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Kirgisische Lektionen

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Zum großen Bedauern Julia Timoschenkos hat sich die Revolution in der Ukraine nicht wiederholt. Bis jetzt.
Zum noch größeren Bedauern des kirgisischen Kurmanbek Bakijews hat sie sich in seinem Land eben doch wiederholt. Schon.

Der Grund

Kurz gesagt wurde der erste kirgisische Präsident Askar Akajew durch den Druck aus Opposition und Volk am 24. März 2005 gestürzt und verließ heimlich das Land. An die Macht kam der Anführer der kirgisischen Volksbewegung und Ex-Premier, Kurmanbek Bakijew, der noch im Juli desselben Jahres zum Präsidenten gewählt wurde.

Im April 2010 geschahen dieselben Ereignisse schon mit Bakijew selbst. Am 7. April ging die Macht an eine Regierung des Volksvertrauens über, welche von der Ex-Chefin des Außenministeriums geleitet wird. Und Bakijew selbst floh am Abend des 7. April im Präsidentenflugzeug aus der Hauptstadt in Richtung Süden des Landes, die Stadt Osch.

Zwei Revolutionen

Die kirgisische Erfahrung des Frühlings ist der neuen ukrainischen Macht nützlich.
Die Ukraine des Novembers 2004 und das Kirgisistan des März 2005 gleichen einander im Kontext der gesellschaftlichen Erwartungen und der politischen Realisierung dieser Erwartung wie ein Ei dem anderen. Und Orange und Tulpenrevolution hatten in vielem ähnliche Szenarien, Voraussetzungen und Subjekte auf beiden Seiten der Barrikaden – der siegreichen und verlierenden.

Erstens die in jenem Moment gleichen Typen von Präsidenten, Leonid Kutschma und Askar Akajew. Beide sind Vertreter der Epoche der neunziger Jahre, als politisches Regime, Führungsmodell und Mechanismen der Entscheidungsnahme überhaupt, sich um eine starke Persönlichkeit konzentrierten. Der Staat war nach den Fakten jener Zeit ein Beamtenapparat plus große, wirtschaftlich-politische Gruppierungen mit dem Präsidenten an der Spitze der Pyramide. Das Volk war nur bedingt und symbolisch Teil des Staates. Insofern es von den Basisprozessen, die in einem Staat passieren – wie die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik, der Privatisierung und so weiter – weit entfernt war. In diesem Sinne waren gesetzgebende und andere Tätigkeiten, allgemeine und Kaderentscheidungen vor allem ein Resultat des Präsidentenwillens.

Zweitens die Koinzidenz von Zeiten gesellschaftlicher Stimmungen, die auf Veränderung orientiert waren. Zum Hauptmotiv der ukrainischen und kirgisischen Revolution wurde das wachsende Bedürfnis der Öffentlichkeit nach einer Teilnahme am staatlichen Leben und die Nichtübereinstimmung der handelnden Führer mit diesem Bedürfnis. Sowohl für die Ukraine, als auch für Kirgisien wurde das Jahr 2004 bzw. 2005 zu einer Art Wendezeit, die unbedingt eine aktive, gesellschaftliche Reaktion erforderte. Man glaubte, dass jene Politiker die Macht verdienten, die die politischen Rechte ihrer Vorgänger verändern wollen und können. Das heißt jene, die man mit der Zukunft assoziiert und nicht mit der Vergangenheit.

Drittens wurde die Revolution in beiden Ländern zu einem Projekt der Eliten. Insofern wurden sowohl die Orangene Revolution als auch die Tulpenrevolution von Teilen der Elite, unter Führung von Ex-Premiers, getragen. Viktor Juschtschenko und Kurmanbek Bakijew waren beide Premierminister unter ihren Vorgängern. Dank der Revolution und gegen den Willen der handelnden Präsidenten kamen sie an die Macht.

Damit enden die Ähnlichkeiten aber.

Von den Gemeinsamkeiten zu den Unterschieden

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Nach fünf Jahren entwickeln sich die Ereignisse in der Ukraine und Kirgisien, wie wir sehen, fast schon in entgegengesetzte Richtungen.

Man feierte das fünfjährige Jubiläum des Maidans und Juschenko wurde als Präsident durch planmäßige Wahlen abgesetzt, die nach Meinung aller, internationaler Experten ehrlich und ohne Regelverletzungen verliefen. Im Ergebnis dieser Wahlen triumphierte der Opponent der Orangen Revolution.

Kirgisien feierte das Fünfjährige der Tulpenrevolution mit einer weiteren Revolution und Bakijew, als Präsident, mit der Flucht aus seinem Amt. Infolgedessen wurden die Ereignisse aus dem März 2005 aktualisiert und reproduziert – der Sturz der Macht mit derselben Ansammlung von Forderungen vonseiten der Opposition und des Volkes wie bei der ersten Revolution.

Ursachen und Folgen

Der Zusammenhang zwischen Ursachen und Folgen ist hier offensichtlich.
Die Abgänge Juschtschenkos und Bakijews, wie auch die Art der Machtwechsel, wurden von dem politischen Regime vorbestimmt, das sie selbst aufgebaut oder aufzubauen versucht hatten.

Das postrevolutionäre Regime Juschtschenkos war ein „Führungschaos“, in dem es vor allem zwei systemgebende Elemente gab – politische Konkurrenz und Pluralität der Massenmedien. Und im Falle des Versuchs eines Machtzentrums oder einer politischen Figur, die jenes vertritt, die Staatsvollmachen de jure oder de facto zu monopolisieren, trat eine begründete Gesetzmäßigkeit ein – vorgezogene Parlamentswahlen.

Das postrevolutionäre Regime Bakijews war der Versuch einer Rückkehr zu eben jenem polit-ökonomischen System, das unter seinem Vorgänger herrschte. In Opposition zum handelnden Präsidenten stehend wurde Bakijew nach kurzer Zeit zur Verkörperung all dessen, für das er Akajew kritisiert hatte. Vor allem im Bestreben einer vollkommenen Konzentration der Macht in seinen Händen, das sich in folgendem zeigte:

  • vorgezogene Präsidentschaftswahlen am 23. Juni 2009 mit Wiederwahl Bakijews für eine zweite Wahlperiode, als es dem Präsidenten gelang, die Opposition praktisch vollständig zu neutralisieren
  • völlige Monopolisierung aller politischen und wirtschaftlichen Prozesse in Form der so genannten „familiären Führung“ (Delegierung von Familienmitglieder Bakijews auf alle Schlüsselposten unter Führung seines Sohnes Maxim)
  • Einführung eines neuen Führungsmodells der „beratenden Demokratie“, welche die Praktik einer dynastischen Übergabe der Macht bei den darauf folgenden Wahlen bedeuten sollte. Die wichtigsten Fragen für das Land, inklusive der Wahl des Präsidenten, sollten künftig nicht über Wahlen oder Referenden entschieden werden, sondern im Rahmen eines präsidialen Instituts, welches die Schaffung zweier Strukturen vorsah – Präsidiale Beratung und Höherer Kurultaj (Volksvertretungsorgan einiger Turkvölker)

Auf diese Weise hat sich die Revolution in Kirgisien aus vollkommen verständlichen Gründen wiederholt. Was bedeutet, dass ein Machtwechsel auf revolutionären Weg auch kein Zufall sondern eine Gesetzmäßigkeit ist.

Erfahrung als Basismotivation

Ein Vergleich der ukrainischen und kirgisischen Situation ist in gegebenem Fall ein Instrument zur Erfahrungsgewinnung, ein für die neue ukrainische Macht anschauliches politisches Lehrbuch darüber, unter welchen Umständen sich Revolutionen wiederholen können.

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Umso mehr als der ukrainischen Elite ein Übermaß an positiver Erfahrung fremd ist. Die Erfahrung des Sieges ruft keine Reflexe hervor und formt weder politisches Wissen noch Regeln. Der einzige Lehrer des ukrainischen Politikers, das Motiv, welches ihn nötigt, seine Absichten und Handlungen zu überdenken, ist seine mögliche Niederlage.

Wir haben nicht selten beobachtet, wie Janukowitsch und Timoschenko, als sie Premiers waren, auf ein und dieselbe Harke traten. Und diese Harke ist der Wunsch, alle Macht in einer Hand zu konzentrieren. Was im Nachhinein auch zum Grund für die dauernde Umgestaltung der Machtstrukturen wurde. Eben deswegen kam es 2007 zu vorgezogen Parlamentswahlen, bei denen Janukowitsch seinen Premierministerposten verlor. Eben deswegen hat Timoschenko die Präsidentschaftswahlen 2010 verloren, als sich die Eliten gegen sie verbündeten.
Zweifellos unterscheidet sich der Janukowitsch von 2010 von jenem aus 2006 und noch mehr vom Janukowitsch aus dem Jahr 2004. Und trotzdem ist es bis jetzt schwierig, zu bestimmen, unter welcher Hauptaufgabe (das heißt langfristiger) sich die neue Macht formieren wird – die Vereinigung der Nation, der Aufbau eines neuen Wirtschaftsmodells, die Ausarbeitung einer neuen, außenpolitischen Doktrin usw. oder einfach nur die Verteilung der Finanzströme des Landes unter einem kleine Kreis von Leuten.

Bisher sehen wir einen Prozess der Machtkonzentration (was in der ersten Regierungsetappe vollkommen logisch ist) mit dem Ziel der Schaffung eines Steuerungsmechanismus und eines Modells zur Entscheidungsfindung. Und hier hat Janukowitsch wenigstens zwei Varianten zur weiteren Entwicklung des politischen Systems der Ukraine.

Variante 1. Die Schaffung eines Machtsystems, in dem die Persönlichkeit des Regenten im Vergleich zu Instituten zweitrangig wird und Regulationsmechanismen vor allem Gesetz, Bürgergesellschaft und unabhängige Massenmedien sind.

Variante 2. Die Formierung eines Systems unter sich – das heißt, mithilfe des demokratischen Systems an die Macht kommen und es dann unter sich so transformieren, dass man selbst zum einzigen kontrollierenden, bestrafenden und verzeihenden Instrument wird.

Möglicherweise hat die kirgisische Erfahrung ihren Einfluss auf diese Wahl. Es ist ja immer besser, aus Fehlern anderer zu lernen.

9. April 2010 // Olesja Jachno

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke — Wörter: 1241

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