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Ukraine ohne Alternativen

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„Je näher man der Scylla ist, desto harmloser erscheint die Charybdis“, schrieb der englische Literat Arthur Koestler, ein Zeuge der großen, ideologischen Schlachten des XX. Jahrhunderts.

Je stärker der Druck auf Janukowitsch wird, desto lauter schallen die Schmähreden an die Adresse der „Protyvsychi (_Gegen-alle-Stimmer)“, die sich weigerten, das weniger Böse in Person Julia Timoschenkos zu unterstützen.

Haben sich die heutigen Regimegegner etwa geirrt, als sie nicht für Timoschenko gestimmt haben? Es gibt keine einheitliche Antwort auf diese Frage und es kann sie auch nicht geben, insofern das Verständnis vom mehr oder weniger Bösen hinreichend subjektiv ist. Das Entscheidende ist, die Risiken richtig zu bewerten, welche mit deinen persönlichen Prioritäten zusammenhängen.

Einige Vertreter des national-demokratischen Lagers haben sich heftig verrechnet. Sie waren überzeugt, dass der Führer der Partei der Regionen, ähnlich dem Beispiel Kutschmas 1994, seine russophilen Wähler verprellen und die humanitäre Politik die tatsächlichen Veränderungen nicht überstehen können würde.

Alles entwickelte sich genau im Gegenteil: Die Führungsmannschaft überspielt die wirtschaftlichen Misserfolge an der humanitären Front. Die Attacke der Russifikatoren wurde zum Schock für Frau Sabuschko (ukrainische Schriftstellerin, die dazu aufrief „Gegen alle“ zu stimmen) und ihre Gefolgsleute.

Der Eine von ihnen gibt seine Fehler gesenkten Hauptes zu, der Andere schweigt sich peinlich aus; in die Patsche sind aber die Einen wie die Anderen geraten. Denn die Anhänger Timoschenkos können ihnen mit vollem Recht ins Gesicht sagen: „Unter Julia hätte es so was nicht gegeben!“.

Allerdings stellten die national orientierten „Protyvsychi“, angeführt von Oksana Stefanowna (Sabuschko), nur einen kleinen Teil derer, die Janukowitsch zum Trotz nicht für Timoschenko stimmten.

Der Gefangene der sprachlichen, historischen und religiösen Probleme, welcher im Koordinatensystem „Ukraine – Anti-Ukraine“ lebt, kann sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass seine Landsleute andere Prioritäten haben, wie zum Beispiel Sozial- und Wirtschaftspolitik oder der Kampf gegen die Korruption.

Die vorhandenen Unterschiede zwischen Janukowitsch und Timoschenko übersehend, haben sich tausende Ukrainer geweigert, für die Favoriten im Präsidentenrennen zu stimmen: die Einen bevorzugten die letzte Spalte des Wahlzettels, die Anderen haben die Wahl überhaupt ignoriert.

Eben jene, und nicht Sabuschko und Co., haben den Ausgang der Wahlen entschieden. Es stellt sich die Frage, warum sich diese Bürger über ihre heutige Lage beklagen sollten?

Warum sollten Menschen, denen humanitäre Fetische gleichgültig sind, Timoschenko auf Grundlage des kleineren Übels unterstützen? Um der verletzten Intelligenz, die so sehr um die nationale Wiedergeburt bemüht ist, genehm zu sein?

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Wenn man den humanitären Sektor einmal ausklammern würde, wäre ein grundlegender Unterschied zwischen Janukowitsch und einem hypothetischen Regime Timoschenko tatsächlich kaum auszumachen.

Größenwahn und strategische Blindheit, Führerkult und eine korrumpierte Umgebung, Inkompetenz und Gesetzesübertretungen haben die Ukraine in Koexistenz in ihre heutige Lage geführt. Die Unausweichlichkeit aber ist das eigentlich traurige unserer Situation.

Es gab bei uns keine Alternativen zum präsidialen Autoritarismus. Nur naive Menschen können sich mit leeren Mantras wie „Janukowitsch ist nicht mehr so wie früher!“, „Die Ukrainer haben den Maidan durchlebt und erlauben niemandem, die Macht zu usurpieren!“ oder „Der Westen macht so was nicht mit!“ trösten.

Die Stabilität der Demokratie entwickelt sich nicht durch den guten Willen konkreter Politiker, nicht durch Meinungen aus dem Ausland und auch nicht durch die Zahl der Revolutionäre im Geiste. Demokratie – das sind exakte Spielregeln, und ihr Hauptwächter –das furchtlose und starke Gesetz!

Besäßen wir eine unabhängige, richterliche Macht, hätten die Regionalen keine solche Koalition zusammenzimmern und Janukowitsch die Vollmachten Kutschmas zurückgeben können. Aber das Rechtschaos, welches in der Ukraine herrscht, hat unsere vergängliche Demokratie völlig schutzlos gegenüber einem jeden starken Politiker gemacht, ob das nun Janukowitsch oder Timoschenko ist.

Eine weitergehende Zerstörung des Rechtssystems war ebenso unausweichlich. Machthaber, die aktiv Rechtsnormen übertreten, sind ein sehr schlechtes Zeichen. Aber eins ist noch schlimmer: Die Opponenten der Machthaber können nur schwerlich an die Gesetzlichkeit appellieren, weil sie diese Gesetzlichkeit selbst eifrig für ihre politischen Ziele geopfert haben.

Alles und Jeder ist von rechtlichem Nihilismus durchdrungen: Weißblaue und Orangene, Führer und Gefolgsleute, Staatsmänner und stille Philister. Die Mehrheit der Ukrainer hat sich längst damit abgefunden, dass das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts triumphiert; es begeistert nur eben nicht alle, dass sich die „Donezker“ als stärkste erwiesen haben.

Unter solchen Umständen wird die rechtliche Willkür wie eine Schneelawine wachsen. Jeder neue Fall wird als Absolution für zukünftige Gesetzlosigkeiten verstanden.

Die psychologische Barriere, die Kutschma noch zwang, gewisse Normen des rechtlichen Anstands zu wahren, wurde schon unter Juschtschenko erfolgreich überwunden.

Gestern hat man die Gesetzbücher mit einem Dietrich geöffnet, heute knackt man sie unzeremoniell mit der Brechstange.

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Als ebenso alternativlos erwies sich auch die Rückkehr der Ukraine in die russische Einflusssphäre. Wir haben den Zug in NATO und EU verpasst und der komfortable, euro-atlantische Express ist ohne uns abgefahren.

Auf der Welt herrscht eine neue geopolitische Realität, die bequemen Schemen der neunziger Jahre funktionieren nicht mehr und die Pragmatiker aus Washington und Brüssel rechneten die Ukraine zum alten Ballast, den man besser abwirft.

Unser Land steht dem energischen Nachbarn im Osten nun allein gegenüber, und wer immer der nächste Herr auf der Bankowaja (Sitz des Präsidenten) wird, wir wären zur raschen „Finnlandisierung“ verurteilt. Nun ja, auch in Finnland kann man nicht schlecht leben, wenn man seinen Urho Kekkonen hat – einen virtuosen Meister des diplomatischen Spiels. Die ukrainischen Staatsmänner eignen sich allerdings kaum für eine so verantwortungsvolle Rolle.

Schließlich noch ein unabwendbarer Schlag – die weitergehende Verschlechterung der sozial-ökonomischen Situation. Der Gürtel muss wieder enger geschnallt werden. Die populistische Attraktion hat sich erschöpft.

Im Laufe vieler Jahre haben die hiesigen Führer den Wählerfisch bestochen, aber niemand hat daran gedacht, sich eine Angel zuzulegen. Jetzt haben wir weder das Eine noch das Andere.

Nur einer bestimmten Seite die Schuld am heutigen Elend zu geben, wäre unsinnig: In den glücklichen Jahren vor der Krise haben es sowohl der jetzige Präsident als auch die jetzige Oppositionsführerin bis auf den Premierministerposten geschafft. Beide führten eine ähnlich kurzsichtige Politik – unter vollkommener Zustimmung der eigenen Wählerschaft.

Die ukrainische Führung ist daran gewöhnt, auf die helfende Hand aus dem Ausland zu hoffen. Aber heute arbeitet die globale Konjunktur gegen die Ukraine und wir können ihr keine adäquaten Spieler entgegenstellen.

Die Regionalen versichern dem Volk, dass an allem die orangenen Kanaillen Schuld wären und das Leben sich bald normalisieren würde. Ein hübsches Märchen. Die Opposition überzeugt ihre Mitbürger, dass an allem die Donezker Halunken Schuld wären und die Lage des Landes sich weiter verschlechtern würde, wenn man Janukowitsch nicht aus dem Amt brächte.

Das ist eine Schauergeschichte, aber die erbarmungslose Realität ist noch viel fürchterlicher.

Die Hauptprobleme der Ukraine werden durch vollkommen objektive Faktoren bestimmt und mit jedem Jahr bleiben unserer Elite weniger Möglichkeiten, die Situation zu beeinflussen.

Weltweite, ökonomische Rezession, geopolitische Veränderungen und natürlicher Verschleiß der sowjetischen Infrastruktur schränken die Ukraine in ihrer Manövrierfähigkeit wesentlich ein. Es wird immer schwieriger, dass langsame Abgleiten in den Abgrund zu verhindern, immer schwieriger, einen rettenden Ausweg zu finden.

Die wachsenden Herausforderungen und Bedrohungen verlangen von der Führungsmannschaft höchste Professionalität, aber in der Praxis verschlimmern Egoismus und Talentlosigkeit der Machthaber die ohnehin schon nicht einfache Lage der Ukraine weiter.

Die strenge Wirklichkeit nimmt unserem Land eine Alternative nach der anderen. Die Chancen auf Veränderungen verringern sich stetig, aber die ukrainische Elite vergibt diese so leichtsinnig und ungeschickt, als ob die Anzahl der Versuche unbegrenzt wäre.

Die Stunde, an der die letzte Chance verschenkt wird, ist nicht fern und dann werden wir alle – vom einfachen Bürger bis zum Präsidenten mit diktatorischen Vollmachten – zu hilflosen Statisten.
Aber das verstehen die Menschen, welche sich für die Herrscher der Ukraine halten, wohl kaum.

08. Oktober 2010 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke — Wörter: 1252

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