Wie die schicksalsträchtigen Ereignisse der letzten zwei Jahre nochmals illustriert haben, befinden sich einige Länder „Zwischeneuropas“ wie Georgien und die Ukraine in einer sicherheitspolitischen Grauzone. Sie werden erst dann eine Chance zum NATO-Beitritt erhalten, wenn sie ihre Streitigkeiten mit Russland nachhaltig beigelegt haben, d.h. wenn sie den Schutz der Allianz nicht mehr benötigen. Welche Handlungsoptionen bleiben für Kiew und Tiflis bis zu deren mittelfristiger Einbettung in die westlichen Strukturen?
Eine zumindest partielle Übergangslösung bestände in der Umsetzung eines polnischen Plans aus der Zwischenkriegszeit – die Schaffung eines Intermariums (polnisch: Międzymorze), das heißt einer Allianz der „Länder zwischen den Meeren“. Diese Idee aus dem Polen des frühen 20. Jahrhunderts würde heute die Bildung einer Entente cordiale beziehungsweise ein Beistandsabkommen der Staaten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer bedeuten. Eine „Coalition of the Willing“ östlicher Mitgliedsstaaten des Europarats könnte sowohl Mitglieder als auch Nichtmitglieder von EU und NATO im östlichen Zentrum und Südosten Europas zusammenführen. Ihre gegenseitigen Beistandsverpflichtungen könnten hinter jenen des Artikels 5 des Washingtoner Vertrages zurückbleiben, müssten jedoch weit robuster sein, als jene der OSZE.
Vorrangige Aufgabe einer solchen Allianz wäre es, eine klare Botschaft nicht nur an Russlands Machthaber, sondern auch an dessen Bevölkerung zu senden. Ein Intermarium würde der russischen Nation signalisieren, dass die verschiedenen Einzelkonflikte, die Moskau derzeit an seinen Ost- und Südostgrenzen austrägt, schürt oder plant, in Zukunft nicht nur Auseinandersetzungen mit schwachen Einzelstaaten bedeuten würde. Nunmehr würde jeder der bereits schwelenden und künftigen Konflikte Russlands in eine multilaterale Konfrontation mit einer größeren Staatengruppe münden.
Auf bi- oder trilateraler Basis findet solche Kooperation zwischen den potenziellen Mitgliedsstaaten eines Intermariums bereits in verschiedener Art und Weise statt, zum Beispiel in Form einer derzeit im Aufbau befindlichen polnisch-litauisch-ukrainischen Brigade. Moskaus Intervention in der Ukraine und Annexion der Krim haben nicht nur das gemeinsame Solidaritätsgefühl innerhalb Osteuropas gestärkt. Sie hat auch die Türkei und ihre Interessen in den osteuropäischen Kontext gebracht. Die bis ins späte 19. Jahrhundert dominierende Bevölkerung der Schwarzmeerhalbinsel, die muslimischen Krimtataren, sind historisch eng mit den Türken verbunden, ausdrücklich gegen die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation und werden vom Kreml seit 2014 im stärker politisch unterdrückt. Für eine Weile wurden die negativen Effekte des neuen Abenteurertums Moskaus von den bis vor kurzem erheblichen Wirtschaftsinteressen der Türkei in Russland gemildert. Seit Herbst letzten Jahres aber ist eine tiefe Spaltung eingetreten, vor allem nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges durch die Türkei am 24. November 2015.
Diese und eine Vielzahl weiterer Tendenzen entlang der West- und Südwestgrenzen Russlands haben den Boden für ein Intermarium geschaffen. Die künftige Sicherheitsstruktur könnte an ältere, ähnliche Projekte anschließen, wie die 2001 gegründete Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung, bekannt als „GUAM“ (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldau), oder die 2005 geschaffene Gemeinschaft für demokratische Wahl (Estland, Georgien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Moldau, Rumänien, Slowenien, Ukraine). 2010 wurde ein Vertrag über strategische Partnerschaft und gegenseitige Hilfe zwischen dem EU-Ostpartnerschaftsland Aserbaidschan und dem NATO-Staat Türkei geschlossen. Dieser Vertrag sieht militärischen Beistand zwischen einem Mitglied und Nichtmitglied der Allianz vor und könnte als Modell für einen multilateralen Sicherheitspakt entlang der russischen Westgrenze dienen.
Ein solcher Pakt wäre keine existenzielle Bedrohung für Russland, da er keine Atomwaffen besitzende Staaten einschließen würde. Gleichzeitig wäre der neue Zwischenblock für die EU und NATO von Vorteil, würde er doch westliches sicherheitspolitisches Engagement im postsowjetischen Raum weniger dringend machen. Brüssel sollte das entstehende Intermarium nicht als Konkurrent oder Störgröße betrachten, sondern als Chance, eine dringend notwendige provisorische Sicherheitsstruktur für Osteuropa und die Schwarzmeerregion bis zur Inklusion der Ukraine, Georgiens und Moldaus in die EU und NATO zu erreichen. Die Bildung eines Intermariums würde den Westen von einigen heiklen Fragen zu seiner ambivalenten Doppelrolle als einerseits entschiedener internationale Demokratieverfechter, jedoch andererseits nur zögerlicher europäischer Sicherheitsgarant befreien.
Eine ausführliche Version dieses Artikels erscheint parallel in „Internationale Politik“, der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
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