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Die Spinne in den Winkeln von Omas Bauernhof

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Eine winzige süße Spinne versteckt sich auf jeder Seite des Kinderbuches über Omas Bauernhof von Kateryna Michalizyna. Aus irgendeiner Ecke betrachtet sie die Szenen aus dem fabelhaften Leben der von der Künstlerin Natalija Hajda stets zu mehrt dargestellten großen Kühe, Ziegen, Enten, Igel und anderer Tiere. Kinder verstehen sich oft so, wenn sie die Welt der Erwachsenen betrachten: klein, übersehen, und von ganz unten ihre eigenen Netze des Verstehens spinnend.

Anders als in den vergangenen Jahren gab es auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse keinen Gemeinschaftsstand der Ukraine. Als Aussteller-Land war die Ukraine von der Karte verschwunden. Selbst der ukrainische Generalkonsul aus Frankfurt war völlig irritiert. Mit den großen und hohen Messeständen der russischen Verlage rang in Halle der osteuropäischen Verlage weiterhin wie bereits früher nur Georgien. Daneben stellten auf ihren benachbarten schönen Ständen Tschechien und Polen ihre Bücher vor.

Gleichwohl nahm eine Pleijade ukrainischer Verlage an der 66. Frankfurter Buchmesse mit über 7000 Ausstellern teil. Versteckt in verschiedenen Hallen fanden sich ihre kleinen untereinander vernetzten Stände.

In die Zeit der Neuvermessung der gegenwärtigen politischen Welten nahm wie in den vergangenen Jahren der alteingesessene etablierte Kiewer Verlag Kartographia teil, der wichtige ukrainische historische Atlanten und Landkarten druckt. Drei Verlage teilten sich den vier Quadratmeter großen Stand: Nika, Kalvaria und Nora druk. Nika zeigte neben einer zweibändigen Wirtschaftsgeschichte interessante Bücher: Die bereits 2012 erschienene Übersetzung der Darstellung des Krakauer Soziologen Dariusz Wojakowski, „Mentale Grenzen im Europa ohne Grenzen“, die historischen Grundzüge über die Nationalfrage in der Ukraine vom 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts sowie die Biografie des ersten Oligarchen Mychajlo Tereschenko (1886-1956). Zwischen allen anderen standen einige Bücher von Folio, ein weiterer schon lang bestehender und sehr wichtiger Literatur-Verlag aus Charkiw. Kein Wunder, dass auch Andrej Kurkow, der bei Folio verlegt ist, zu einem Fototermin kurz vorbeischaute.

Andrej Kurkow und Jurij Wynnytschuk waren dieses Jahr die einzigen ukrainischen Kulturbotschafter auf der Buchmesse. Wiederholt lasen beide aus ihren gerade deutsch erschienenen Neuerscheinungen. Jurij Wynnytschuk, sonst ein ironisch-sarkastisch schreibender und kapriolen schlagender Anekdoten- und Sotisenerzähler, hat mit seinem Roman „Im Schatten der Mohnblüte“ die 30er Jahre in Lemberg bis hin zu den Besetzungen und Toten der Kriegsjahre bewegend lebendig werden lassen. Auf den düsteren Originaltitel Todestango hat man verzichtet. Andrej Kurkow las aus seinem Kiewer Majdan-Tagebuch. Die Veranstaltungsorte waren über die Stadt verteilt. Am Freitagabend war die evangelische Stadtakademie am Frankfurter Römerplatz mit ca. 100 Zuhörern bis auf den letzten Platz gefüllt. Gespannt folgte der Saal den sofort wieder in die nervenaufreibende Kiewer Krisen-Situation des Januar und Februar zurückversetzenden Aufzeichnungen des durch seine im Schweizer Diogenes-Verlages erschienen Romane hierzulande bekanntesten ukrainischen Autors. Standen drei schwarz gekleidete Männer im Januar vor Kurkows Tür und klingelten ohne Einlass zu erhalten, so waren hier sofort alle Anwesenden solidarisch und empathisch im Wohnzimmer des Schriftstellers. Am Samstag las das Autoren-Duo, das im Original im Charkiwer Verlag Folio und nun auf Deutsch im österreichischen Haymon-Verlag publiziert, im Nordteil des Frankfurter Hauptbahnhofes.

Aus Charkiw kamen weitere Aussteller: Wesna, Frühling, veröffentlicht beispielsweise Bildbände über verschiedene Tiergattungen. Als erstes fielen ins Auge „Insekten Europas“. Charkiw ist neben Kiew und Lemberg das wichtigste Verlagszentrum der Ukraine, ebenfalls also eine Stadt der Bücher. 150 Kilometer vom Krieg entfernt lebt die Millionen-Stadt ruhig ihren Alltag, drucken Verlage mal russisch mal ukrainisch ihre Bücher und man hofft, dass die Lage hier weiter ruhig bleibt, so die Verlagsmitarbeiterin Ljubow.

Einer der wichtigsten, aktivsten und kreativsten Verlage der Ukraine neben Folio ist der Verlag des alten Löwen. Wer mag sie nicht, die alten Löwen?! Der Lemberger Verlag veröffentlichte zunächst hauptsächlich Kinderbücher. Die Netze wurden von den beiden Verlegern Marjana Sawka und Mykola Schejko rasch immer weiter gesponnen. Inzwischen werden alle wichtigen ukrainischen Autoren hier verlegt und professionell betreut. Vom alten Löwen erzählt Marjanas Kinderbuch und beschreibt mit wunderschönen Bildern und Texten das westukrainische Lemberg, also die Stadt des Löwen, wo der Verlag zu Hause ist. Kateryna Babkina und Taras Prochasko, bekannte Autoren für erwachsene Leser, veröffentlichen hier ihre Kinderbücher. Von hinreißenden Lesungen vor 150-köpfigen Kinderscharen erzählt die stellvertretende Verlagsredakteurin Kateryna. Kinder wollen zunächst eingefangen werden. Dann aber bricht aus ihnen eine überwältigende Fülle von Bildern und fantastischen Erzählungen. So ist das immer, wenn Menschen einmal gewonnen sind und Feuer fangen. Ebenso gewinnt Sofija Andruchowytsch mit ihrem im Januar hier verlegten Roman „Felix Austria“ Menschen, nun allerdings Erwachsene. Ihr Roman versetzt noch ein paar Jahrzehnte weiter zurück als Wynnytschuk in die Zeit Ostgaliziens vor hundert Jahren unter Habsburger Regierung. Mit der dichten Darstellung des Lebens zweier Frauen aus Stanislau reißt sie nicht nur den Ehemann der Autorin, den Schriftsteller Andrij Bondar mit. Angesichts der geschilderten großen Menschlichkeit und Großzügigkeit des wieder eingefangenen Lebens der Großväter-Generation ist er von tiefer Dankbarkeit erfüllt. Eine Übersetzung von Sofijas Roman wird angedacht.

Kein Wunder, dass am zweiten Messetag Dmitrij Anzupow von der Frankfurter Buchhandlung Knizhnik am Stand des alten Löwen erschien. Auch er will sein Netz ausspannen und sprach den Wunsch aus, die Bücher des schönsten ukrainischen Verlages so schnell wie möglich in sein Angebot aufnehmen zu dürfen. Einen winzigen Ausschnitt ukrainischer Titel zeigte der vor Jahren aus Russland eingewanderte Buchhändler auf seinem Stand.

Wie viele Verlage mit zahlreichen Titeln in der Ukraine überhaupt jährlich veröffentlichen und trotz kriegs- und wirtschaftsbedingter Krisensituation ihre Leser finden, lässt sich seit 1993 auf der Lemberger Buchmesse alljährlich im September erkunden und erleben. Deutsche, österreichische und schweizer Schriftsteller sind hier schon viel Jahre eingebunden und sowohl persönlich durch ihre Besuche Lembergs und Kiews als auch durch Übersetzungen ukrainischen Lesern bekannt.

Die politischen Proteste und Veränderungen, die vor allem durch die interessierte gebildete Jugend und die Mittelschicht der West- und Zentralukraine angestoßen und unterhalten wurden, werden dazu führen, dass in der nächsten Zeit neue Übersetzungen ukrainischer Autoren ins Deutsche in Arbeit gehen und bald ihre deutschsprachige Leserschaft mitreißen können. Vermutlich wird nächstes Frühjahr die Leipziger Buchmesse, auf der der ukrainischen Literatur größerer Raum eingeräumt wird, bereits mit neuen Büchern die deutschen Leser ukrainischer Literatur einzufangen suchen.

Gelegentlich fanden sich auch bei deutschen Verlagen Bücher über die Ukraine. Wenig Begeisterte verfingen sich bei den Heften und dem Ukraine-Buch der wackeren aufrechten Antifaschisten vom Verlag Selbrund aus Frankfurt. Auf der Frankfurter Buchmesse waren sie dort zu finden, wo der immer wieder Verschwörungsnetze entdeckende Journalist Jürgen Roth letztes Jahr sein Büchlein über Julia Tymoschenko im ukrainischen Spinnennetz der Macht vorstellen und verschenken ließ. Ukrainische Übersetzungen all dieser Publikationen sind schwerlich zu erwarten. Bei den Verlegern aus der Ukraine sah man die Autoren dieser Verlage nicht.

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Voller Enthusiasmus hingegen knüpfte die Heidelberger Biografin Marion Tauschwitz Kontakte und sucht nach Übersetzungsmöglichkeiten. Ihre eben erschienene Biografie über die 1942 so jung im Lager umgekommene Czernowitzer Dichterin Selma Merbaum fängt die Leser durch die weit gesponnenen wiedergefundenen Fäden ihres Lebens ein und enthält außerdem auch die Gedichte.

Spinnennetze sind von unterschiedlicher Art. Wunderbar sind sie, wenn sie wie insbesondere im Fall von Kinderbüchern offene Augen und Herzen voller Dankbarkeit einfangen wollen und können. Und wichtig sind sie, wenn sie im Winkel hängend den Lesern in den großen Auseinandersetzungen des gegenwärtigen Weltgeschehens, die scheinbar nur zwei Parteien präsentieren, einen fernen Spiegel mit bisweilen schräger Perspektive zur Identifikation anbieten können: Beispielsweise die Perspektive der kleinen kreativen und neugierigen Spinne.

Autor:    — Wörter: 1199

Christian Weise trägt seit 2014 übersetzend und gelegentlich schreibend bei zu den Ukraine-Nachrichten. Im Oktober 2020 erschienen von ihm zwei literarische Übersetzungen: Vasyl’ Machno, Das Haus in Baiting Hollow. Leipziger Literaturverlag und Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Ibidem, Stuttgart. Im Januar 2020 bereits erschien seine Übersetzung des Bandes Verfolgt für die Wahrheit. Ukrainische griechisch-katholische Gläubige hinter dem Eisernen Vorhang. Ukrainische katholische Universität, Lwiw.

Mit ukrainischen Themen ist er seit 1994 vertraut, als er erstmals Kiew und Lemberg besuchte und sich zunächst mit kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigte. Wenn nicht Pandemien hindern, bereist er etwa fünfmal im Jahr die Ukraine.

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