Tage sagen.

Aber in Wahrheit ist alles komplizierter und verworrener, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. 52,5 Prozent der Ukrainer halten bis heute an der sowjetischen Interpretation fest, das heißt daran, dass der Tag des Sieges vor allem eine Feier des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg sei. [A. d. Ü. – Der Deutsch-Sowjetische Krieg 1941-1945 wird in Russland und vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Großer Vaterländischer Krieg (Welikaja Otetschestwennaja woina) bezeichnet.] Dies geht aus einer Befragung der Ilko-Kutscheriw-Stiftung für Demokratische Initiativen [Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation] hervor. Weitere 32 Prozent verstehen dieses Datum als Gedenktag des Sieges der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg und der Beteiligung des ukrainischen Volks daran. Ebenso viele wiederum sind der Meinung, dass nur der 9. Mai gefeiert werden muss, während 14 Prozent nur für eine Feier am 8. Mai sind. Einerseits kann eine derartige Aufteilung von der Breite der Ansichten der Ukrainer zeugen, andererseits aber ist sie ein Missverständnis einer neuen Realität und einer Neuinterpretation der vor langer Zeit festgelegten Dinge.

Eine solche Aufteilung kommt nicht nur Russland zugute, sondern auch den ukrainischen Parteien, die über dieses Thema spekulieren. Hier geht es nicht nur um die Oppositionsplattform „Sa schyttja“ [„Für das Leben“ – prorussische politische Partei, welche die größte Oppositionsfraktion in der Werchowna Rada stellt – A. d. Ü.] oder um andere russische Projekte. Im politischen Kampf verwenden dieses Datum auch unsere Nationalisten oder die politische Kraft des Ex-Präsidenten der Ukraine. [Gemeint ist der fünfte Präsident Petro Poroschenko, A.d.R.] Und sogar liberale ukrainische Historiker und Publizisten, die in den vergangenen fünf Jahren zum Dialog und zur Diskussion aufgerufen hatten, reduzierten ihre Materialien auf politische Parolen und nationalistische Thesen. Nichtsdestotrotz gibt ihnen der 9. Mai einmal im Jahr die Möglichkeit, in zig Quellen anerkannt und veröffentlicht zu werden.

Während westliche Historiker darüber diskutieren, ob Geschichte oder Erinnerung wichtiger ist, wie Erinnerung Geschichte beeinflusst und welche Rolle das kollektive Gedächtnis spielt, spricht man bei uns weiterhin über Politik, Propaganda und Nationalismus.

Die Geschichte ist keine stabile Sammlung exakter Fakten. Sie verändert sich konstant und wird durch das Auftauchen neuer Beweise, Erkenntnisse oder Dokumente interpretiert. Auch wird sie von Menschen geschrieben, welche ihre eigenen subjektiven Ansichten haben und ihre Darstellung beeinflussen. Daher erübrigt es sich, von der Geschichte als Richter zu sprechen, der über alle gerecht urteilt. Geschichte ist auch das kollektive Gedächtnis der Menschen. Wie man es auch dreht und wendet, erreichten uns nämlich jene Fakten und Erkenntnisse, denen die Menschen einst mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben und entschieden haben, dass sie wichtiger als andere sind. Der 9. Mai ist für 52,5 Prozent der Ukrainer ihre Kindheit, Jugend und das ganze Leben. Es ist ihr historisches Gedächtnis. Ja, ein verzerrtes, ja, ein trügerisches, aber ihr eigenes. Es ist das, womit sie lebten und mit dem sie sich entwickelten. Deshalb ist es nicht notwendig, diesen Faktor abzulehnen. Auch er ist ein Teil der Geschichte. Hier ist ein solches Phänomen des Einflusses der Propaganda auf zig Generationen von Menschen: Die UdSSR gibt es schon seit beinahe 30 Jahren nicht mehr, doch Menschen, die nach dem Jahr 1991 geboren wurden und den 9. Mai feiern, gibt es.

Beide Seiten der Auseinandersetzung um den 9. Mai machen einen großen Fehler (sowohl bewusst als auch unbewusst), indem sie dieses Datum separat hervorheben und den Verlauf des Krieges und seine Folgen nicht berücksichtigen. Auch negieren sie die Geschichte und ihre Fakten für den Zeitraum von ein, fünf, zehn oder 20 Jahre vor und nach dem Krieg. Für sie existiert ein Einzelereignis, alles andere jedoch hat keinerlei Bedeutung.

Auch zeigt die ganze Situation rundherum, dass es für uns nur zwei akzeptable Rollen gibt: der Sieger und das Opfer. Erstere feiern den 9. Mai und loben die Rede von Lukaschenko. Zweitere schieben es auf das Schicksal und beschweren sich darüber, dass die Front zweimal durch die Ukraine gegangen ist. Aber keine der Seiten sieht eine Chance auf eine Annäherung.

Wir beteuern, dass es die UdSSR nicht mehr gibt, aber erschaffen nichts Eigenes. Wir sagen, dass die Menschen unrecht haben, aber wir zeigen nicht, wie es sein soll. Die Menschen stecken in ihrem Unverständnis darüber, was geschehen wird und wie man darauf reagieren soll, fest. Wer ist Held und wer ist Feind? Weshalb wurde der Großvater zu einem Bösen, obwohl er noch fünf Jahre zuvor geliebt und geschätzt wurde? Bei uns wurden die richtigen und notwendigen Dinge der Politik geopfert. Anstatt dass Historiker über den Krieg sprechen und öffentliche Intellektuelle Artikel schreiben, hören wir Abgeordnete, Beamte und Blogger, deren Bildungsniveau viele Fragen aufwirft. Nicht jene Menschen machen Politik in der Ukraine – und hier geht es nicht um öffentliche Politik, sondern um Entscheidungsfindung und ihre Artikulation.

Was hätten die Behörden in dieser Situation zu tun? Mindestens für drei Zielgruppen zu arbeiten: für die ältere Generation, die in der UdSSR geboren wurde, in ihr aufwuchs und sich entwickelte; für die Menschen, die schon unabhängig [geboren worden] sind, aber von frühester Kindheit an dem Einfluss des Mythos vom Vaterländischen Krieg ausgesetzt waren, aber jetzt noch aktiv sind (sie studieren, arbeiten und reisen) und die Umwelt beeinflussen können; und die Jugend, die noch in der Schule oder Universität lernt, damit sie mit anderen Ansichten und Einstellungen zum Zweiten Weltkrieg erzogen wird. Dabei muss die Arbeit mit Letzteren am aktivsten geführt werden. Dagegen wird für dieses Auditorium nichts geschrieben und nichts vorbereitet. Schul- und Universitätskurse sind langweilig und uninteressant aufgrund der großen Zahl an Daten und Fakten. Niemand erklärt von der Sache her, warum es zum Krieg kam und welche Folgen er hatte. Und die russische Propaganda erreicht die junge Generation mit wesentlich einfacheren Methoden (Filmen, Unterhaltungsprogrammen, Witzen).

Anstatt der Arbeit mit den verschiedenen Zielgruppen, der Information und der Erklärung des Problems, haben wir zwei emotionale Tage im Jahr. An denen es anstelle von Fakten Beleidigungen und anstelle von Erklärungen Beschuldigungen gibt. Und wenn sich die Patrioten über einzelne Phrasen aus den Reden der Behörden und die schlecht besuchten Paraden der Anhänger am 9. Mai freuen, beschäftigt sich die Mehrheit der Ukrainer mit irgendetwas völlig anderem.

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14. Mai 2020 // Stanislaw Besuschko

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Agnes Poitschek — Wörter: 1152

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