FacebookXVKontakteTelegramWhatsAppViber

Das Land der überflüssigen Menschen oder: Zwischen Ideologie und Schmarotzertum

0 Kommentare

Land der Überflüssigen
Die Einführung einer Visumpflicht zwischen der Ukraine und Russland hätte die wichtigste Neuigkeit im Oktober werden können.

Das ist nicht eingetreten – zur Enttäuschung der einen und äußersten Erleichterung der anderen.

Gemäß den Daten des Rasumkow-Zentrums, eines unabhängigen Think-Tanks in der Ukraine, sprachen sich 52,1 Prozent der Ukrainer gegen dieses Vorhaben aus. Außerdem votierten 55 Prozent der Befragten gegen einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Russland. Die relative Mehrheit (48,5 Prozent) stimmte gegen ein Importverbot russischer Handelsgüter.

Millionen unserer Mitbürger sind noch wie vor nicht bereit für den Kampf gegen den Aggressor Opfer zu bringen. Und dies ist bei weitem nicht der erste Fall, in welchem die Entschlossenheit in den ukrainischen sozialen Netzwerken mit der Haltung innerhalb der Bevölkerung auseinandergeht.

Um es direkt zu sagen: In den Augen der aktiven Minderheit besteht ein bedeutender Teil der ukrainischen Bevölkerung aus überflüssigen Menschen. Sie verneinen konsequent ein patriotisches Weltbild. Sie behindern den Kampf mit dem Kreml und die Errichtung eines Nationalstaates. Sie sind ein Ballast und eine Bremse, ein ärgerliches Hindernis auf dem Weg zum Ideal.

Das Ideal, welches von der ukrainischen Gesellschaft gehegt wird, ist allgemein bekannt.

Die passionierte Minderheit würde den Weg Israels einschlagen, eines Staates, welcher unter feindlichem Druck geboren wurde und zum Erblühen gekommen ist. Eines Staates, in welchem jeder Bürger von Anfang an die Rolle eines Kämpfers, eines Erbauers und eines Kriegers übernommen hatte.

Darüber, wie Ukraine ein Israel werden kann, und ob dies überhaupt möglich ist, wird viel und gerne diskutiert.

Es wäre nur gerecht, zu sagen, dass das in den 1940er Jahren neu geborene Israel einen kompromissloseren Gegner hatte, der den Juden keine Illusionen ließ. Doch es gab auch noch einen anderen offensichtlichen Faktor, der nichtsdestotrotz häufig außer Acht gelassen wird.

Im Unterschied zur unabhängigen Ukraine und anderer europäischer Staaten, ist Israel von Immigranten gegründet worden.

Wobei in den 20er, 30er und 40er Jahren die Immigration in das unter Mandat stehende Palästina schon an sich ein mutiger Schritt war. Diejenigen passiven und feigen, die ein sorgloses und komfortables Leben anstrebten, blieben entweder in Europa, oder versuchten, in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern. Das gelobte Land jedoch wählten diejenigen, die bereit zum Kampf waren.

Den täglichen oder wöchentlichen Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

Der gleichgültige europäische Kleinbürger hatte keine Chance auf das Territorium des zukünftigen Staates Israel zu gelangen.

Der Schriftsteller Arthur Koestler, der Mitte der 20er den Ideen des Zionismus nahe stand, erinnert sich:

„Die Britische Verwaltung der zionistischen Organisation wählte einmal im Jahr eine bestimmte Anzahl von Immigrationszertifikaten aus. Die Organisation teilte diese dann in verschiedene Gruppen ein…

Die Ausreisekandidaten wurden nicht nur einer professionellen Vorbereitung, sondern auch einer ideologischen Schulung unterzogen. Die Ausbildung dauerte ein bis zwei Jahre oder auch länger, wenn sich die Zertifikate verspäteten.

Ich musste hinter den Kulissen ein paar Fäden ziehen, mir ein paar ausdrucksvolle Bittschreiben überlegen und eine Prüfung in modernem Hebräisch bestehen.

Danach nahm mich die palästinensische Vertretung der zionistischen Organisation in Wien, die von dem gut gesinnten Anwalt Blauer geleitet wurde, in die Warteliste für Landarbeiter auf.

Ich erinnere mich, mit welchem Unverständnis mich Doktor Blauer anschaute. Klar, sein Sohn studierte an der Universität und für nichts auf der Welt hätte er ihm erlaubt, sich in ein so wahnwitziges Abenteuer zu begeben. Sich als einen Zionisten zu verstehen ist das eine, aber wofür hätte man einen Jungen aus einer guten Familie an wilde Orte zu Moskitos und Arabern schicken sollen?“

In Palästina sammelten sich Menschen eines bestimmten Schlages. 1948 dann erschien auf der Weltkarte ein einzigartiger Staat, der nicht von Kleinbürgern, sondern von Passionierten dominiert wurde.

Das war nicht die berühmt-berüchtigte „nationale Mentalität“, über die in der Ukraine so gern geredet wird. Das war das Resultat einer gnadenlosen sozialen Auslese.

Diejenigen, die es nicht schafften, kamen im Holocaust ums Leben, assimilierten sich, oder siedelten in das friedliche und blühende Amerika.

Den täglichen oder wöchentlichen Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

Es versteht sich von selbst, dass man die Bedingungen, in denen Israel entstand, nicht auf den ukrainischen Boden übertragen kann.

Für die Mehrheit unserer Mitbürger ist das Leben in der Ukraine kein freiwilliger Akt: sie sind hier einfach nur geboren.

Im Gegenteil, um die Heimat zu verlassen, benötigt man bestimmte Qualitäten und je träger ein Ukrainer ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Heimat bleibt. Auf diese Weise spielt die soziale Auslese gegen die einheimischen Passionierten, da sie ihnen die Hoffnung nimmt, irgendwann einmal in der Mehrheit zu sein.

Augenscheinlich war der Grad an Aktivitätswillen in den Jahren 2014/15 maximal.

Maidan, Krim und Donbass weckte alle auf, die man aufwecken konnte. Das war das höchste der Gefühle.

Und wenn sich summa summarum Millionen Menschen noch nicht mit der neuen Realität abgefunden haben und sich für überflüssig halten, dann folgt daraus nur eins: die Ukraine lässt sich nicht mit einem Israel der 40er Jahre vergleichen, einem Staat von allgemeinem Ideenreichtum, Heroismus und Opferbereitschaft. Man muss sich an einem anderen Modell mit einer anderen Aufteilung der sozialen Rollen orientieren.

Wenn man die Mitbürger hinsichtlich ihrer Gesinnung bewertet, so stellen wir vollkommen verschiedene Kategorien auf eine gleiche Ebene.

Unter ihnen sind unverhohlene Nichtstuer und Sozialschmarotzer, die mit dem Strom schwimmen.

Und es gibt die aktiven, engagierten, talentierten Menschen. Sie stehen loyal zu einer unabhängigen Ukraine. Aber nicht dermaßen, dass sie für das Land ihre eigenen Perspektiven und die Zukunft des Landes aufgeben würden. Sie wären nicht bereit, im bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine zu kämpfen, aber fähig zur produktiven Arbeit im Hinterland.

Sie tragen keine Wyschywankas, sind keine Anhänger von Stepan Bandera, aber sie sind gut ausgebildete Spezialisten und erfolgreiche Unternehmer. Außerdem sind sie mobil genug um sich als Lebensraum zwischen der Ukraine und einem anderen Land zu entscheiden.

Ein engagierter Bürger ist das Mittelglied zwischen einem prinzipienfesten Passionierten und einem Sozialschmarotzer.

Von dieser sozialen Schicht hängt unmittelbar die Zukunft der Ukraine ab, ihre Konkurrenzfähigkeit und ihr Platz in der modernen Welt. Und diese Schicht dominiert die Gruppe der Ukrainer, die in den letzten Jahren das Land verlassen haben oder über Emigration nachdenken.

Natürlich, man kann ihnen hinterherrufen: „Wer die Heimat nicht liebt – auf Nimmerwiedersehen!“ Aber so nähern wir uns auch nicht Israel weiter an, sondern verdammen uns lediglich zu einem passiven und niederträchtigen Milieu.

Sogar unter den Kriegsbedingungen sollte für uns eine plumpe patriotische Propaganda nicht an erster Stelle stehen, sondern der Kampf um den engagierten Bürger. Die Ukraine muss dabei so zukunftsfähig aussehen, dass man sie nicht nur mit dem Herz, sondern auch mit dem Verstand wählen kann.

Die Möglichkeit, den engagierten Teil der Bevölkerung zu behalten, bleibt bestehen, aber die Uhr tickt. Die nächsten Jahre oder sogar Monate werden entscheiden, ob es gelingen wird, den Ukrainern ein positives Signal zu senden, ihnen sichtbare Keime der Modernisierung zeigen, ihnen Glauben an die Zukunft schenken zu können.

Was wird passieren, wenn man sich diese Möglichkeit entgehen lässt? In diesem Fall bleiben dem ukrainischen Bürger zwei Gründe, in der Heimat zu leben: Ideologie oder Ausweglosigkeit. Und das wird zu einer Spaltung führen, einer Spaltung in zwei ungleiche, sich bis aufs Letzte unterscheidende Gruppen, wie die Eloi und Morlocks aus Wells` Antiutopie.

Auf der einen Seite eine Schicht der Passionierten, die in einer Welt patriotischer Losungen und schöner Träumereien lebt.

Auf der anderen Seite eine vollkommen demoralisierte Mehrheit, die nicht zu mehr als der Besorgnis um das eigene existenzielle Überleben fähig ist und aus eigener Antriebslosigkeit in der Ukraine bleibt.

Natürlich, aus Sicht der Ersten sind die Zweiten überflüssig. Aber eine andere Art von Bevölkerung wird den Passionierten dann auch nicht mehr geboten werden.

29. Oktober 2016 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Fabian Bosse — Wörter: 1247

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und täglich oder wöchentlich per E-Mail.

Artikel bewerten:

Rating: 4.0/7 (bei 10 abgegebenen Bewertungen)

Kommentare

Neueste Beiträge

Kiewer/Kyjiwer Sonntagsstammtisch - Regelmäßiges Treffen von Deutschsprachigen in Kiew/Kyjiw

Karikaturen

Andrij Makarenko: Russische Hilfe für Italien

Wetterbericht

Für Details mit dem Mauszeiger über das zugehörige Icon gehen
Kyjiw (Kiew)30 °C  Ushhorod31 °C  
Lwiw (Lemberg)28 °C  Iwano-Frankiwsk29 °C  
Rachiw19 °C  Jassinja21 °C  
Ternopil26 °C  Tscherniwzi (Czernowitz)32 °C  
Luzk29 °C  Riwne27 °C  
Chmelnyzkyj29 °C  Winnyzja29 °C  
Schytomyr28 °C  Tschernihiw (Tschernigow)31 °C  
Tscherkassy28 °C  Kropywnyzkyj (Kirowograd)29 °C  
Poltawa29 °C  Sumy28 °C  
Odessa28 °C  Mykolajiw (Nikolajew)33 °C  
Cherson33 °C  Charkiw (Charkow)28 °C  
Krywyj Rih (Kriwoj Rog)31 °C  Saporischschja (Saporoschje)32 °C  
Dnipro (Dnepropetrowsk)30 °C  Donezk29 °C  
Luhansk (Lugansk)31 °C  Simferopol27 °C  
Sewastopol27 °C  Jalta26 °C  
Daten von OpenWeatherMap.org

Mehr Ukrainewetter findet sich im Forum

Forumsdiskussionen

„Was will Faschisten-Russland schon eskalieren? Haben die nicht sogar Truppen von den NATO-Grenzen abgezogen weil es eng wird?“

„Den direkten Konflikt mit Russland gibt es doch schon lange. Natürlich ist das kein heißer Konflikt. Aber, gesprengte Pipelines, diverse Hackerangriffe, Morde an in Europa lebenden russischen Migranten...“

„Die Einwanderung ist inzwischen leichter geworden. Siehe: unbefristete-aufenthaltsgenehmigung-ein ... 48448.html Ansonsten halt der übliche Kram: Ehe, KInd, ukrainische Ahnen, Ostfronteinsatz. Aber dann...“

„Die temporäre Aufenthaltsgenehmigung hat vor allem den Nachteil, dass du für die jeweilige Erneuerung jedes Mal eine Grundlage brauchst, deren Bedingungen sich ändern können. Mit einer befristeten...“

„In der Praxis habe ich auch noch von keinem Einwanderer hier gehört, dass er seinen ausländischen Führerschein umgetauscht hat. Allenfalls, dass sich Leute einen zweiten ukrainischen zugelegt haben....“

„Liebe Alle ich habe an anderer Stelle einiges zum Thema gelesen, jedoch nicht die wirklich passende Antwort gefunden. Vielleicht hier? Muss man wirklich, wenn man eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine...“

„Hat jemand eine Idee wie ich mein Bike von köln beispielsweise nach krementschuk schicken kann? Gibt es jemanden der Transporte in die Ukraine macht? Dankeeee“

„Hatte gestern so eine Situation. Nach einer Mautstelle, stand polnische Policia und verfolgte mich anschließend mit Blaulicht. Bitte folgen, das war in Kattowitz. Sie meinten, ich hatte kein Licht an,...“

„Hallo Forengemeinde, bin heute früh 6 Uhr über Korczowa in die Ukraine eingereist. 1,5 h ohne Probleme. Straßen, sind teilweise sehr marode“

„Scheidungsurteile sind unbegrenzt gültig. Auch nach 10 oder 20 Jahren. Aus dem einfachen Grund, weil der Inhalt, also die Entscheidung, sich ja nicht mit Zeitablauf ändert. Normalerweise jedenfalls nicht....“

„Klingt irgendwie nach Wunschkonzert. Die Person erscheint mir wenig Schutz zu benötigen, reist ja immer hin und her. Paragraph 24 bedeutet, Du benötigst den Schutz, Du bleibst hier, Du lernst Deutsch,...“

„Ja das ist Blödsinn dass die Waffen nicht gegen Russland selbst eingesetzt werden sollten. Die bekloppten Russen-Faschisten fragen doch auch nicht ob sie ukrainische Zivilisten mit Iran-Drohnen beschiessen...“

„Hallo Waldi, im Grunde bin ich voll bei Dir! Da aber die Unterstützer der Ukraine ihre Rüstungsindustrie nicht hochfahren, die Produktion von Munition ist viel zu gering, wird es wohl nichts mit einem...“

„Wenn verhindert werden muss dass RU weiter (und noch stärker) eskaliert, müssen auch militärische Anlagen und Aufmarschgebiete in RU angegriffen werden können. Dies ist kein Eskalationsschritt sondern...“

„Hallo, vielleicht kann sich jemand zu folgenden Fragen äußern: - Ein Ukrainer mit biometrischem Pass war mit gültigem Visum von August 21 - August 22 in Deutschland (ohne gemeldet zu sein, bzw. Aufenthaltsgenehmigung...“

„Fahre immer schwarze Autos, vielleicht liegt es auch an der Farbe.“

„Bin da noch nie angehalten worden, vll. liegt es an deinem Auto. An der Grenze wird man grundsätzlich mit was konfrontiert was man sich nicht erklären kann und wo man nicht drauf vorbereitet ist. Ist...“

„@ensowo dazu gibt es wohl endlose Geschichten, selbst bin ich zweimal in gleicher Art und Weise kontrolliert wurde, das erste Mal, stichprobenartig, da gehe ich von einem Zufall aus. Beim zweiten Mal allerdings...“

„am 20.05.Ausreise über Budomiers mit dem Wohnmobil.Wir hatten Schwierigkeiten mit dem Ukrainischen Zoll. Das Wohnmobil hat ein Gesamtgewicht von 3500 Kg und die Zollbeamtin wollte das Wohnmobil als Lkw...“

„Ein Waffenstillstand hat den " Charme" keine Gebiete offiziell abtreten zu müssen und nur auf so was in der Art würden sich die Ukrainer eh nur einlassen. Putin hat einen Lauf, in 2024 wird sich eh nichts...“

„An einem wirklichen Waffenstillstand hat doch Putin gar kein Interesse, sieht man doch seit 2014. Nur dafür dass die Ukraine die besetzten Gebiete abtritt was sie nicht machen wird. Eine Offensive wird...“

„Hallo Waldi, im Grunde bin ich voll bei Dir! Da aber die Unterstützer der Ukraine ihre Rüstungsindustrie nicht hochfahren, die Produktion von Munition ist viel zu gering, wird es wohl nichts mit einem...“

„"Eine Apostille hat kein Ablaufdatum. Die Urkunde, die mit der Apostille versehen ist, kann aber eine Gültigkeitsfrist beinhalten. In der Regel dürfen seit der Ausstellung des Dokuments mit Apostille...“

„Verteidigung wird unter den jetzigen Umständen immer mehr zum Selbstmord! Was die ukrainische Armee dringend braucht sind schwere Waffen zur Verteidigung. Und dazu gehören nun einmal ATACMS-Raketen und...“

„Hallo nochmal.....wisst ihr wie lange mein apostilliertes Scheidungsurteil aus Belgien in der Ukraine gültig ist?“