Diese Tragödie konnte in den Zeiten der Zensur keinen Widerhall finden und kann es auch heute nicht, obwohl das vergleichsweise „freiere” Zeiten sind.
In den 60er Jahren hat man wenig über den Erdrutsch und die Überschwemmung von Kureniwka 1961 geschrieben. Dass der Sumpf innerhalb weniger Minuten ein ganzes Wohnviertel zerstörte, wissen bis heute nicht mal alle gebürtige Kiewer. Und so weiß auch kaum jemand, dass die Ursache dieser Tragödie mit ihren Tausenden von Toten nicht etwa in einer Naturkatastrophe lag, sondern in den absurden Entscheidungen der sowjetischen Regierung und in ihrer schlampigen Ausführung. Manche Historiker behaupten, dass sich die Geschichte bis auf das Massaker von Babyn Jar zurückverfolgen lässt.
Mein Großvater hat es mit eigenen Augen gesehen, und er war auch der erste, der mir davon erzählte. In den Zeitungen hätte es geheißen, etwa Hundert Menschen seien ums Leben gekommen, er aber glaubte nicht daran. Mein Großvater war ein Kiewer Fahrer und Tischler. Zu Sowjetzeiten hat er viel gearbeitet, und erst in den 90ern ging er in die Rente, sodass ihm wegen einer lausigen Pension ein ruhiges Alter verwehrt blieb.
Aber zurück zu Kureniwka: Großvater hatte es gesehen und konnte nicht glauben, dass insgesamt nur Hundert gestorben waren. Er hat es zwar nicht geglaubt, aber die Geheimhaltung der tatsächlichen Zahlen hielt er für normal. Es war ja sogar das Richtige, denn anders hätten die Ereignisse für Aufsehen gesorgt – die Panik hätte sich breit gemacht und das Vertrauen in die Regierung wäre gesunken.
Vor genau 25 Jahren kam es zur Katastrophe von Tschernobyl. Diese Katastrophe nennen wir noch einen Unfall, und die von Kureniwka – eine Tragödie. Doch beide Ereignisse haben einiges gemeinsam. An erster Stelle: die schlampige Bauweise. Sowohl das Kernkraftwerk Tschernobyl als auch der Damm von Kureniwka wurden entgegen allen internationalen Standards gebaut.
Wir wissen recht wenig darüber, wie der Damm zustande kam. Das Projekt hat man auf sowjetische Art angepackt: die in Moskau zuständigen Planer haben sich die Baustelle nicht mal angeschaut. Sie beschlossen, den Damm mit Lehm zu bauen anstatt mit Beton und ihn deutlich weniger breit und hoch zu machen, als es sich gehörte. Dann haben sich die Kiewer Angestellten beklagt, das sei Unsinn; aber die in Moskau Zuständigen waren bemüht, einen direkten Befehl von Nikita Chruschtschow fleißig umzusetzen. Außerdem haben sie das Wasserentlastungsystem ignoriert: die Überfalltrichter wurden nicht gereinigt (später hat man sie schlicht demontiert), und es gab dreimal weniger Entlastungsstollen, als vorgeschrieben. Dabei hat man zehn Jahre lang die Abfälle aus den Ziegelfabriken von Babyn Jar angesammelt, und das in drei Schichten statt einer wie vorgesehen – und zwar nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter. Als Ergebnis hat sich in der Schlucht ein Riesensee mit einem Volumen von über 4 Millionen Kubikmetern gebildet. Das alles ruft Bewunderung hervor: wie konnte der Damm überhaupt so lange halten?
Die Kiewer, die verstanden, was da los war, haben sich entsprechend geärgert und an die Behörden in Kiew und Moskau geschrieben – worauf sie nichtssagende Antworten erhielten. Die Anzahl solcher Briefe erhöhte sich, als der Damm einen Riss bekam und das Wasser monatelang dadurch sickerte. Es hat sogar Festnahmen und Verfahren gegen diejenigen gegeben, die behauptet haben, der Damm sei rissig.
Am 14. März 1961 um Mitternacht teilte der ukrainischsprachige Radiosender „Stimme Amerikas” mit, dass in Kiew der Damm in der Schlucht von Babyn Jar gebrochen sei, was zu zahlreichen Opfern geführt hätte. Die sowjetischen Medien dagegen verschwiegen, dass am 13. März um 9:20 der Damm, der die Abfälle aus den benachbarten Ziegelfabriken in der Schlucht hielt, dem Druck nicht mehr standhielt und zerbrach. Eine Welle aus Erde, Lehm und Wasser von der Höhe eines vierstöckigen Hauses überschwemmte innerhalb weniger Minuten das Wohnviertel Kureniwka, der etwa 70 Meter unterhalb lag.
Kurz darauf erschien in der Zeitung „Kiew am Abend” ein Artikel, in dem es hieß, bei einem Unfall seien 145 Menschen ums Leben gekommen. Tatsächlich schwankt die Zahl der Opfer von Kureniwka zwischen 1500 und 3000 Toten.
Aber warum hat es eigentlich diesen Damm gegeben? Brauchte man ihn wirklich? Es kursieren mehrere Versionen, die alle zusammengenommen die möglichst ganze Wahrheit über den verhängnisvollen Damm ergeben.
Erste Version: die „Bedürfnisse der Industrie”
Mit diesen „Bedürfnissen” – als „äußerste Not” im juristischen Sinne verstanden – gelang es der sowjetischen Obrigkeit, die meisten ihrer Verbrechen zu vertuschen. Von der Notwendigkeit einer Anlage für die Abfälle aus den Petrowsker Ziegelfabriken war erst dann die Rede, als man auf die ideologische Notwendigkeit der Zerstörung von Babyn Jar zu sprechen kam.
Zweite Version: die „ideologische Notwendigkeit”
Dreißig Jahre nach den Massenerschießungen von Juden und Kriegsgefangenen in Babyn Jar hat die Obrigkeit alles getan, um das Gedenken an eine der schrecklichsten Tragödien des Zweiten Weltkrieges aus der Welt zu schaffen. Die „Liquidierung von Babyn Jar” hat Nikita Chruschtschow persönlich bewilligt.
Es kam zu einer großen Auseinandersetzung zwischen den sowjetischen Intellektuellen und dem Staat. Ilja Ehrenburg war der erste, der sich für die Errichtung eines Denkmals in Babyn Jar aussprach – doch die antisemitische Politik der Regierung in den Jahren 1948-1953 schloss diese Möglichkeit aus. Zu ihnen gesellte sich später Wiktor Nekrassow. Noch vor der Katastrophe hatte er versucht, Babyn Jar zu retten, und bereits 1961 wollte er eine zweite Zerstörung des Ortes nicht zulassen und stieß den entscheidenden Kampf für die Errichtung des Denkmals an. Jedes Jahr am 29. September – dem Tag der Erschießungen – haben sich die Menschen in die Schlucht begeben. Von Jahr zu Jahr sind es mehr geworden. Innerhalb von nur 5 Jahren gelang gelang es Nekrassow, den sowjetischen Behörden ihre Zustimmung „abzuringen”. Den Gedenkstein haben dieselben Leute aufgestellt. Aber Nekrassow hatte sich inzwischen einen neuen Prozess zugezogen. Jetzt wurde ihm vorgeworfen, „zionistische Massenkundgebungen” „organisiert” zu haben. Wie man sieht, wurde das Dritte Reich von einem anderen Imperium besiegt, in dem die Prinzipien vom Antisemitismus und der Intoleranz ebenfalls zu den ideologischen Instrumenten des Staates gehörten – deshalb wollte man Babyn Jar um jeden Preis vernichten.
Dritte Version: Schutz vor Plünderungen
Während des Krieges haben die Nazis in Babyn Jar nahezu 100.000 Menschen erschossen. Die Leichen hat man direkt in der Schlucht gehäuft, die damals an einigen Stellen bis zu 150 Meter tief war. Jede Schicht hat man dann mit Kalk übergossen, sodass auf dem Grund von Babyn Jar mehrere Lagen „zubetonierter” Leichen lagen. Schon 1943 haben die Deutschen beim Rückzug versucht, die Leichen auszugraben und sie endgültig zu verbrennen, um die Asche zu verstreuen. Die Leichen, die die Deutschen zurückließen, hinterließen sie den Kiewern. Als der Krieg zu Ende war, sind manche nachts nach Babyn Jar gegangen und haben die erstarrten Schichten durchgegraben, Totenköpfe herauspickend auf der Suche nach Goldzähnen, die den Henkern während den Erschießungen nicht aufgefallen waren. Also beschloss die „weise” Sowjetführung, Babyn Jar zu zerstören und an der Stelle einen Park anzulegen. Als Fundament wollte man den Lehm aus den Petrowsker Fabriken verwenden.
Damals, 1943, haben Hitlers Armeen den Rückzug angetreten und versucht, die Spuren ihrer Taten zu beseitigen: sie verbrannten die Leichen von denen, die sie früher erschossen hatten – und das häufig bei abgetrennten Gliedmaßen, Kopf und Torso. Kaum waren 20 Jahre vergangen, da hat die sowjetische Regierung die Folgen ihrer Entscheidungen auf ähnliche Weise verschleiert. Schon wenige Stunden nach der Tragödie wurde die Erde fest, und die Militärapparatur vor Ort wäre beinahe stecken geblieben. Also hat man abgewartet, bis die schwere Maschinen in dem Lehm zu schaufeln begannen, und die Hände, Beine und Köpfe der dort gefangenen, aber noch lebendigen Menschen, zerlegten. Was danach geschah hat Tradition: bei all den Verbrechen und Opfern hat man sich die Hände in Unschuld waschen wollen, und das wiederum hat neue Verbrechen verlangt und neue Opfer. Die Baggerfahrer sind in Internierungslagern gelandet, sodass die meisten von ihnen nie von dem berichten durften, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten.
Großvater war kein Baggerfahrer. Dennoch habe ich mich viel mit dem beschäftigt, was dort passierte – so als hätte er diese fremde Leichen ausgegraben und als hätte man ihn deswegen nach Sibirien geschickt. Hätte er die ganz eigene Art, in der die Sowjetmaschine diese Menschen behandelte, gerechtfertigt, vielleicht als „äußerste Not”? Nach der Tragödie hat meine Mutter nur noch zwei Jahre gelebt. Ich stellte mir ein ähnliches Schicksal vor und bekam Angst.
Die Sowjetunion hat uns wertvolle Betriebe, Schulen und Fabriken gegeben – um den Preis von kostbaren Menschenleben und der ungelernten Lektionen aus der eigenen Geschichte. Wir sind zugleich Erben und Sklaven der sowjetischen Ordnung. Der Denkmal für die Opfer der Tragödie von Kureniwka wurde erst 2005, 15 Jahre nach der Unabhängigkeit, errichtet! Und die meisten Kiewer wissen weiterhin nichts von einer der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Jedes Jahr werden sie von einer Flut an Informationen über Grippeimpfungen überschwemmt – obwohl die weltweite Zahl der Grippe-Opfer selten so hoch ist, wie die derjenigen, die 1961 in der Katastrophe von Kureniwka bei Kiew ums Leben kamen.
13. April 2011 // Bohdan Lohwynenko
Quelle: Український Тиждень
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