„Es wird erzählt, dass als die Nachricht von der Invasion Hitlers in Russland die New Yorker Cafes erreichte, in denen sich die Kommunisten versammelten, so entdeckte einer von ihnen, der sich auf die Toilette zurückzog, plötzlich, dass sich die Parteilinie in seiner Abwesenheit ins Entgegengesetzte gewandelt hat.“
Der ironische George Orwell machte diesen Tagebucheintrag im Sommer 1941. In dieser Zeit erlebte die Linie der westlichen kommunistischen Parteien tatsächlich wunderbare Metamorphosen.
Als der unbekannte Kommunist sich zum Abort wandte, galt das Hitler’sche Deutschland als ein sich verteidigender Staat und die bürgerlichen Demokratien als Kriegsbrandstifter.
Doch im Moment der Rückkehr des Helden vom Klosett wurde Hitler zum Schuft, Aggressor und Feind der gesamten progressiven Menschheit …
Über die Anekdote von vor 80 Jahren könnte man einfach nur lachen, wenn unsere Zeitgenossen und Mitbürger sich nicht beinahe jeden Tage in beinahe derselbe Situation befinden würden. Dabei die eigenen Fähigkeiten der Schwankung gemeinsam mit der Generallinie demonstrierend.
2017-2018 trennte sich die ukrainische Gesellschaft endgültig in Adepten von „Srada/Verrat“ und „Peremoha/Sieg“. Und damals wurde versucht, diese Spaltung mit ideologischen Widersprüchen oder individuellen psychologischen Besonderheiten zu erklären.
Der eine behauptete, dass die Anhänger von Präsident Poroschenko Pragmatiker sind, die Extreme meiden, nüchtern die Möglichkeiten des ukrainischen Staats abwägen und jeden, wenn auch bescheidenen Erfolg begrüßen.
Doch die Regierungskritiker sind infantile Maximalisten, die eine zauberhafte Verwandlung der Ukraine in kürzester Frist erwarten und den Kontrast zwischen Gewünschtem und Realem nicht verkraften.
Der andere hielt genau umgekehrt die Anhänger der damaligen Regierung für feige Jasager, die bereit sind die Augen vor der Lüge, Korruption und der Inkompetenz der da oben zu verschließen. Und die Gegner Pjotr Alexejewitschs [Poroschenko] sind Wahrheitsfanatiker, die nicht bereit sind sich mit Ungerechtigkeit, Prinzipienlosigkeit und Betrug abzufinden.
Doch dann kam der Frühling 2019 und die früheren Versuche der Klassifizierung legten ihre Haltlosigkeit offen. Es erwies sich, dass der durchschnittliche Immerda der sozialen Netzwerke weder auf „Verrat“ noch auf „Sieg“ programmiert ist. Nach den Präsidentschaftswahlen tauschten die Adepten des ersten und zweiten zum großen Teil ihre Plätze.
Der weltanschauliche Purzelbaum gelang ihnen genauso leicht, wie dem aus der Toilette zurückkehrenden Kommunisten – die Annahme der neuen Parteilinie.
Tausende gestrige Pragmatiker verfallen in Hysterie, suchen eifersüchtig den „Verrat“ und finden ihn bei jedem Schritt: von dem angeblich falschen Kleid der First Lady in Japan bis zum angeblich verbotenen pakistanischen Trickfilm über den Eselskönig.
Und tausende kürzliche Wahrheitsfanatiker bemühen sich die realen Verfehlungen der Se[lenski]-Mannschaft nicht zu sehen und ziehen es vor nicht ihre, sondern die Sünden der vorhergehenden Führung zu diskutieren.
Bodenmarkt, Informationsfreiheit, Gefangenenaustausch, Wirtschaftsverbindung zur Russischen Föderation, Ministergehälter, Sozialstandards, Währungspolitik, Gesetzlichkeit und Rechtsschutzorgane – die Mehrzahl der nicht gleichgültigen Bürger hat einfach keine eigene Position bei diesen Fragen. Diese wird vom vorübergehenden Einfluss der Umgebung ersetzt, in welche sich die unversöhnlichen Gegner verwandeln.
Das, was vor einem Jahr noch als normal galt, empört bis in die Tiefe der Seele. Das, was vor einem Jahr empörte, wird ruhig aufgenommen. Gegenseitige Beschuldigungen der Inkonsequenz vervollständigen harmonisch das Bild.
Der Regierungswechsel bewies, dass ein bedeutender – wenn nicht der größere – Teil der politisierten Ukrainer nicht von Werten, Prinzipien oder Wesensart geeint wird. Sie eint die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gesprächskreis.
Der Aufenthalt unter den Eigenen. Die Mitgliedschaft im informellen Club, der mehr bedeutet, als die wechselhaften Regeln dieses Clubs.
Nun, besonders wundern braucht man sich nicht. Das Streben nach Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe ist eines unserer Grundbedürfnisse.
Der Mensch möchte Teil von etwas Größerem sein, als er selbst. Mitunter ist dieses Bedürfnis derart ausgeprägt, dass wir dafür bereit sind, die vorherigen Werte und Einstellungen zu opfern.
Zumal jede ethische Wendung rationalisiert werden kann, die wahren Motive sogar vor sich selbst verbergend. „Ich habe eine ideele Evolution durchlebt. Ich habe meine Ansichten revidiert. Ich bin über mich hinausgewachsen“, klingt stolz. Viel attraktiver, als das peinliche Eingeständnis: „Ich fürchtete allein zu bleiben. Ich fürchtete aus dem Kreis der Freunde und Kollegen herauszufallen. Ich wollte nicht aus dem Club ausgeschlossen werden.“??
Die emotionale Schärfe, welche die Wahlen im vorigen Jahr begleitete, hat den Bedarf an Clubs spürbar erhöht. Die Verlierer bemühen sich zusammenzubleiben, um die Bitterkeit der Wahlniederlage zu überleben. Ihre Gegner suchen die Nähe zueinander, um die Freude über den Sieg über die vorherige Regierung zu strecken. Vor diesem Hintergrund treten Wertorientierungen leicht den Platz an die Clubsolidarität ab.
Die Situation wird vom Umstand vertieft, dass der Wahlsieger selbst ein typisches, beispielhaftes, geborenes Clubmitglied ist.
Für den Gründer des „95 Kwartals“ ist es sehr wichtig, sich im Kreis von Mitstreitern zu befinden und Teil einer gemeinsamen Sache zu sein. Im Unterschied zu Pjotr Poroschenko, der niemandem traut und auf die Vorrangstellung bei allem bestand, liebt es Wladimir Selenski im Team zu spielen und kann es auch.
Das ist eine nützliche Eigenschaft, fraglos, die den Triumph von Se[lenski] bei den Präsidentschaftswahlen begünstigte. Doch das Teamplay ist für Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] ein Wert für sich, und die Werte, die vom Team vorgebracht werden, kommen nicht einmal an zweiter Stelle, sondern eher an dritter Stelle.
Man kann Libertarismus propagieren oder konservative Tugenden verteidigen. Man kann für europäische Standards kämpfen oder für einen besonderen Weg eintreten. Man kann eine Landreform durchführen oder die Kleinunternehmer terrorisieren. Man kann die humanitäre Politik abmildern oder Zensur einführen. Die Hauptsache ist, dass dies alles gemeinsam getan wird!
Derart ist die nicht schwierige Philosophie, mit der die aktuelle Führung auf die Hügel von Petschersk [Kiewer Regierungsviertel, A.d.Ü.] gelangte und die sie bereits den neunten Monat praktiziert, dabei wundersame Zickzackläufe machend.
2020 hört die neue ukrainische Regierung auf, die neue zu sein. Die Zeit, die für die Selbstfindung vorgesehen war, läuft aus. Das regierende Team spürt entweder irgendwelche Konturen von Werten auf oder bleibt ein Klub des Namens Se[lenski], der keinen anderen Kern hat, als die Figur des Verfassungsgaranten selbst.
Dann wird in der Ukraine mit neuer Kraft die Frage nach politischen Alternativen aufkommen. Doch sind die derzeitigen Gegner der Bankowaja [Präsidentensitz, A.d.Ü.] darauf vorbereitet? Und sind sie fähig dem Klub Selenskis etwas Größeres gegenüberzustellen, als den eigenen geschlossenen Klub?
1. Februar 2020 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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