Verfolgt man die Meldungen auf Facebook, so sieht man, dass die Reaktion des politisch aktiven Teils der ukrainischen Gesellschaft auf die am 28. Januar verabschiedeten politischen Entscheidungen – nämlich die Aufhebung der „Diktaturgesetze“ und den Rücktritt der Asarow-Regierung – einen Konflikt zwischen den Prioritäten Menschenfreundlichkeit und bürgerliche Verantwortung einerseits und moralischer Maximalismus und revolutionäre Romantik andererseits zutage gebracht hat. Die Anhänger der ersteren Prioritäten haben sich gefreut, dass das Land, wie Petro Poroschenko es ausgedrückt hat, „einen Schritt vor dem Abgrund haltgemacht hat“, d. h., ein massenweises Blutvergießen, das möglicherweise einen Verlust der Souveränität zur Folge gehabt hätte, abgewendet wurde. Die Maximalisten dagegen ließen verlauten, dass es noch zu früh sei, sich zu freuen, einige schlussfolgerten gar, dass alles so schlecht sei wie noch nie, da die Machthabenden keine realen Schritte unternommen hätten, insbesondere keine Schritte, die man nicht im Handumdrehen wieder zurücknehmen könnte. Und überhaupt hätten doch die Jungs auf der Hruschewski-Straße doch nicht ihr Leben für eine Aufhebung von etwas gelassen, das sowieso illegal war. Wie überzeugend auch manchem die Argumente der Maximalisten scheinen mögen, so halte ich sie doch nicht nur als schädlich für eine Abwendung der immer noch realen Gefahr eines Blutvergießens, sondern auch für fehlerhaft im Hinblick auf die Möglichkeiten des politischen Prozesses, dessen einzige alternative eben doch ein Blutvergießen ist.
Natürlich ist die Rücknahme der Gesetze vom 16. Januar nicht mehr als eine Rückkehr zum Ausgangszustand, gegen welchen wir, die Leute vom Maidan, zuvor schon fast zwei Monate protestiert hatten – damals noch gewaltlos –, und der Rücktritt von Asarow hat selbst nach seiner Annahme durch Janukowytsch bisher noch nicht zu einem tatsächlichen Austausch der Minister Sachartschenko, Lukasch und anderen Helfershelfern des Diktators geführt. Aber die Rede ist ja von einem politischen Prozess, und so kann man kaum erwarten, dass diese Politiker sich an ihren Hosenträgern aufhängen werden! Und selbst wenn das plötzlich geschähe, so ist doch unbekannt, ob als Reaktion darauf nicht vielleicht die südöstlichen Oblaste ihre eigenen (Anti-)Volksräte proklamieren würden, die sich durchaus mit der Bitte um Schutz vor den „Europa- und Bandera-Nazis“ an Putin wenden könnten.
Deswegen stehen wir wie zuvor auf dem (erweiterten) Maidan, deswegen räumen wir die besetzten Verwaltungsgebäude nicht (aber wir besetzen auch keine neuen), und von der Forderung nach einer sofortigen und bedingungslosen Amnestie (und zwar nur für die Demonstranten, und nicht für ihre Peiniger) lassen wir nicht ab. Aber am Ende steht – ein Kompromiss! Man kann in die Verhandlungen mit Janukowytsch nicht mit der Forderung seines sofortigen Rücktritts gehen, egal wie angenehm sich dies vielleicht von der Bühne auf dem Maidan verkünden lässt. Man darf nicht erwarten, dass er sofort die Sonderpolizei „Berkut“ aus dem Stadtzentrum in Kiew abzieht oder gar auflöst, und wir von den Barrikaden nach Hause gehen, den endgültigen Sieg vor Augen. Entweder gibt es einen Kompromiss, oder es gibt einen kompromisslosen Krieg. Davon ist auch in dem Artikel der vier ehemaligen amerikanischen Botschafter in der New York Times die Rede. Die Botschafter rufen die westlichen Regierungen dazu auf, gleichzeitig zu Druck auf die ukrainischen Machthabenden und Oligarchen auch Druck auf die Opposition auszuüben, damit diese „Janukowytsch einen Ausweg aus der Situation lässt. Er ist immer noch in der Lage, der Polizei zu befehlen, gegen die Demonstranten vorzugehen. Das würde zweifelsohne seinen Abgang beschleunigen, es würde aber auch mehr Blutvergießen bedeuten und wäre eine große Gefahr für die Integrität der Ukraine.“
Daher ist es jetzt – nach der Freilassung der Gefangenen – das Wichtigste, so schnell wie möglich eine neue Regierung zu bilden, da sich nur so die alte Regierung auf der Mülldeponie (wenn schon leider nicht auf der Gefängnisbank) entsorgen lässt. Ferner wäre es nicht schlecht, wenn es sich um eine Koalitionsregierung oder eine außerparteiliche Regierung und nicht um eine im Kern oppositionelle Regierung handeln würde, damit die Tätigkeit der neuen Regierung, die vor dem Hintergrund der derzeitigen ökonomischen Lage sicherlich nicht besonders berauschend ausfallen wird, nicht die Aussichten der Opposition bei den nächsten Wahlen schmälert, und damit nicht eine von den Menschen im Osten als schmachvoll empfundene vollständige Übergabe der Macht in die Hände der „Bandera-Nazis“ diese Menschen in ein neues „Sewerodonezk“ (Ort im Gebiet Luhansk, in dem Ende November 2004 ein Kongress stattfand, auf dem eine mögliche Autonomie der Ost- und Südukraine diskutiert wurde, A.d.R.) auf dem treibt. Es wäre wünschenswert, wenn die Regierung von Herrn Poroschenko geführt würde, der trotz allem nicht als streng oppositionelle Persönlichkeit wahrgenommen wird. Natürlich darf man keinesfalls das Innenministerium, das Justizministerium oder das Finanzministerium an die Partei der Regionen abgeben, und auch auf das Wirtschaftsressort muss man sich ausreichend Einfluss verschaffen, um öffentliche Ausschreibungen „mit alternativlosem Ausgang“ und andere Formen der Mittelabzweigung blockieren zu können.
Gleichzeitig muss man Janukowytsch die Möglichkeit nehmen, eigenmächtig innerhalb einer Woche oder eines Monats die Regierung entlassen zu können, d. h., man muss in dem Erlass über Ernennung [der neuen Regierung] festhalten, dass diese bis zu Neuwahlen im Amt bleiben wird, und so schnell wie möglich den ersten von zwei notwendigen Beschlüssen über die Rückkehr zur Verfassung von 2004 verabschieden. Dadurch werden die Vollmachten des Präsidenten erheblich eingeschränkt. (Irgendwelche sonstigen detaillierten Revisionen sind erst nach einer Wiederherstellung der Verfassung von 2004 möglich). Ich bin einer Meinung mit Wolodymyr Dubrowsky, dass die Verfassung von 2004 nicht für ein brauchbares Gleichgewicht der Kräfte sorgt, aber ich halte an der Meinung fest, dass sie trotz allem viel förderlicher für eine Überwindung des Autoritarismus sein wird, zumal für eine Ausarbeitung eines optimalen Modells Monate, wenn nicht Jahre vonnöten sein werden. Da jedoch die Verfassung keine institutionellen Mechanismen geschaffen hat, die ihre willkürliche Abschaffung verhindern würden, ist eine Wiedereinsetzung dieser Verfassung allein zu wenig. Notwendig sind wesentliche Änderungen am Gerichtswesen, angefangen von einer Umformatierung (besser wäre natürlich eine Auflösung und Neubildung, doch das wird nicht klappen) des Verfassungsgerichts bis hin zu einer Änderung des Verfahrens zur Einsetzung und Abberufung von Richtern. Diese Änderungen müssen die Richter von ihrer totalen Abhängigkeit von der Exekutive befreien und ihnen die Möglichkeit nehmen, sich straflos von den Interessen derer leiten zu lassen, die am meisten bezahlen. Außerdem, das ist klar, muss ein neues Wahlgesetz her und Änderungen an der Besetzung der zentralen Wahlkommission – und dann kann man Neuwahlen abhalten. Wünschenswerterweise vorgezogene Neuwahlen, aber auch dies ist Gegenstand möglicher Verhandlungen.
Jene, die Willkürurteile über Protestierende und andere ungerechtfertigt Gefangengenommene gefällt haben, müssen nach dem Machtwechsel bestraft werden – gemeinsam mit denen, die diese Leute festgenommen, geschlagen, belastendes Material gegen sie gefälscht und falsche medizinische Diagnosen gestellt haben, um die Rache- und Willkürakte zu ermöglichen. Es kann natürlich sein, dass diese Leute nach Russland fliehen werden, das sie nicht ausliefern wird, obwohl die Ukraine dies natürlich fordern muss. Doch das ist eine Frage für später. Aber auf der Unterbindung neuer Repressionen (und nicht nur der Freilassung der bereits Verhafteten) müssen wir dringend und kategorisch bestehen. Je weiter wir uns vom Abgrund entfernen, desto wirksamer wird der vom Maidan ausgeübte Druck.
Ich weiß, dass man Tote nicht wieder lebendig machen kann. Aber keiner soll sagen, dass die Toten ihr Leben nicht dafür gelassen hätten, dass die Abgeordneten für die Beendigung der zuvor von ihnen selbst beschlossenen Willkür stimmen. Sie haben ihr Leben für eine geeinte und demokratische Ukraine gelassen, in der es kein Blutvergießen mehr gibt. Das, was wir erreicht haben, ist noch nicht ganz dieser Zustand, aber eine ein wenig größere Chance darauf, dass dieser Zustand schließlich erreicht wird.
29. Januar 2014 // Wolodymyr Kulyk
Quelle: Krytyka
Forumsdiskussionen
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
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lev in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Danke Bernd für deine Eindrücke. Ich fahre Ende Mai wieder für mehrere Wochen nach Lviv. Nicht um Urlaub zu machen, sondern in unsere Wohnung. Hatte sie ja vor dem Krieg, aufwendig saniert und möchte...“
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Hallo liebe Forengemeinde und Mitleser, ich bin gerade auf einem Kurztripp durch die Ukraine. Es ist wunderschön wieder hier zu sein. Es fehlen die Touristen, gestern habe ich einen persönlichen und...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Kurzer Bericht, hab dann doch den Wachwechsel erwischt, bei den Polen ging dann bestimmt 45 Minuten gar nix. Und dann wurde in zwei Schüben eingelassen, ich finde, dann ging es in einem guten Tempo voran....“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Bin jetzt da, 10 PKW vor mir, das ist akzeptabel, ist ja auch der 1.Mai. Bin zufrieden mit der Situation. @Frank Fahre immer noch ein schwarzes Auto... kennst doch meine Erfahrung mit der Polizei in UA...Kaffeebraun...“
Frank in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Probier doch einfach. Wenn der offen ist doch alles ok. Bin da glaube mal zurück drüber gefahren. War dann nur eine ewige Kurverei bis zur A4. Bin da aber eh erstmal bis Krakau. Kann natürlich auch...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Schade, dass es keine Info´s zu Zosin gibt, wer aber noch was weiß, bitte schreiben, ich fahre jetzt in 30 Minuten los und kann immer noch in ca. 10h bei einem Stopp nochmals nachlesen. Google Maps schickt...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Diesen Grenzübergang hatte ich schon auf dem Schirm, kenne ihn nur noch nicht. Kann jemand noch etwas zu Zosin sagen, wäre ja auch machbar oder lieber nicht? Vielen Dank Bernhard.“
bernhard1945 in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Hallo Bernd Es hängt etwas davon ab, wohin Du in Ukraine fahren möchtest. So wie es scheint möchtest Du (wie ich normalerweise) in Richtung Kiew fahren. Ich benütze deshalb seit Jahren den Übergang...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Ergänzend, möchte nach Luzk fahren, ist ja sicherlich nicht uninteressant für einen Ratschlag.“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
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„Zunächst möchte ich sagen, daß die PKP für die Sitzplatzzüge, die zum Beispiel von Kattowitz bis nach Przemysl fahren, die Preise nicht erhöht hat. Allgemein gilt die Polnische Staatsbahn eher als...“
MHG1023 in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
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JohannesTim in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
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