Am 20. Juli jährte sich der Tag des schrecklichen Mordes an Pawel Scheremet (ukrainisch Pawlo), dem bekannten Journalisten, unserem Kollegen und Freund. Vor einem Jahr wurde der Subaru, an dessen Steuer Scheremet saß, im Zentrum von Kyjiw gesprengt, an der Kreuzung der Bohdan-Chmelnyzkyj-Straße und Iwan-Franko-Straße.
Später stellte die Polizei fest, dass nah zum Fahrersitz des Subaru ein selbstgebauter Sprengsatz angebracht war, aus Teilen einer Antipersonenmine MON-50. Die damalige Verantwortliche der Nationalen Polizei Chatia Dekanoidse, die zum Ort des Geschehens kam, kündigte an, dass die Verfolgung des Mordes an Scheremet für sie Ehrensache sei (Dekanoidse lebt inzwischen wieder in Georgien, A.d.R.).
Der Präsident der Ukraine Petro Poroschenko nahm die Ermittlungen unter seine persönliche Aufsicht. „Es ist eine Frage unserer Ehre alle Mittel zu nutzen, sodass dieses Verbrechen in kürzester Zeit aufgeklärt wird“, sagte er in einer Beratung mit den Führungspersonen der Polizeikräfte direkt nach dem Mord an Scheremet. Ebenso nannte er bei seinem Auftritt auf dem Forum YES im Herbst 2016 die Verfolgung des Mordes einen wichtigen Test für die ukrainische Strafverfolgungsbehörde.
Doch bereits am 14. Mai dieses Jahres, während seiner letzten Pressekonferenz, gab Poroschenko zu, als er Journalisten in schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift „Wer tötete Pawel?“ vor sich sah, dass er ein besseres Ergebnis erwartet hatte. „Leider habe ich ein besseres Resultat erwartet. Ich bin nicht zufrieden, dass wir den Mörder bis jetzt nicht haben und er nicht zur Verantwortung gezogen wurde“, sagte der Präsident.
Die Ukrajinska Prawda erwartete ebenfalls von den Strafverfolgern und der ukrainischen Regierung keine Berichte, sondern gute und zuverlässige Arbeit. Ein Jahr später kennen weder die Journalisten noch die Gesellschaft das Mordmotiv, geschweige denn die Namen der Auftraggeber und der Ausführenden des Mordes an unserem Freund und Kollegen. Wir fordern weiterhin Ergebnisse von der Strafverfolgung und der ukrainischen Regierung. Weiter unten folgen hier die Kernfakten, die ein Jahr nach Scheremets Mord bekannt sind.
Installation des Sprengsatzes
Mit der Ermittlung in dem Mordfall Pawel Scheremet beschäftigt sich die Nationale Polizei der Ukraine mit Serhij Knjasjew [Serhii Kniaziev (offizielle englische Schreibung) A.d.Ü.] an der Spitze.
In dem Fall wurden fast 2.000 Personen befragt, darunter sind über 300 Augenzeugen der Explosion, Anwohner der umliegenden Häuser vom Ort der Tragödie. Die Ermittler verarbeiteten auch mehr als 150 Terabyte Informationen aus Überwachungskameras. Auf den Aufnahmen, die die Strafverfolger den Journalisten auf einer speziellen Pressekonferenz am 8. Juli demonstrierten ist zu sehen, dass der Sprengsatz in der Nacht vom 19. zum 20. Juli circa um 02:40 Uhr unter dem Auto, das der Chefin der Ukrajinska Prawda Olena Prytula gehört und an dessen Steuer dann Scheremet war, von einer Frau mit Kapuze installiert wurde. Ein Mann mit Basecap stand Wache.
Angefangen am 15. Juli 2016 hielten die Überwachungskameras einige merkwürdige Leute im Bereich des künftigen Ortes der Explosion fest. Diese Leute taten, als würden sie vorbeispazieren, betrachteten aber aufmerksam die Umgebung.
Am 18. Juli ungefähr um 09:07 Uhr morgens fotografierte eine Frau mit geschminktem Gesicht, dunklem T-Shirt und kurzen Jeanshosen im Vorbeigehen die Position der Überwachungskameras an den Häusern mit ihrem Handy ab.
Am 20. Juli um 05:51 Uhr morgens erfassten die Kameras an der Adresse Wjatscheslaw-Lypynskyj-Straße 5 eine Frau mit dunklen Haaren und Sonnenbrille, sie trug einen schwarzen Kapuzenpullover und kurze helle Hosen. Sie ging in Richtung der Iwan-Franko-Straße. Die Ermittler nehmen an, dass sich die Frau zu einem baufälligen Haus mit grünem Absperrzaun in der Iwan-Franko-Straße 17 begab, von wo aus sich der Autoverkehr bequem beobachten ließ und der Sprengsatz gezündet werden konnte.
Einige Minuten nach der Explosion steuerte dieselbe Frau mit schnellen Schritten die Lypynskyj-Straße entlang zurück, umging dann den Ort des Verbrechens entlang der Kozjubynskyj-Straße und stieg an der Station „Universität“ in die Metro.
Im Register gerichtlicher Beschlüsse findet man unzählige Anträge der Nationalen Polizei auf Zugang zu hunderten Handynummern, deren Besitzer sich zu unterschiedlichen Zeiten im Bereich des Detonationsortes von Scheremets Auto aufgehalten haben. Einer der interessantesten Beschlüsse ist die Einverständniserklärung des Gerichtes vom 16. August 2016 über den Zugang zu 41 Telefonnummern. Sie alle gehören Frauen, die Verbindungen zu Freiwilligenbataillonen haben. In dem Schreiben bestätigten die Vertreter der Nationalen Polizei, dass die Eigentümerinnen dieser Nummern mit dem Mord in Verbindung stehen könnten.
Der Faktor Ustymenko
Am 10. Mai präsentierten die recherchierenden Journalisten von „Slidstvo.info“ zusammen mit Kollegen des internationalen Netzwerks OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project A.d.Ü.) ihren eigenen Investigationsfilm bezüglich des Mordes am Journalisten Pawel Scheremet.
Die Journalisten zeigten neue Fakten des Verbrechens auf, die die offiziellen Ermittler entweder nicht bemerkt oder umgangen haben. Das Team entdeckte sechs neue Zeugen, die sich unweit des Verbrechens aufgehalten und die die Strafverfolger nicht befragt haben. Aus merkwürdigen Gründen befand sich unter ihnen der ehemalige Sicherheitsdienstmitarbeiter Ihor Ustymenko.
Im Film werden Aufnahmen von Überwachungskameras gezeigt, auf denen zu sehen ist, wie für einige Stunden vor der Installation des Sprengsatzes unter dem Subaru von Scheremet zwei Autos in der Iwan-Franko-Straße parkten, unweit vom Haus des Journalisten. Es handelt sich um einen weißen Mercedes, den die Überwachungskameras über die Distanz nicht erfassen konnten, und einen grauen Škoda, der sich näher an den Objektiven der anliegenden Gebäude befand. Bis zur Ankunft der wahrscheinlichen Mörder blieben die Fahrer der beiden Autos dort stehen, unterhielten sich in Abständen und gingen ein paar Male die Straße herunter in die Richtung von Scheremets Haus.
In dem Moment, da das verdächtige Paar, ein Mann und eine Frau, sich näherten, parkte der Fahrer des Škoda sein Auto schnell um in die Iwan-Franko-Straße und verschwand aus dem Sichtfeld der Überwachungskamera. Einem Experten des Netzwerks Bellingcat, der auf Video- und Bildanalyse spezialisiert ist, ist es gelungen, das Nummernschild des geheimnisvollen Škoda kenntlich zu machen. Es kam heraus, dass sich in dem Auto ein Mann namens Ihor Ustymenko befand.
Den Journalisten ist es gelungen Ustymenko zu finden, welcher bestätigte, in der Nacht vor der Ermordung in der Nähe von Scheremets Haus gewesen zu sein. „Das war damals so eine Arbeit, eine private Dienstleistung… da waren Minderjährige… Kinder. Das heißt wir fahren dahin… Um genau zu sein, ich fahre dahin… Sie haben angerufen, dass sie Hilfe brauchen. Ich fahre hin, erbringe meine private Dienstleistung, mehr nicht“, erklärte er den Journalisten undeutlich seine Anwesenheit.
Aus eigenen Quellen erfuhren die Rechercheure, dass nach dem Stand von 2014 Ustymenko für den Ukrainischen Sicherheitsdienst (SBU A.d.Ü.) gearbeitet hat. Als die Journalisten versuchten Ustymenko darauf direkt anzusprechen, verweigerte er die Antwort grundsätzlich.
Später schrieb Olena Hitljanska, Vertreterin des Sicherheitsdienstes, einen ziemlich oberflächlichen Beitrag auf Facebook, in dem sie erklärte, dass Ustymenko am 29. Mai 2014 aus dem Dienst entlassen wurde.
Wie die Autoren des Investigationsfilms „Der Mord an Pawlo“ angaben, haben sie Anfragen mit der Bitte, ihre Erkenntnisse zu kommentieren, an die Leitung des Sicherheitsdienstes der Ukraine, das Innenministerium, die Staatsanwaltschaft und den Präsidenten der Ukraine geschickt. Allerdings blieben alle Bitten erfolglos.
Die Anwesenheit des ehemaligen SBU-Mitarbeiters in der Nacht, als der Sprengsatz unter das Auto von Olena Prytula montiert wurde, verwundert offen gesagt. Im Herbst 2015 hatte die Chefin der Ukrajinska Prawda den Verdacht, dass sie überwacht wird. Unter den Fenstern ihres Hauses in der Iwan-Franko-Straße bemerkten sie und Scheremet verdächtige Personen, die in Autos saßen. Der Berater des Innenministers und Abgeordneter der Fraktion Volksfront Anton Heraschtschenko beruhigte sie damals, dass die Überwachung einem illegalen Casino galt.
Letztlich verursachte das Herauskommen des Filmes über Scheremet tatsächlich eine Reaktion der Regierung. Am 11. Mai berief der Chef der Nationalen Polizei Serhij Knjasjew alle im Fall Scheremet ermittelnden Personen ein, um ihre Fehler zu besprechen. Später stellte sich heraus, dass die offizielle Ermittlung das Video aus der Überwachungskamera, an das die Journalisten herangekommen waren, nicht ausgewählt hatte.
Jetzt treffen sich die Ermittler von Zeit zu Zeit mit den Machern von „Der Mord an Pawel“ und tauschen mit ihnen Informationen aus. „Zur Zeit können wir nicht veröffentlichen, was uns bekannt geworden ist. Ich kann nur sagen, dass einige Dinge, die wir nicht verstanden haben während wir an dem Film arbeiteten, nun klarer werden“, sagte die Journalistin von „Slidstvo.Info“ Anna Babinez. „Ich hatte persönlich den Eindruck, dass die Nationale Polizei die Mörder nicht kennt. Ich fragte Knjasjew direkt, warum der Mord nicht aufgeklärt ist. Er antwortete: Weil die Verbrecher nicht gefunden sind“, fügte sie hinzu.
Ebenfalls bestellte die Polizei Ihor Ustymenko nach Veröffentlichung des Films zum Verhör ein. Nach den Worten von Babinez berichteten die Ermittler den Machern von „Der Mord an Pawlo“, dass Ustymenko während der Befragung ausgesagt hatte, nicht Scheremet beobachtet zu haben, sondern minderjährige Personen, die nicht weit entfernt in einem Lokal waren. „Wen genau Herr Ustymenko beobachtet hat, ist nicht bekannt, aber, wie sie uns gesagt haben, gab es nur eine Befragung“, sagt die Journalistin.
Gründe für den Mord
Die Ermittler erwägen zugleich mehrere Versionen möglicher Motive für den Mord an Pawel Scheremet:- seine berufliche Tätigkeit in der Russischen Föderation und der Republik Weißrussland;
- Angriff auf die Chefin der „Ukrajinska Prawda „ Olena Prytula;
- kritische Publikationen Scheremets in der „Ukrajinska Prawda“ und Auftritte im Radio „Westi“ („Nachrichten“ A.d.Ü.);
- Versuch die Situation in der Ukraine zu destabilisieren;
- Konflikte im Privatleben von Scheremet in Zusammenhang mit der familiären, kommerziellen und finanziellen Lage.
Die vorrangige Vermutung in Bezug auf das Mordmotiv bleibt die journalistische Tätigkeit unseres Kollegen.
„Die journalistischen Recherchen, die nicht abgeschlossen wurden, verdienen Beachtung. Außerdem wird die Version mit der beruflichen Tätigkeit des Journalisten außerhalb der Ukraine in Betracht gezogen. Die Publikationen und die Sendung seiner Programme hatten einen kritischen Charakter gegenüber der aktuellen Regierung sowohl in Weißrussland als auch in Russland“, sagte Oleksandr Wakulenko, stellvertretender Chef der Nationalen Polizei, im Februar auf einer speziellen Pressekonferenz.
Im Juli-Bericht des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) (Commitee to Protect Journalists A.d.Ü.) existieren noch andere Versionen. Die Autoren des Berichts sind der Meinung, dass in den Mordfall Scheremet Vertreter der Regierungen von Weißrussland, Russland und auch der Ukraine oder radikale Nationalisten verwickelt sein könnten. In dem Bericht heißt es, die ukrainische Regierung oder radikale Nationalisten könnten in den Mord an dem Journalisten verwickelt sein, um eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen, zur Kontrolle über die unabhängigen Medien.
Als ebenso mögliche Motive werden Rache für seine Kritik am Durchbringen von Reformen, Kritik an der militärischen Formierung der Nationalisten und die kritische Erläuterung ukrainischer Regierungstätigkeiten in der Ukrajinska Prawda angesehen.
CPJ nimmt weiter an, dass die russische Regierung am Tod Scheremets interessiert gewesen sein könnte, zur Verbreitung von Schrecken und Destabilisierung in der Ukraine. Die Autoren richten ebenfalls die Aufmerksamkeit auf mögliche Rache für Scheremets Freundschaft mit dem russischen Oppositionellen Boris Nemzow, der im Februar 2015 getötet wurde.
In Bezug auf ein potenzielles Mordmotiv der weißrussischen Regierung erinnert CPJ an die langandauernde Feindschaft zwischen Scheremet und dem Präsidenten von Weißrussland Alexander Lukaschenko sowie die Kritik des Journalisten in seine Richtung. Außerdem war Scheremet der Gründer der Website Belorusskij Partisan (Weißrussischer Partisan), die die weißrussische Regierung kritisiert.
Interessant daran ist, dass im Bericht anklingt, dass die Nationale Polizei und das Innenministerium es ablehnten, direkt zu beantworten, ob Vertreter der ukrainischen Regierung oder ihr nahestehende Personen verdächtigt werden können, dieses Verbrechen begangen zu haben.
20. Juli 2017 // Roman Krawez
Quelle: Ukrajinska Prawda
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