Die ukrainischen Bürger haben Moralprobleme nie als besonders beunruhigend eingestuft. Aber die ukrainischen Parlamentarier haben ihnen schon immer ziemlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Auch jetzt stehen die Moral und ihre Einhaltung im Brennpunkt der Aufmerksamkeit von Abgeordneten verschiedenster Fraktionen, die den Gesetzentwurf „Über den Schutz der gesellschaftlichen Moral“ vorgelegt und schon in der ersten Lesung unterstützt haben.
In diesem Gesetzentwurf handelt es sich nicht nur um Moral und einen Ausschuss, der mit den öffentlichen Mitteln ihre Einhaltung prüfen soll, sondern auch um Einflusswerkzeuge.
Es ist eine für die Ukraine ziemlich typische Situation, wenn man den Schutz der öffentlichen moralischen Gesundheit als Aushängeschild benutzt, der für die öffentliche Hand Tür und Tor für jegliche Willkür in puncto Information öffnet.
In einem Land, in dem nicht selten mit doppelten Standards operiert wird, kann die Erlaubnis der ungerechtfertigten Kontrolle auf legislativer Ebene leicht zum unrechtmäßigen Druck auf die Medien führen, und auch zur wesentlichen Einschränkung des Informationszugangs.
Das Dokument ist so zusammengestellt, dass es sich in jedem Augenblick in einen Repressionsmechanismus zur Einschränkung der Redefreiheit umwandeln kann, ganz abgesehen von zahlreichen juristischen Nachteilen, die der Gesetzentwurf beinhaltet. Dahinter stecken einfach explosive Mechanismen, die den staatlichen Institutionen eine direkte Möglichkeit geben, sich in die Arbeit der Presse einzumischen.
Es beinhaltet eine ganze Reihe von Gefahren, die sowohl die Presse als auch jeden von uns betreffen.
Gefahr Nr. 1, die alle betrifft
Der Gesetzentwurf „Über den Schutz der gesellschaftlichen Moral“ will diejenigen zur Verantwortung ziehen, die Informationen verbreiten, welche „die gesellschaftliche Moral gefährden“. Dabei muss man aber anmerken, dass der Begriff „gesellschaftliche Moral“ zu abstrakt ist, um ein Kriterium für eine Verurteilung sein zu können.
Die Abstraktion von gesetzlichen Formulierungen eröffnet dem Staat auch die Möglichkeit, sich in die Rechte von jedem von uns einzumischen.
Einer der kürzesten Wege zum Missbrauch ist die nicht fundierte Vollmachtserweiterung der staatlichen Institutionen, die diese nach eigenem Ermessen nutzen können, unterstützt durch eine unpräzise Regelung im Gesetz und die Kontrolle durch eine staatliche Institution.
Gefahr Nr. 2: Einschränkung der Medienfreiheit
Artikel 10 Absatz 2 des Gesetzentwurfs legt Folgendes fest: Die Herausgabe von Printmedien, die für die Verbreitung von gesetzwidrigen Informationen verwendet werden sowie die Vorführung von moralgefährdenden Filmen, Sendungen, Informationsmaterialien, Bühnenveranstaltungen etc. werden durch richterlichen Beschluss eingestellt.
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Ein Grund für die Schließung von Massenmedien kann die Verbreitung der Informationen sein, die:
- Krieg, gewaltsame Änderung der Verfassungsordnung oder der territorialen Integrität der Ukraine, Terrorismus oder andere Erscheinungsformen von Verbrechen propagieren;
- Völkerhass, Rassenhass und Religionsfeindlichkeit, unter anderem Rassismus, Xenophobie, Ukrainephobie, Antisemitismus propagieren;
- Faschismus und Neofaschismus propagieren;
- eine Nation oder eine Person aufgrund von nationalen Merkmalen beleidigen;
- Respektlosigkeit gegenüber nationalen und religiösen Heiligtümern propagieren;
- eine Person erniedrigen; Geisteskranke, Senioren, Behinderte verspotten;
- den Konsum von Giftstoffen, Betäubungsmitteln, psychotropen Substanzen, Alkohol und Zigaretten propagieren;
- Gewalt und Brutalität propagieren;
- Prostitution, Kuppelei, Menschenhandel, Produktion und Verbreitung von Pornographie propagieren;
- Pornographie oder Kinderpornographie enthalten;
- Anzeigen über intime Treffen gegen Bezahlung sowie andere Arten der Verbreitung dieser Information beinhalten;
- Schimpfwörter in den Printmedien oder in den Fernseh- oder Radiosendungen benutzen, die zwischen 6:00 und 23:00 Uhr senden, mit der Ausnahme von Sendern mit begrenztem Zugang.
Kommentare sind hier überflüssig, denn heutzutage kann man viele Wörter in den Werken von berühmten Schriftstellern als Schimpfwörter betrachten. Viele Aussagen von Politikern kann man als Beleidigung der Nation oder als Propaganda der Respektlosigkeit gegenüber nationalen Heiligtümern interpretieren, unter denen jeder Mensch in der Ukraine etwas Anderes versteht. Diese Norm kann folglich fast zu jedem Printmedium angewendet werden, wenn das erwünscht ist.
Für Radio und Fernsehen gibt es auch viel Interessantes. Der Artikel 23 des Gesetzentwurfs sieht die Möglichkeit des Lizenzentzugs auf dem gesetzlichen Wege vor, wenn die Fernseh- oder Radiosender Sendungen ausstrahlen, die schreckliche oder entsetzliche Szenen beinhalten, mit der Ausnahme von Sendern mit beschränktem Zugang und der Sendezeit zwischen 23:00 und 6:00 Uhr.
Aber die Angstschwelle ist individuell. Und worin unterscheidet sich Schrecken von Entsetzen? Wer wird den Inhalt nach solchen abstrakten Kriterien beurteilen? Theoretisch kann jeder Fernsehsender Probleme wegen der nichtnächtlichen Ausstrahlung eines Thrillers bekommen.
Eigentlich haben die Autoren des Gesetzentwurfs die Frage zur Arbeitsniederlegung der Massenmedien unrechtmäßig zum Regelungsgegenstand des Gesetzes „Über den Schutz der gesellschaftlichen Moral“ gemacht.
Die Abgeordneten müssten wissen, dass die Frage über die Ausgabe und Entzug der Lizenzen für Fernseh- und Radioübertragung vom Gesetz „Über Fernseh- und Radioübertragung“ geregelt wird. Es stellt einen speziellen Rechtsakt dar, der die Beziehungen im Fernseh- und Radiobereich in der Ukraine regelt und ihre rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und organisatorischen Funktionierungsbedingungen reguliert.
Gefahr Nr. 3: Begrenzung der Internetfreiheit
Die größte Gefahr besteht darin, dass der Gesetzentwurf den Nationalen Ausschuss für gesellschaftliche Moral ermächtigt, den Zugang zu den elektronischen Informationsressourcen ohne Gerichtsbeschluss innerhalb von 24 Stunden zu beschränken.
Das heißt, der Ausschuss ist so eine wichtige Institution, dass er imstande ist, das Verfassungsrecht der Bürger für Rede- und Informationsfreiheit einzuschränken.
Wie bereits erwähnt, gefährden die gesellschaftliche Moral gemäß dem Dokument neben Xenophobie, Störungen der verfassungsmäßigen Ordnung und Pornographie auch Schimpfwörter sowie erotische Inhalte. Es ist sehr leicht folgende Situation vorzustellen, wenn einer auf der Webseite registrierter Benutzer absichtlich in den Kommentaren Schimpfwörter benutzt und das schon als Grund für den Moralausschuss dient, um die Webseite zu blockieren. Der Provider ist dann dazu verpflichtet!
Interessant ist auch, dass das Gesetz absolut keine Bestimmungskriterien für Schimpfwörter festlegt. Es hängt ausschließlich von der Entscheidung des Nationalen Ausschusses für gesellschaftliche Moral ab, ob die Lexik als Schimpfwort oder nicht angesehen werden soll.
Außerdem können aufgrund eines Gerichtsurteils ausländische Webseiten blockiert werden und Inhalte einer Webseite innerhalb von 24 Stunden gelöscht werden, wenn diese die gesellschaftliche Moral gefährdet.
Solche Ausschüsse und erst recht solche Einschränkung auf der legislativen Ebene sind absolut untypisch für demokratische Länder. Jedoch wie die Erfahrung von Weißrussland, Kasachstan und Russland zeigt, können eben solche „Moralmechanismen“ leicht für die Zensureinführung im Internet missbraucht werden.
Gemäß dem Gesetzentwurf soll die Vollmacht des Moralausschusses mit einem getrennten Gesetz geregelt werden, das momentan nicht existiert. Das heißt, damit dieses Gesetz im Fall seiner Verabschiedung irgendwie funktioniert, muss noch ein Gesetz über den Moralausschuss verabschiedet werden. Und da können weitere Überraschungen auftreten, denn es handelt sich um eine Struktur, deren Einfluss auf die Informationsverbreitung erheblich sein kann.
Anschließend muss man sagen, dass Probleme mit den für Kinder und einige Kategorien von Erwachsenen schädlichen Inhalten in den ukrainischen Massenmedien tatsächlich präsent sind. Aber in den Ländern mit entwickelter Demokratie bestehen keine Gesetze über den Moralschutz. Im postmodernen Zeitalter ist dieser Begriff einfach zu formlos und unbeständig.
Da gibt es Normen über den Minderjährigenschutz gegen schädliche Inhalte. Sie sind jedoch verständlich, weil sie deutlich verfasst werden oder weil es ein klares Verfahren zur Einschränkung bestimmter Inhalte gibt.
In der Ukraine aber gibt es weder das Erste noch das Zweite. Deswegen kann der neue Gesetzentwurf „Über den Schutz der gesellschaftlichen Moral“ gar nicht zu einem neuen Regelungsversuch der gesellschaftlichen Beziehungen werden, sondern eben zu einem guten Druckinstrument auf Massenmedien. Und das ist schon eine ziemlich spezifische „Moral“.
25. Oktober 2011 // Oksana Ivanziw, Roman Golowenko
Quelle: Ukrajinska Prawda
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