Nach über drei Jahren Krieg in der Ostukraine und vielen erfolglosen Lösungsversuchen wird eine dauerhafte Zementierung der derzeitigen Situation im Donezbecken (Donbas) immer wahrscheinlicher. Weder die Genfer Deklaration vom Frühjahr 2014 noch die Minsker Vereinbarungen vom Sommer 2014 und Winter 2015 oder der parallel eingebrachte ukrainische Vorschlag einer großen UN-Friedensmission für den Donbas haben es vermocht, Moskau zum Einlenken zu bewegen. Der kürzliche Vorschlag Putins einer kleinen UN-Mission mit dem eng begrenzten Mandat eines Schutzes der bereits im Einsatz befindlichen OSZE-Beobachter war scheinbar entweder ein taktischer Zug oder aber sogar ein Ablenkungsmanöver bzw. gar nur ein Propagandageck.
Die Ukraine in der machtpolitischen Kalkulation des Kremls
Sollte die russische Führung auch weiterhin annehmen, dass die ökonomischen Verluste, das heißt die Okkupationsausgaben und Sanktionseffekte, unter den politischen Kosten einer Aufgabe der besetzten Gebiete und Einstellung der Kampfhandlungen liegen, wird der heutige Zustand womöglich über Jahre anhalten. Der Kreml gewinnt vor allem innenpolitisch durch seine Low-Intensity-Warfare im Osten der Ukraine insofern, als er damit die ukrainische Europäisierung als potenzielles postsowjetisches Gegenmodell zum Putinsystem erschwert und so mittelbar die Stabilität der russischen Kleptokratie sichert. Dieser Gewinn mag den zynischen Machtmenschen in Moskau auch in Zukunft hoch genug erscheinen, ihr derzeitiges Spiel im Donezbecken ohne Rücksicht auf ukrainische und eigene Verluste weiterzutreiben.
Die Verhandlungen im Rahmen des Minsker Prozesses und Normandieformats glichen daher bislang einem Trauerspiel. Bis heute wurde noch kein einziger Punkt der Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 erfüllt. Ob und wann die ständig laufenden Verhandlungen in Minsk signifikante Fortschritte zeitigen werden, wird wesentlich von der Resolutheit und Geschlossenheit der EU bei der Fortführung des Sanktionsregimes abhängen. Die Einheit des Westens bei seinem Umgang mit Russland sowie die allgemeine weltpolitische Kräftekonstellation wird die Interessenlage im Kreml und seine Bereitschaft bestimmen, nach einer nachhaltigen Lösung des Konflikts im Donezbecken zu suchen – oder auch nicht.
Selbst eine Einstellung der Kampfhandlungen und ein Einfrieren des Konfliktes, wie bei ähnlichen postsowjetischen Auseinandersetzungen in Georgien (Abchasien/Südossetien) oder Moldau (Transnistrien) geschehen, ist derzeit nicht abzusehen. Hauptgrund dafür ist, dass eine Beruhigung des Donbas-Konflikts eine vom Kreml ungewünschte Stabilisierung des ukrainischen Staates nach sich ziehen würde. Die inneren Spannungen in der Ukraine würden zurückgehen, Auslandsinvestoren würden in die Ostukraine kommen, die Menschen um die jetzigen Kampfgebiete herum würden Hoffnung schöpfen usw. Die ukrainische Gesellschaft und Wirtschaft würden sich freier, konzentrierter und dynamischer entwickeln können. All das kann nicht im Interesse der russischen Kleptokraten sein, da in diesem Fall einige Russen auf die Idee kommen könnten, dem ukrainischen Beispiel einer Demokratisierung und Annäherung an die EU zu folgen, wie es sich auch der Westen wünscht. Traurigerweise ist somit die kulturelle und verwandtschaftliche Nähe zwischen Ukrainern und Russen kein konflikthemmender, sondern eskalationstreibender Faktor.
Die Dezentralisierungsreform als gewollter Kollateralschaden des Donbaskonflikts
Freilich werden die Minsker Abkommen, insbesondere deren politische Teile, auch von ukrainischer Seite nur unter westlichem Druck, stockend und partiell umgesetzt. So hat beispielsweise die Ukraine die lokale Sonderautonomie „bestimmter Regionen der Gebiete Luhansk und Donezk“ – also der derzeit faktisch von Russland okkupierten Territorien in der Luhansker und Donezker Oblast – noch nicht in den Verfassungsrang erhoben und die entsprechende Grundgesetzreform zur Dezentralisierung nicht umgesetzt. Dies hat triftige Gründe.
Die Ukraine unterschrieb die Minsker Vereinbarungen sowohl im September 2014 als auch Februar 2015 quasi mit dem Revolver an der Schläfe, nämlich vor dem Hintergrund blutiger Schlachten mit regulären russischen Truppen bei Ilowajsk und Debalzewe. Es drohte eine Ausweitung der mittelbar von Moskau kontrollierten Gebiete im Donezbecken, wenn nicht sogar ein Versuch des Kremls, noch tiefer ins Landesinnere vorzudringen. Nur vor diesem Hintergrund sind die eigentlich absurden Vereinbarungen zu verstehen, bedeutet doch der in den Dokumenten festgehaltene „Sonderstatus“ für die derzeit militärisch okkupierten Territorien eine offizielle Belohnung russischer Aggression. Die verfassungsmäßige Umsetzung des „Sonderstatus’” wird daher nur in dem Falle realistisch werden, wenn er lediglich de jure, nicht jedoch de facto spezielle Rechte für die derzeit von Russland und seinen ostukrainischen Kollaborateuren besetzten Gebiete einräumt.
Die gesamte große, bislang noch nicht vollzogene Verfassungsreform zur Dezentralisierung ist ein – das wird oft im Western verkannt – sowohl von den Minsker Vereinbarungen als auch dem Assoziierungsabkommen mit der EU unabhängiges Projekt. Bedauerlicherweise wurde diese Reform jedoch 2015 mit dem notorischen Sonderstatus in einer umfassenden Verfassungsänderungsnovelle gebündelt. Dies war eine unglückliche, auf westlichen Druck bzw. russische „reflexive Kontrolle“ zustande gekommene Kombination. Da der Sonderstatus im Angesicht fortgesetzter russischer Kampfhandlungen in der Ukraine politisch nicht durchsetzbar ist, wird damit nun auch die ukrainische Dezentralisierung sabotiert. Das ist ganz im Sinne der Putinschen Kleptokratie, für welche die Beispielwirkung, die von einer erfolgreichen ukrainischen Dezentralisierung auf Russland ausgehen könnte, ein innenpolitisches Horrorszenario darstellt.
Trotz der noch fehlenden Verfassungsreform ist die Dezentralisierung der Ukraine in den vergangenen dreieinhalb Jahren fortgeschritten. So haben sich zahlreiche Kleinkommunen, wie von den Reformern empfohlen, in größere, effektivere Territorialgemeinden zusammengeschlossen. Bisher erfolgte die Gemeindeamalgamierung – und dies ist bemerkenswert – vollkommen freiwillig und dennoch mit erheblichem Tempo. Auch andere Teile des umfassenden Dezentralisierungspakets sind fortgeschritten und können als relative Erfolgsgeschichte seit Beginn der Verwaltungsreform im April 2014 gelten. Jedoch benötigt der erfolgreiche Abschluss der Erneuerung der lokalen Selbstverwaltung der Ukraine nun eine größere Verfassungsänderung, welche durch ihre Kombination mit der im Minsker Abkommen geforderten Gewährung des Sonderstatus’ für die okkupierten Gebiete seit 2015 blockiert ist.
Der Kreml, die sogenannten Separatisten und der ukrainische Nationalstaat
Der konsequenten Weigerung der ukrainischen Regierung, mit den prorussischen Separatisten direkt zu verhandeln, wird im Westen häufig ein negativer Einfluss auf eine mögliche Konfliktlösung zugeschrieben. Tatsächlich ist jedoch Kiew an einer wirklichen Beilegung der Konfrontation interessiert und will lediglich einer offensichtlichen Manipulation des Verhandlungsprozesses vorbeugen. Der Kreml möchte – und das ist für postsowjetische Politikbeobachter leicht durchschaubar – in der Ukraine wiederholen, was er schon zu Sowjetzeiten in annektierten Gebieten oder auch im postsowjetischen Tschetschenien betrieb: Er will die Diskussion um die Lösung des jeweiligen Konflikts in die Nation der von ihm de facto kontrollierten Territorien hineinverlegen und als angeblich unbeteiligter Dritter am Rande stehen. Diese „Tschetschenisierung“ oder auch „Ukrainisierung“ der Konfliktlösung ist für das Putinsystem nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen wichtig. Auf diese Weise kann der Kreml die Mär vom „Bürgerkrieg“ in den Konfliktgebieten aufrechterhalten und eine innerrussische Diskussion nationaler Verantwortung für die militärischen, paramilitärischen und Repressionsmaßnahmen seitens des russischen Staates und seiner Handlanger in der Ukraine unterdrücken.
Ein nachhaltiger Kompromiss zwischen den Konfliktparteien wird nicht von der Beziehung Kiews zu den Separatisten abhängig sein, sondern davon, ob und wann der Kreml ein Interesse an einer wirklichen Lösung des Donbasproblems entwickelt. Dieses Interesse wiederum wird in Moskau entstehen, wenn die Kosten einer fortwährenden Okkupation den politischen Gewinn ihrer Fortsetzung für Putin & Co. übersteigen. Sobald dieser Zustand erreicht wird, dürfte es eine schnelle Übereinkunft geben. Am wahrscheinlichsten scheint derzeit eine provisorische Administration und schwerbewaffnete Friedensmission der UNO (womöglich in Zusammenarbeit mit der OSZE und/oder EU) in den besetzten Gebieten. Diese Übergangsverwaltung könnte eine Demilitarisierung und Stabilisierung der Region sowie Kommunalwahlen ermöglichen. Nach einer Übergangszeit würde dann der ukrainische Staat mit all seinen Institutionen in die derzeit besetzten Gebiete zurückkehren.
Dies wird freilich nicht problemlos verlaufen. Die heute stattfindende Nationalstaatsbildung der Ukraine, welche andere moderne europäische Nationen vom 18. bis 20. Jahrhundert durchliefen, wird durch den Krieg Putins gegen die Ukrainer zwar in vieler Hinsicht beschleunigt. Leider fördert dieser Krieg aber auch eine zunehmende Zahl pathologischer Entwicklungen etwa in der ukrainischen Bildungs-, Sprachen- und Erinnerungspolitik. Hier müssen die EU, der Europarat, die OSZE und der Westen insgesamt ihren Einfluss geltend machen und die von der angespannten Kriegslage induzierten Übertreibungen so gut es geht eindämmen. Einige unglückliche Signale aus Kiew hatten es dem Kreml 2014 erleichtert, die Krimannexion und verdeckte Invasion im Donezbecken gegenüber dem heimischen und teils auch internationalen Publikum zu rechtfertigen.
Die teils befreiungsnationalistische Ausrichtung des Euromaidans war ein Faktor, der die verdeckte Intervention Moskaus auf der Krim und im Donezbecken begünstigte. Nichtsdestoweniger kann im Donbas nur sehr beschränkt von einem ukrainischen Bürgerkrieg im ursprünglichen Wortsinn die Rede sein. Hatte doch der russische Staat sowie seine irregulären Agenten auf dem Territorium der Ukraine seit Ende Februar 2014 entscheidenden Anteil an der Anstachelung, Finanzierung, Ausbreitung, Bewaffnung und Munitionierung der scheinbaren Volksaufstände des so genannten „Russischen Frühlings“ auf der Krim und im Donezbecken. Trotzdem verfängt bei vielen Russen und auch bei einigen westlichen Beobachtern der Propagandadiskurs der Kremlmedien von einem durch existenzielle innerukrainische Spannungen hervorgerufenen „Bruderkrieg“.
Die Tragikomik dieser Terminologie besteht darin, dass dies ein weit „brüderlicherer“ Krieg ist, als das viele in Russland vermuten beziehungsweise wahrhaben wollen. Die Verkehrssprache unter einem großen Teil der ukrainischen Truppen einschließlich der nationalistischen Freiwilligenverbände, die Kiew unterstehen, ist nicht Ukrainisch, sondern Russisch. In der Ostukraine kämpfen daher häufig Russischsprecher gegen Russischsprecher. Es gibt nicht wenige ethnisch russische ukrainische Staatsbürger auf der Kiewer Seite der Kämpfer, die für eine ukrainische politische Nation und wohl nicht für einen „ukrainischen Faschismus“ kämpfen, wie es in der russischen Propaganda und auch bei einigen prorussischen westlichen Beobachtern kolportiert wird.
Womöglich liegt in der breiten Beteiligung der russophonen Teile der Ukraine an der Landesverteidigung gegenüber Russland auch ein Schlüssel zu einer späteren Aussöhnung der beiden ostslawisch-orthodoxen Völker. In dem Maße wie in Russland bekannt wird, dass viele der ukrainischen Kämpfer und Opfer russischer Kriegsführung in der Ostukraine Russischsprecher bzw. sogar Russen sind, dürfte auch die Gutheißung der Moskauer „Hilfe“ für die Separatisten und der Kremlaktivitäten auf ukrainischem Territorium in der russischen Bevölkerung sinken. Mit wachsender Informiertheit, Reue und Scham der Russen über die ukrainischen Abenteuer ihrer Führung werden sich Möglichkeiten für eine schrittweise Versöhnung mit der Ukraine eröffnen.
[Eine Kurzversion des Artikels erschien zuerst auf der Webseite „Ukraine verstehen“ des Zentrums Liberale Moderne Berlin.
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