Wie habe ich mich schon an sie gewöhnt. An jeden Einzelnen. An die Frauen und Männer, an die Heteros und Homos, an die Blondinen und Brünetten, an die Wortstarken und Stillen. Ich weiß schon vorher, was sie zu sagen haben, kenne all ihre Gedankengänge, die fundierten und sinnlosen, über Nahrung oder andere Leidenschaften. Ich kenne sie sogar so gut, dass ich mir ihre Interviews schon gar nicht mehr angucken brauche, ob die Duelle bei Schuster oder die hitzigen Auftritte auf Versammlungen. Ich kenne auch diejenigen, die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe, weil sie ihrem Arbeitsplatz bisher fern geblieben sind. Arbeitsplätze, die von Steuerzahlern wie mir finanziert werden.
Sie gehen einfach. Ohne sich von mir zu verabschieden, ohne mir lebensweisende Ratschläge zu hinterlassen, ohne mir den richtigen, erfolgversprechenden Weg zu weisen. Frühling, Sommer, Herbst wie Winter. Und wieder Frühling, wieder Sommer, wieder Herbst und wieder Winter. Jeder kennt ihn, den Kreislauf der Natur.
Auch die Arbeit der werten Damen und Herren besteht aus solch einem Kreislauf. Auf das uneffektive Politikerleben folgen eine uneffektive Gesetzgebung und eine uneffektive Nation. Nein, ich werde deswegen jetzt nicht traurig sein. Mein persönliches Leben hat sich mit ihrem Leben, das von Emotionen und Möglichkeiten nur so überquillt, noch nie überschnitten. Ich vergesse ihre Gesichter schnell, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Kenne ich die meisten doch auch gar nicht.
Sie, die gerade gehen, sind genauso weit von mir entfernt, wie ich von ihnen. Unterschiedliche Geschöpfe von unterschiedlichen Planeten, die ein völlig unterschiedliches Leben führen – und dennoch in ein und demselben Land leben. Sie und ich, wir sind uns völlig fremd, begegnen uns weder in der Metro noch im Bus oder im Supermarkt.
Sie gehen tatsächlich. Gezwungenermaßen. Getrieben von dem einen, hitzigen Gedanken: Wiederzukehren! Und sie kehren zurück, viele von ihnen. In den Versammlungssaal, in die Fernsehshows von Schuster und Kisseljow oder in ihre staatlichen Erholungsdomizile und Sanatorien. Sie kehren zurück, weil ich ihnen als Wähler meine Stimme gebe, wobei ich mir jedes Mal bitteren Herzens eingestehen muss – es gibt keine Besseren.
Alles bleibt beim Alten, bitter und trostlos, ohne Glauben, Hoffnung und Liebe. Wieder höre ich dieselben Worte, dieselben Versprechungen, dieselben wohlartikulierten Lügen. Dieselben altbekannten Stimmen, die auf ewig bleiben, wie die Löcher in den Straßen und der Dreck in den Hausfluren.
Ich, als ukrainischer Steuerzahler und Wähler, bringe sie persönlich dazu, sich weiterhin um sich zu sorgen. Und gleichzeitig missachte und beneide und ich sie dafür.
Sie kehren zurück und alles bleibt beim Alten: der Lügenschwall aus dem Fernsehbildschirm; die Prügeleien der satten Schweine, die regelmäßig schwimmen gehen und im Fitnessstudio trainieren; das patriotische Gesülze über Geschlagene und Kaltgestellte; die sinnlosen und dem Land schadenden Gesetzentwürfe; die demagogischen Reformen und süßen Erinnerungen an das geregelte und glückliche Leben zur Sowjetzeit, in der es weder Massenrepressionen noch Hungersnot gegeben haben soll.
Wie immer wird die noch nicht gänzlich versoffene und drogenabhängige Jugend ausreisen, in eines der Länder, in dem es ausgewogenen und realen Wohlstand gibt; Krankenschwestern und Ärzte finden sich im nahegelegenen Europa wieder; die hungrigen Ingenieure werden sich in den heranwachsenden Diktaturen Asiens und Afrikas sesshaft machen, um dort den heimischen Tyrannen beim Töten der eigenen Bevölkerung behilflich zu sein…
Und dann, irgendwann, bleibe ich mit denen alleine. Ich und meine Gesetzgeber. Dann lernen wir uns mal persönlich kennen. Ich werde ihnen alles erzählen, von meiner Verachtung, meinem Ekelgefühl und meinem bitteren Kummer. Sie werden mir antworten, leise und bestimmt: „Du hast uns doch selbst hervorgebracht!“ Das stimmt. Aber all das ist Zukunftsmusik. Ich will und werde über die Zukunft nicht nachdenken. Bin ich es doch gewohnt im Heute zu leben. Es einfacher und weniger gefährlich.
29. Oktober 2012 // Semjon Glusman
Quelle: Lewyj Bereg
Hoffnungslos... für Generationen?
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