Vor einigen Tagen gab einer der größten Verehrer von Wladimir Putin auf dem Balkan, das Mitglied des Präsidiums von Bosnien und Herzegowina, Milorad Dodik, die Notwendigkeit der Teilung dieser ehemaligen jugoslawischen Republik in drei gesonderte Staaten bekannt. Die Erklärung Dodiks wirkt natürlich wie ein frevlerischer Versuch eine neue Grenzziehung im Süden Europas einzuleiten. Doch kann niemand seiner Hauptthese widersprechen – der Staat funktioniert in Bosnien Herzegowina nicht und entwickelt sich nicht weiter.
Gründe, die seine Niederlage erklären, kann man ohne Ende finden – das sozialistische Erbe, die Zurückgebliebenheit und der Anachronismus der Wirtschaft, Korruption, der Schock des kürzlichen blutigen Krieges … Aber die Hauptsache ist: Bosnien und Herzegowina erwies sich als unwichtig für die Völker, die auf seinem Territorium leben. Es wurde zu einem unnötigen Staat.
Als die internationalen Vermittler sich der Regelung der Situation annahmen, die sich in Bosnien nach dem Krieg ergeben hatte, beschlossen sie einfach den Stand der Dinge zu fixieren. Die Ergebnisse der ethnischen Säuberungen, die von bewaffneten Formationen der Republik Srbska durchgeführt wurden – ihre Kämpfer verjagten faktisch Muslime und Kroaten von dem von ihnen kontrollierten Territorium. Die politische und militärische Union, die zwischen Muslimen und Kroaten geschlossen wurde. Die Notwendigkeit der Wahrung der Einheit Bosniens, damit keine Präzedenzfälle für neue territoriale Teilungen geschaffen werden.
Dieser Ansatz half niemandem. Nach dem Vertrag von Dayton, der den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete, geschahen Kosovo und die Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens durch Russland und die Krim. Und Bosnien selbst begann sich in einen Staat zu verwandeln, der nicht existiert. Die Serben brauchen ihn nicht, da sie selbst das Verweilen in der Republik Srbska als Vorbereitung zu Vereinigung mit Serbien betrachten. Die Kroaten waren auch früher auf Kroatien orientiert, dabei ist die Gesetzgebung des Landes eben derart gestaltet, dass sie nicht auf eine adäquate Vertretung in der Führung des gemeinsamen Landes zählen können, „für sie“ stimmen faktisch die Muslime. Für die muslimischen Bosniaken ist Bosnien der natürliche Schutzraum ihrer Identität. Doch wenn im Laufe von Jahrzehnten in dieser Zuflucht nichts vor sich geht, das reale Perspektiven versprechen würde, würden Sie dieses Land schätzen und aufbauen? Oder es vorziehen ihr aus der satten Emigration nachzuseufzen – einer Emigration, in der es bereits keine Probleme mehr mit den Nachbarn geben wird, die sich für Ihren Staat nicht interessieren und Ihre Identität für ausgedacht und eine Schrulle halten?
Nach den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen 2019 sollten die Ukrainer, die über die Zukunft unserer Staatlichkeit nachdenken, sich nicht fragen, wann die Ukraine Polen oder Rumänien ähneln wird, sondern der Frage widmen, wie unser Land nicht das Schicksal Bosniens wiederholt – eine Perspektive, die bereits nicht mehr so unreal erscheint und eigene Milorad Dodiks gibt es bei uns wie Sand am Meer. Formal fixierten die Wahlergebnisse eine nie gesehene nationale Einheit um die Figur des ehemaligen Komikers Wolodymyr Selenskyj und der eilig unter seinem Namen geschaffenen politischen Partei, die heute das ukrainische Parlament kontrolliert.
Faktisch konstatiert die Soziologie, dass fünf Jahre nach dem Beginn des Krieges mit Russland die ukrainischen Bürger weiterhin bei der Hauptfrage der Existenz des Staates gespalten sind – der Beziehung zu der ehemaligen Metropole und der Hauptsache der Zivilisation, die sie verkörpert, der „Russischen Welt“. Wie auch früher stimmen Millionen Ukrainer für offen prorussische Parteien und wenn man sich daran erinnert, dass ein großer Teil der traditionell prorussischen Wählerschaft auf der anderen Seite der Trennungslinie [im Donbass, A.d.Ü.] und der administrativen Grenze zur Krim blieb, kann man die Beibehaltung der Spaltung registrieren, die sich bereits 1994 abzeichnete, als zum ersten Mal ein „Mann des Volkes“, Leonid Kutschma, gewählt wurde. Und obgleich die Zahl der Leute, die sich wünschen, dass wirklich eine selbstständige Ukraine existiert – und nicht im Schatten Russlands und der „Russischen Welt“ – beständig steigt, ist für viele dieser Leute die Frage der Bildung einer eigenständigen ukrainischen Identität eine zweitrangige im Vergleich zur Frage des ökonomischen Wohlstands und der Lösung sozialer Probleme.
Viele der Leute, die auch früher die Ukraine als Futtertrog begriffen, und nicht als nationalen Schutzraum sind überhaupt nicht in der Lage zu begreifen, dass sie ohne klares Bewusstwerden des Sinns der Errichtung des Staates dieser sich in eine Totgeburt verwandelt. Und viele unserer Landsleute brauchen überhaupt keinen Staat, sie begreifen ihn nur als bedauerliches Hindernis, dass sie beim Leben stört. Ja, diese Leute sind keine Verbündeten der „Russischen Welt“, doch Adepten des ukrainischen Weilers und bereit sorgenlos unter irgendeiner Macht zu leben, die auf ukrainischem Boden errichtet wird. Eben so, wie es hier im Verlaufe von Jahrhunderten war.
Den Ukrainern muss endlich bewusst werden, dass die sogenannte „passionierte Minderheit“, die regelmäßig in für den Staat kritischen Momenten auf die Straße geht, die Existenz des Staates verteidigen kann, doch nicht in der Lage ist ihn aufzubauen. Für die Errichtung des Staates braucht es den Willen der gesamten politischen Nation und ihre Bereitschaft zu langjähriger Aufopferung, anders geht es nicht. Die Ergebnisse der Abstimmungen 2004 und 2014 müssen realistisch bewertet werden, als die sogenannten nationaldemokratischen Kräfte für kurze Zeit siegten. Und begriffen werden, dass wir 2004 nicht nur zu Zeugen nationaler, sondern auch sozialer Erwartungen an Wiktor Juschtschenko als Retter der Nation und Träger einer spezifischen ukrainischen Gerechtigkeit wurden, die bekanntlich in jedem Weiler ihre eigene ist. Und 2014 beobachteten wir eine seltene Vereinigung der Patrioten mit den durch Russland gekränkten Landsleuten. Und als der Grad der Anspannung sich zu senken begann und die Kränkung nachließ, wurden die nicht sehr zahlreichen Patrioten allein mit ihren ewigen Illusionen gelassen.
Es muss begriffen werden – und dabei kann das Beispiel von Bosnien und Herzegowina helfen, dass der Westen Stabilität im postsowjetischen Raum, eine friedliche und territorial unversehrte Ukraine und Austausch mit Russland braucht. Doch eine zivilisatorisch eigenständige – und staatlich gefestigte Ukraine – brauchen nur die Ukrainer selbst (und das bei weitem nicht alle). Und falls eine friedliche und territorial unversehrte Ukraine zu einem stehenden Sumpf wird, auf deren Territorium jahrzehntelang nichts vor sich geht, wird das niemanden stören, weder in Berlin noch in Paris und schon gar nicht in Washington.
Es muss begriffen werden, dass der historische Prozess des Zerfalls des Imperiums, eines der Fragmente die Abtrennung der Ukraine und ihre Staatlichkeit wurde, tatsächlich die Existenz unseres unabhängigen Staates garantiert. Doch er garantiert uns weder die territoriale Unversehrtheit unseres Staates, noch dessen zivilisatorische Tauglichkeit, noch wirtschaftliche Erfolge, noch die Qualität einer politischen Nation. Der historische Prozess garantiert uns nur einen Platz auf der Landkarte, alles andere können wir nur selbst erlangen.
Doch das bedeutet, dass die Ukraine überall errichtet werden muss, wo es möglich ist. Und in erster Linie für sich selbst errichten und nur dann wird sie attraktiv für andere werden, sogar für Mitläufer. Zumal sich die Meinung dieser Mitläufer, die keinerlei reale Orientierungen im Leben haben, so schnell ändert, dass es niemals gelingt sich an diese anzupassen.
Daher muss man sich an die Ukraine „anpassen“. Nur an sie und ihre Zukunft. Und für sie handeln, sogar dann, wenn die Mehrheit ihrer Bürger offen auf sie spuckt. Man darf sich nicht fürchten in der Minderheit zu sein, es lohnt sich nicht sich dem feindlichen Publikum anzudienen, dass sein Leben auf der Suche nach dem nächsten Messias verbringt. Man darf das Scheitern nicht fürchten – ein natürliches und unvermeidliches Resultat jeglicher populistischer oder kollaborationistischer Regierung. Im Gegenteil ist es notwendig zu lernen die Folgen dieses Scheiterns im Interesse des zukünftigen Staatsaufbaus zu nutzen.
In der Ukraine muss erlernt werden, ohne Angst und Verzagtheit zu leben.
24. August 2019 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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