Das Leben ist eine große Spötterin.
Noch vor kurzem war die patriotische Öffentlichkeit ordentlich beleidigt durch Vergleiche der Ukraine mit den ehemaligen afrikanischen Kolonien. Heute finden sich die postkolonialen Länder Nordafrikas im Zentrum des Interesses, ihre revolutionäre Erfahrung begeistert die ukrainische Opposition und die aufständischen Beduinen werden nicht mehr für die alten Wilden gehalten, deren Nachahmung schmählich wäre…
Es stellen sich berechtigte Fragen: Wer sind eigentlich diese Wilden? Was unterscheidet sie von zivilisierten Menschen? Ihre Hautfarbe? Ihr Wohnort? Keineswegs. Schon eher ihre archaische Denkweise.
Der zivilisierte Mensch denkt logisch und rational, in seinen Handlungen und letztendlichen Resultaten zeigen sich Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Für den Wilden ist eine mystische und magische Denkweise charakteristisch. Er glaubt, dass seine Gedanken auf wundersame Art die umgebende Realität beeinflussen können. Er lebt in einer Welt sakraler Beschwörungen und Rituale, wunderlicher Fetische und Totems, machtvoller Idole und böser Dämonen.
Es schien, als hätten wir das Stadium der Wildheit schon vor Urzeiten überschritten. Aber die Rudimente des urzeitlichen Denkens brechen noch allzu häufig nach außen und verwischen den oberflächlichen Anstrich der Zivilisation. Die galoppierende Verwilderung ist im klassischen Roman „Herr der Fliegen“ hinreichend beschrieben. Und leider tritt die Ukraine des XXI. Jahrhunderts in die Fußstapfen der jungen Helden William Goldings.
Wann haben die Machthaber dem Land letztmalig ein deutliches, klares und durchdachtes Handlungsprogramm vorgelegt? Eine fortschrittliche Entwicklungsstrategie? Systematische Mechanismen für Reformen in Wirtschaft, Sozialpolitik, Rechtssystem? All diese bodenständige Routine wurde durch die zauberhafte Magie der Losungen ersetzt.
Die Herangehensweise der Wilden hat sich endgültig 2005 durchgesetzt, als die Parlamentarier das absolut inhaltlose Regierungsprogramm „Den Menschen entgegen“ verabschiedeten, das mit klangvollen Mantras wie „Glaube“, „Harmonie“, „Leben“ und so weiter brillierte. Dabei wurde unterstrichen, dass das neue Dokument erstmalig „keine Ziffern, die sich nicht lohnen“ enthält, sondern eine „Philosophie des Denkens“ im ukrainischen Ministerkabinett. In jenem Jahr war das Land bereit zu wirklichen Strukturreformen. Aber die selbstbewussten Priester aus Bankowaja und Gruschewskaja haben diese Chance glücklich vertan, begleitet von munteren magischen Beschwörungen.
Von da an hat die Ukraine die ursprünglichen Wege nie wieder verlassen. Die würdigen Schamanen haben diesen oder jenen Entwicklungsweg gewählt, völlig eines Kerns beraubt und von ihm nur ein leeres Mantra zurücklassend. Anstelle einer realen Vervollkommnung demokratischer Mechanismen haben wir eine geheiligte Demokratie bekommen, anstelle eines funktionierenden Rechtssystems – eine abstrakte Gerechtigkeit, anstelle einer produktiven Aneignung europäischen Know-hows – die sakrale Eurointegration. Das trostlose Resultat liegt vor uns.
Heute steht eine neue Portion wundersamer Zauberwörter auf der Tagesordnung –Professionalität, Stabilität, Reformen.
Mancher glaubt wirklich, dass, wenn man diese innigen Wörter nur lange und laut genug ausspricht, die Wirtschaft in rasendem Tempo wieder aufgebaut, die weltweite Konjunktur sich plötzlich erholen, und über der Ukraine ein goldener Regen einsetzen würde. Warum nur ist vom lang erwarteten Aufblühen bis jetzt nichts zu sehen? Wahrscheinlich müssen die heiligen Beschwörungen noch inbrünstiger wiederholt werden? Oder sollte man andere Mantras ausprobieren? Oder sind möglicherweise die bösen Kugeln der feindlichen Zauberer schuld?
Gedankenloses Schamanentum erblüht nicht nur auf den Petschersker Höhen. Darüber, wie wir die Ukraine aufbauen sollten, wurde einiges gesagt und geschrieben. Aber vernünftige und konstruktive Vorschläge verlieren sich zwischen dem lauten Geschwätz über einen „nationalen Code“, „historisches Gedächtnis“, „wirkliche Rechtgläubigkeit“ usw.
Man müsste diesen mächtigen Zauber sprechen und die Ukraine würde augenblicklich erblühen. Wie die wundersame geistige Magie tatsächlich funktioniert, ist unklar. Der Wilde glaubt, weiß und fühlt, aber logische Gebilde sind seine Sache nicht. Im besten Falle versuchen die heimischen Zauberer an eine Erfahrung aus dem Ausland zu appellieren, die als willkürliches und bequemes Beispiel aus der Weltgeschichte herausgepickt wurde.
Davon abgesehen, bescheinigt die unparteiische Weltrundschau den ukrainischen Magiern nichts Gutes. Die größte Zahl von Atheisten und Agnostikern (bis zu 85% der Bevölkerung) lebt im gut situierten Schweden. Diese Kennzahl ist auch in anderen skandinavischen Ländern, sowie in Frankreich, Tschechien, Japan, China und Südkorea hoch. Man sollte aus der aufgeführten Statistik keine allzu weit reichenden Schlüsse ziehen, aber eines ist klar: Wenn unter geistiger Verarmung eine skeptische Haltung zum Mystizismus zu verstehen ist, so verträgt sich eine solche „geistige Verarmung“ ausgezeichnet mit hoher Kultur und dynamischer Entwicklung.
Dafür blühen im warmen Afrika traditionelle Geistlichkeit und sakrale Beziehungen zu den Vorfahren in prächtiger Blüte, aber das befreit die Einheimischen irgendwie nicht von Armut, Zerstörung und Blutvergießen.
Wir träumen von den Standards zivilisierter Länder und kümmern uns gleichzeitig eifrig um die Relikte der Wildheit.
In der Ukraine des XXI. Jahrhunderts entwickelt sich ein Götzenkult. Das Jahr 2011 begann mit dem Kampf zweier Führer-Götzen – Josef Stalin und Stepan Bandera. Der Krieg der zwei verschiedenen Idole beinhaltet Turbulenzen, man preist und verdammt, verteidigt oder zerstört sie. Und niemand hat vor, von diesem neuartigen Kult Abstand zu nehmen – einen Wilden ohne Idole kann es schließlich nicht geben! Er hat ein anderes Ziel: Das Territorium von den feindlichen Götzenbildern zu säubern, um darauf seine eigenen zu errichten.
In der Ukraine des XXI. Jahrhunderts gedeiht der Fetischismus. Das gewöhnliche Kommunikationsinstrument, genannt „Sprache“, hat bei uns für viele sakrale Bedeutung erlangt. Zum heiligen Fetisch geworden, verliert sie ungebrochen ihre eigentliche Funktion: sie wird nicht annähernd so sehr benutzt, wie man um sie kämpft. Und die leidenschaftlichen Anhänger der Ukrainisierung, die gar nicht ukrainisch sprechen, treffen sich nur allzu häufig.
In der Ukraine des XXI. Jahrhunderts triumphiert die ursprüngliche Mythologie. Beide historischen Konzeptionen, die in unserem Land aktiv propagiert werden – neosowjetische und national-patriotische – führen zu primitiven Epen über wundersame Recken und böse Ungeheuer. Dabei halten sich die Anhänger der alten und neuen Mythen für Besitzer eines bestimmten Geheimwissens, einer großen historischen Wahrheit.
Am traurigsten ist, dass die Verwilderung auch den aktiveren Teil der ukrainischen Gesellschaft erfasst – eben jene, die man gern für eine Alternative zum gegenwärtigen Establishment hält. Mit jedem Jahr versinkt die potenzielle Konterelite tiefer in der Welt aus irrationaler Magie, linguistischem Fetischismus und grausamerer Auseinandersetzung zwischen den Idolen. Noch lebt die Mehrheit der Ukrainer in Apathie, die nicht gleichgültigen Bürger sind mit rituellen Tänzen um die Sprache, sowjetischen Feiertagen und dem Skandalroman „Der schwarze Rabe“ beschäftigt. Unter der aktiven Jugend dominieren keine zukünftigen Erhards und Deng Xiaopings, sondern kriegerische Zerstörer, die berauscht sind von historischer Mythologie und ideologische Götzen anhimmeln.
Wilde an der Macht – das ist schrecklich. Aber es ist noch schlimmer, wenn Wilde unter dem Namen „Bürgergesellschaft“ auftreten. Das ist schon keine Farce mehr, sondern eine Tragödie. Das ist Hoffnungslosigkeit.
Es ist bemerkenswert, dass nicht nur das ukrainische Politikum zum Katalysator der Verwilderung geworden ist, sondern auch Kräfte, die dazu bestimmt sind, die Gesellschaft aufzuklären – die humanitäre Intelligenz. Paradox? Nein, wohl eher Gesetzmäßigkeit.
Schriftsteller, Journalisten, Politologen und Philosophen brennen darauf, die Ukraine zu erneuern, kennen sich aber auf Gebieten, wie Makro- und Mikroökonomie, Rechtspolitik und innovative Technologie, nur schlecht aus. Beileibe nicht jeder ist fähig, ehrlich zuzugeben: „Ich sehe die Krankheit, aber ich verfüge nicht über Wunderheilmittel. Man muss sich an Spezialisten wenden“.
Ambitionierte Intellektuelle gehen einen anderen Weg – sie suchen das Allheilmittel in der gewohnten humanitären Sphäre, indem sie der Sprache, der Literatur, der Geschichte etc. übernatürliche Fähigkeiten zuschreiben. Im Resultat stehen die genannten Beschwörungen, Idole und Fetische. Die unverbesserlichen Humanitären macht das nicht verlegen. Mit klugem Blick diskutieren sie über die konsolidierende Rolle von Mythen und führen die ungestümen Wilden an der Leine.
Die Logik der Intelligenz, welche den Tempel der Primitiven schützt, ist leicht zu verstehen. Ja, der junge Wilde denkt nicht, sondern glaubt. Ja, sein Kopf ist voll mit primitiven Legenden und Mantra-artigen Losungen. Ja, sein Gesicht ist verzerrt vor Bosheit, und er kämpft mit nicht sehr zivilisierten Methoden gegen seine Feinde. Aber er ist doch auf unserer Seite! Das bedeutet, seine passionierte Energie dient einem guten Zweck.
Wir haben es mit dem weit verbreiteten Irrtum zu tun, dass man den irrational denkenden Wilden kontrollieren könne und dass die Barbaren deine Interessen verteidigen würden, wenn man Waffen an sie verteilte. Gewöhnlich endet diese Illusion mit der ersten Kugel, die vom Wilden auf seinen ehemaligen Gönner abgegeben wird. Die Geschichte kennt nicht wenige solcher Beispiele: vom Aufstand der Sipahi bis zur vergänglichen Freundschaft der Amerikaner zum islamischen Fanatiker Osama Bin Laden.
Jener, der ein Bündnis mit den Wilden schließt, wird dadurch nicht stärker. Er macht nur die Wilden stärker.
11. März 2011 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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