In Polen haben Rechtsradikale eine ukrainische Flagge angezündet – und sofort wurden in der ukrainischen Öffentlichkeit Anschuldigungen an die Adresse des Nachbarlandes erhoben. Man sagte, Polen – das ist wie ein zweites Russland, die gleichen „Watnyky“ (wörtlich Wattejackenträger, von der russischen Opposition entlehnte abwertende Bezeichnung für Putin-Anhänger und Sowjetnostalgiker) und Imperialisten, die nur darauf warten, uns Galizien und Wolhynien wegzunehmen. Ich möchte daher an dieser Stelle absolut nicht über Polen reden, sondern über Russland in der Vorstellung der Ukrainer.
Vor einigen Jahren war ich mit Freunden auf einer Fahrradtour durch Wolhynien. In einem der Dörfer um Potschajiw ging ich zu einem Haus und bat dort um etwas Wasser. Dort lebte eine Frau mit ihren Kindern. Ich fragte sie, wo ihr Mann sei und sie antwortete, er sei irgendwo Geld verdienen. „Bei uns im Dorf fahren alle irgendwohin zum Arbeiten: Manche nach Kiew, andere nach Moskau und manche ins Ausland.“ Das sagte eine Frau aus Wolhynien, die zur Schule ging, als die Ukraine schon unabhängig war.
Beispiele dieser Einstellung gegenüber Russland gibt es viele. Ich habe sogar schon Leute getroffen, die einen Verwandten oder Freund bei der ATO (Antiterroristische Operation, offizielle ukrainische Bezeichnung für die Kampfhandlungen im Donbass) verloren haben, aber denen völlig unverständlich ist, warum man russische Waren boykottieren sollte. Russland – das sind doch „unsere“, na gut, sie haben dort ein paar Schrullen im Kopf, aber es sind doch „unsere“! Die Sprache ist verständlich, ihre Realität ist uns bekannt: Die Marschrutkas, die Hausverwaltungen, die Witze über Petka und Wassiliwanitsch (gemeint sind der sowjetische Bürgerkriegsheld Tschapajew und sein Adjutant A.d.R.), die Trickfilme, „Hase und Wolf“ und all das. Dem gewöhnlichen Mechaniker aus dem Gebiet bei Lemberg ist es leichter, sich mit seinem Kollegen von irgendwo bei Wladiwostok zu verständigen als mit jemandem von irgendwo bei Krakau (solange es nicht um Politik geht, natürlich). Die Gemeinschaft der Ukrainer, die in letzter Zeit aus der Ukraine nach Polen übergesiedelt sind, verkehren praktisch nicht mit der Gemeinschaft der ursprünglich ebenfalls ukrainischen Bevölkerungsteile in Przemyśl (polnische Stadt an der Grenze zur Ukraine, A.d.Ü..): Es sind verschiedene Kulturen, verschiedene Lebensweisen. Außer der griechisch-katholischen Kirche eint sie eigentlich wenig.
Die Vermessung der Welt ringsum mit dem „russischen“ Kurvenlineal ist dabei doch eine Farce. Polen – ein zweites Russland. Und Rumänien? Auch ein zweites Russland. Die Türkei auch. Und natürlich Serbien – das ist nun wirklich ein zweites Russland. Niemanden interessiert der wahre Stand der Dinge in unseren Nachbarländern: Da sind wir, da sind unsere Freunde und da ist Russland Nummer eins und dann sind da noch viele Russlands Nummer zwei. Und, natürlich, Informationen über diese Länder schöpft man aus russischsprachigen Massenmedien. Die russischsprachigen ukrainischen Massenmedien bedienen sich für ihre Informationen dabei der russischsprachigen russischen Massenmedien – mit der entsprechenden Behandlung der Inhalte und Themen. Sogar irgendwelche Bilderchen für die Nachrichten googelt man auf russisch – darum werden Nachrichten über Schneefälle in Kiew so oft mit Bildern von Schneeräumfahrzeugen in Moskau illustriert.
In technischer Hinsicht habe ich überhaupt nichts gegen das soziale Netzwerk „Vkontakte“ – es ist ein ganz nützliches, bequemes Instrument. Aber ihre geografische Verbreitung verweist ganz klar auf die Grenzen der „Russischen Welt“ – mit der Ukraine innerhalb dieser Grenzen. In den Dörfern nutzt die Jugend oft ausschließlich dieses Netzwerk, russischsprachige und russozentrische Inhalte formen das Weltbild der neuen Generation der Ukrainer. Kein Wunder, dass Trump in unseren Breiten als „amerikanischer Schirinowski“ verehrt wird – schließlich sind doch russische Politiker für den Durchschnittsukrainer „unsere“, und somit eine gängige Vergleichskategorie. Oder etwa auch die russischen Humoristen: „Du bist ja wie ein Sadornow / Petrosjan!“
Genau deswegen bin ich auch skeptisch, was eine Quote für ukrainischsprachige Lieder oder Bücher angeht. Die regulierte Ausbreitung ukrainischsprachiger Inhalte führt nicht automatisch zu einer größeren Entfernung von Russland. Hundert Prozent der einheimischen Fans von Okean Elsy verstehen russischsprachige Nachrichten genauso gut wie ukrainischsprachige.
Der Ausweg bereitet sich selbst. Die Ukraine kann nicht in einer Art Selbstisolation ihrer Weltsicht verharren und den Fokus ausschließlich auf die Beherrschung der eigenen Sprache und das Wissen um die eigene Geschichte und die eigene Kultur richten. In der gegenwärtigen Welt ist das gleichbedeutend mit einer faktischen Bindung an die Russische Welt – und sei es auch nur als deren antirussisches Element. Nicht zuletzt ist sogar der Mythos der blutrünstigen, antirussischen Huzulen nur eine Requisite der russischen Folklore.
Neben der Entwicklung der eigenen Identität muss die Ukraine ihren Bürgern die Welt öffnen. Und ganz besonders Europa. Es geht dabei nicht nur um die Erteilung von Visa. Eine billige, „russischsprachige“ Busreise nach Paris macht niemanden zum Europäer, eher umgekehrt. Wir brauchen ein völlig neues Konzept zur Vermittlung humanistischen Wissens in den Schulen. Die Geschichte der Ukraine muss gemeinsam mit der Geschichte Europas unterrichtet werden. Die Schüler müssen erfahren, in welchen internationalen Kontexten Jaroslaw der Weise und Masepa agiert haben, welche Prozesse im Osmanischen Reich abliefen, als die Saporoscher Kosaken den Türken in den Steppen am Schwarzen Meer standhielten, worauf die Gründer der Ukrainischen Volksrepublik hofften und die der Westukrainischen Volksrepublik und warum es ihnen nicht gelang, dass zu erreichen, was ihre Kollegen in anderen Ländern der Region erreichten.
Der Unterricht von Fremdsprachen muss Priorität haben. Klar, ich verstehe, dass Englisch schwerer zu beherrschen ist als Russisch – aber es ist eine unbedingte Voraussetzung für eine Trennung von Moskau. Schulabsolventen in den Dörfern sollten Englisch auf einem Niveau beherrschen, das ausreicht, um Informationen auf Englisch zu googlen – und nicht auf Russisch. Gleichzeitig sollte man den Unterricht der slawischen Sprachen fortführen – vor allem in polnisch und tschechisch. Ukrainer müssen mit dem Bewusstsein erzogen werden, dass Russland nicht unser einziger Nachbar ist und das Moskau nicht weniger Ausland ist als Warschau oder Prag.
Am Ende dessen müssen wir eine ganz andere Gesellschaft erhalten, die sich nicht nur um Russland, seine Politik, seine Kultur und seine Realität kreist. Eine Gesellschaft, die nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis die Ukraine als Teil Europas und der Welt versteht. In einer solchen Welt sagt niemand: „Ja, das funktioniert bei denen, aber bei uns wird so was niemals möglich sein.“ In einer solchen Welt wird man nicht glauben, dass jeder Terroranschlag in der Türkei oder in Ägypten vom russischen Geheimdienst organisiert wurde, um die Aufmerksamkeit vom Krieg im Donbass abzulenken. Und vor allem – in einer solchen Welt wird niemand Polen als „zweites Russland“ bezeichnen aufgrund einiger Marginalien.
Denn dieses „zweite Russland“ sind derzeit – wir. Und für uns ist es schon lange an der Zeit, wir selbst zu werden, den „Eisernen Vorhang“ in unseren Köpfen abzureißen und unsere russozentrische Sicht auf die Welt abzustreifen. Ich weiß, das ist schwer, denn unserer politischen Elite kommt das nicht sehr gelegen und für die Mehrheit unserer Bevölkerung ist es unverständlich. Wir müssen einfach verstehen, dass wir keinen anderen Ausweg haben.
18. November 2016 // Pawlo Subjuk
Quelle: Zaxid.net
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