Faktoren und Folgen der ukrainischen Irrelevanz im öffentlichen Diskurs der Berliner Republik
Die Einstellung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber der postsowjetischen Ukraine leidet an fortgesetzter, teils an Gleichgültigkeit grenzender Ignoranz. Und dies, obwohl die Ukraine der größte vollständig in Europa gelegene Flächenstaat ist sowie eines der Hauptopfer der Operation Barbarossa und des Generalplans Ost war. Verhältnismäßig hat die Ukraine 1941-1944 – wie auch Belarus – sogar stärker unter deutscher Besatzung gelitten, als das heutige Russland, dessen Territorium nur teilweise besetzt wurde. Die niedrige Präsenz ukrainischer und belarussischer Belange in den deutschen Massenmedien, außenpolitischen Debatten und intellektuellen Diskursen hat wiederum Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger und Staatsbeamten der Bundesrepublik.
Das diplomatische und kulturpolitische Engagement Berlins in der postsowjetischen Ukraine ist – so muss vorausgeschickt werden – zweifelsohne hoch. So spielte das Auswärtige Amt 1989-1991 eine Vorreiterrolle bei der internationalen Anerkennung der damals entstehenden ukrainischen Staatlichkeit. Deutschland ist der nach den USA und Kanada drittgrößte bilaterale Geber von Hilfsgeldern sowie der – nach Zypern (als Steueroase postsowjetischer Oligarchen) – zweitgrößte Investor in der Ukraine. Die Deutsche Botschaft gilt als eine der kulturpolitisch engagiertesten Vertretung eines westlichen Staates in Kiew. Die Aktivitäten von Goethe-Institut und Deutschem Akademischen Austauschdienst (DAAD), der verschiedenen kommunalen, universitären und anderen Graswurzelpartnerschaften sowie der deutschen Stiftungen dürften in ihrer Summe größer als die jedes anderen westlichen Landes – womöglich gar Russlands – in der Ukraine sein. Circa 9.000 Ukrainer studieren an deutschen Hochschulen. Auf dem deutschen Buchmarkt ist neuerdings ukrainische Literatur gefragt, darunter die Werke solcher inzwischen bekannter Autoren wie Jurij Andruchowytsch, Serhij Shadan oder Andrej Kurkow. Andere Beispiele für die zunehmende Verflechtung unserer beiden Länder ließen sich anbringen.
Nach Einschätzung des Leipziger Zeithistorikers Wilfried Jilge hat sich darüber hinaus in den vergangenen Jahren der Kenntnisstand der diplomatischen und anderer Facheliten Deutschlands bezüglich der Ukraine merklich erhöht. Jilges Beobachtung nach spielen ukrainische Themen in deutschen spezialisierten Tagungen, Rundtischgesprächen und grenzüberschreitenden Projekten eine zunehmende Rolle. Doch sind dies letztlich nur Facetten, die einen engen Kreis osteuropabegeisterter Studierender, Intellektueller und Aktivisten erreichen. Insgesamt ist die Aufmerksamkeit der politischen Klasse Berlins wie auch die Qualität der Medienberichterstattung und öffentlichen Debatten sowie der Umfang akademischer Forschung zur Ukraine in Deutschland gering. Während Russland in den vergangenen zwanzig Jahren in den deutschen Nachrichten als auch im Dokumentar- und Kulturbereich präsenter geworden ist, bleibt die Ukraine ein exotisches bzw. Spezialthema. Die wenigen Berichte zur Ukraine dienen zudem manchmal eher zur Illustration allgemeiner postsowjetischer Problemlagen, als der Beleuchtung spezifisch ukrainischer Themen.
Anders als etwa in Nordamerika, wo es entsprechende Forschungsinstitute und Fachzeitschriften gibt, ist die Ukrainistik in Deutschland unterentwickelt. Die 1994 bei Beck erschienene „Kleine Geschichte der Ukraine“ des Wiener Osteuropahistorikers Andreas Kappeler war die bis dahin einzige wissenschaftliche Monographie eines deutschsprachigen Autors zur Entwicklung der ukrainischen Nation seit Johann Christian Engels Geschichte der Ukraine von 1796! Das Ukrainicum, die alljährliche Sommerschule für ukrainische Sprache, Kultur, Geschichte und Politik in Greifswald, ist eine begrüßenswerte und in Europa einmalige Initiative der Ernst-Moritz-Arndt Universität sowie des Krupp-Wissenschaftskollegs Greifswald. Das Ukrainicum erfüllt jedoch vor dem Hintergrund der allgemeinen Seltenheit von Lehr- und anderen Veranstaltungen zur Ukraine an deutschen Hochschulen und Kulturzentren eher eine Feigenblatt-, denn ernst zu nehmende gesellschaftliche Funktion.
Auch die Vor-Ort-Präsenz deutscher Geistes- und Sozialwissenschaften, welche ein besseres Verständnis der Ukraine in Deutschland befördern könnte, ist in der Ukraine unterdurchschnittlich. Zwar sind die erwähnten deutschen Kulturmittler rund ums Jahr in der Ukraine rührig. Anders als in Warschau und Moskau, gibt es in Kiew jedoch kein Deutsches Historisches Institut. Ebenfalls abwesend ist eine deutschsprachige Hochschule, die der Andrassy-Universität in Budapest oder der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty vergleichbar wäre. Auch ein Zentrum für Deutschland- und Europastudien, wie es sie zum Beispiel in St. Petersburg oder Breslau gibt, existiert in der Ukraine nicht. Einige wenige vom DAAD geförderte Studiengänge, Institutspartnerschaften und Sommerschulen verbessern das Bild nur marginal. Gegenüber der bemerkenswerten Vielfalt an institutionalisierten geistes- und sozialwissenschaftlichen Projekten mit Russland oder Polen, nimmt sich deutsche diesbezügliche Präsenz in der Ukraine bescheiden aus.
Während sich in Moskau dutzende Korrespondenten deutschsprachiger Medien tummeln, kann man die kontinuierlich in Kiew präsenten deutschen Journalisten an einer Hand abzählen. Das Gros der ohnedies spärlichen deutschen Ukraineberichterstattung findet vielmehr aus Warschau und Moskau statt. Spezialisierte deutsche Informationsdienste, wie die „Ukraine-Analysen“ (Bremen) oder „Ukraine-Nachrichten“ (Kiew) werden – im Gegensatz zu vergleichbaren Internetprojekten, wie den „Russland-Analysen“ (Bremen) oder „Russland-Aktuell“ (Moskau) – nur von einem engen Interessentenkreis genutzt. Sich mit der Ukraine befassende Organisationen, wie das Deutsch-Ukrainische Forum oder die Deutsche Assoziation der Ukrainisten sind im öffentlichen Leben der Bundesrepublik vernachlässigbare Größen.
Freilich hat die niedrige Präsenz der Ukraine in der europäischen viel mit den Unterlassungen und Fehlern in der Selbstdarstellung der Ukrainer zu tun. Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen fallen die ukrainischen Botschaften im politischen und kulturellen Leben der EU-Länder kaum ins Gewicht. Ukrainische Kultureinrichtungen, die dem Goethe-Institut oder British Council vergleichbar wären, gibt es nicht. Die meisten der wenigen ukrainischen Kulturangebote werden von der umfangreichen Diaspora emigrierter Ukrainer im EU-Raum zur Verfügung gestellt. Diese Aktivität kompensiert teilweise die Inaktivität des ukrainischen Staates im internationalen Kulturleben. Manchmal ist die aus verschiedenen Emigrantengenerationen bestehende Diaspora jedoch in sich zerstritten. Teils wird das Emigrantenmilieu von national orientierten Aktivisten dominiert, deren Gespür bezüglich der politischen und kulturellen Präferenzen ihrer neuen Heimatländer wenig entwickelt ist.
Im Ergebnis dieser und anderer Defekte verbinden die meisten Deutschen mit der Ukraine einige charakteristische Eigennamen, wie „Tschernobyl“, „Dynamo Kiew“, „Klitschko“, „Soljanka“, „Lemberg“ oder „Tymoschenko“. Selbst die politische und intellektuelle deutsche Elite hantiert – soweit sie sich überhaupt zur Ukraine äußert – oft mit Allgemeinplätzen und Stereotypen. Lediglich im Zusammenhang mit Großereignissen, wie der Orangen Revolution von 2004, dem Kiewer Eurovision-Wettbewerb von 2005 oder der Fußballeuropameisterschaft von 2012, taucht die Ukraine auf dem Radarschirm der deutschen Öffentlichkeit auf. Die Regel ist weitgehendes deutsches Desinteresse – teils gar Geringschätzung – für eines der Hauptopfer nazistischer Vernichtungspolitik.
Eindeutige Positionen der deutschen politischen Elite zu Schlüsselfragen ukrainischer Außenpolitik gibt es nicht. Charakteristischerweise enthalten die Parteiprogramme von zwei Koalitionspartnern der jetzigen Bundesregierung zu dieser Frage gegensätzliche Aussagen: Während das CSU-Programm eine europäische Perspektive für die Ukraine implizit, aber doch klar ausschließt, erkennt das FDP-Programm explizit einen möglichen künftigen Anspruch der Ukraine auf EU-Mitgliedschaft an. Das Programm von Bündnis 90/Die Grünen, der heute vielleicht „ukrainophilsten“ deutschen Partei, bestätigt dies indirekt ebenfalls. In den Programmen von CDU und SPD finden sich hingegen gar keine Positionen dazu. Wie auch in anderen westeuropäischen Staaten, figuriert die Ukraine im Bewusstsein der Öffentlichkeit Deutschlands als ein womöglich sympathisches, aber letztlich unberechenbares Sorgenkind bzw. undefinierbares Absprengsel des russischen Reiches mit unbekannter Vergangenheit, unverständlicher Sprache und unklarer Zukunft.
Dies könnte man als unproblematisch ansehen, wäre die Ukraine ein geopolitisch unbedeutender europäischer Staat. Tatsächlich stellt Kiew heute einen geostrategischen Angelpunkt Europas dar. Die Konsolidierung der postsowjetischen ukrainischen Staatlichkeit könnte angesichts wachsender innerer Spannungen in einem Misserfolg enden. Dies hätte gravierende, ja – bei einem Eingreifen Russlands – womöglich katastrophale Folgen für die europäische Sicherheitsstruktur. Angesichts derartiger Risiken erscheint eine stärkere Hinwendung der deutschen Politik, Journalistik, Zivilgesellschaft, Forschung usw. zur Ukraine überfällig.
Ein Kurzfassung erschien zuvor in der WELT. Eine ausführliche Version des Beitrages erscheint demnächst in der Zeitschrift OSTEUROPA.
Forumsdiskussionen
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„@lev dann wünsche ich Dir eine gute Reise, es war sehr schön in LVIV, muss unbedingt nochmals so eine Rundreise machen. Ich habe so wundervolle Menschen kennengelernt, ich bin zutiefst beeindruckt! Es...“
lev in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Danke Bernd für deine Eindrücke. Ich fahre Ende Mai wieder für mehrere Wochen nach Lviv. Nicht um Urlaub zu machen, sondern in unsere Wohnung. Hatte sie ja vor dem Krieg, aufwendig saniert und möchte...“
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Hallo liebe Forengemeinde und Mitleser, ich bin gerade auf einem Kurztripp durch die Ukraine. Es ist wunderschön wieder hier zu sein. Es fehlen die Touristen, gestern habe ich einen persönlichen und...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Kurzer Bericht, hab dann doch den Wachwechsel erwischt, bei den Polen ging dann bestimmt 45 Minuten gar nix. Und dann wurde in zwei Schüben eingelassen, ich finde, dann ging es in einem guten Tempo voran....“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Bin jetzt da, 10 PKW vor mir, das ist akzeptabel, ist ja auch der 1.Mai. Bin zufrieden mit der Situation. @Frank Fahre immer noch ein schwarzes Auto... kennst doch meine Erfahrung mit der Polizei in UA...Kaffeebraun...“
Frank in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Probier doch einfach. Wenn der offen ist doch alles ok. Bin da glaube mal zurück drüber gefahren. War dann nur eine ewige Kurverei bis zur A4. Bin da aber eh erstmal bis Krakau. Kann natürlich auch...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Schade, dass es keine Info´s zu Zosin gibt, wer aber noch was weiß, bitte schreiben, ich fahre jetzt in 30 Minuten los und kann immer noch in ca. 10h bei einem Stopp nochmals nachlesen. Google Maps schickt...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Diesen Grenzübergang hatte ich schon auf dem Schirm, kenne ihn nur noch nicht. Kann jemand noch etwas zu Zosin sagen, wäre ja auch machbar oder lieber nicht? Vielen Dank Bernhard.“
bernhard1945 in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Hallo Bernd Es hängt etwas davon ab, wohin Du in Ukraine fahren möchtest. So wie es scheint möchtest Du (wie ich normalerweise) in Richtung Kiew fahren. Ich benütze deshalb seit Jahren den Übergang...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Ergänzend, möchte nach Luzk fahren, ist ja sicherlich nicht uninteressant für einen Ratschlag.“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Möchte morgen über Nacht in die Ukraine fahren und plane die Ankunft an der Grenze sehr früh am Morgen. Fahre entweder über Polen oder ggf. über Tschechien, je nachdem was google maps empfiehlt. Normalerweise...“
Ahrens in Recht, Visa und Dokumente • Re: Visa D14
„Das ist ein simples D-Visum, wie man es auch in Deutschland für die Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung braucht. Man benötigt dazu keine Mindestaufenthaltszeit. Auch bei der Aufenthaltserlaubnis...“
JohannesTim in Berichte und Reisetipps • Mit dem Zug in die Ukraine
„Zunächst möchte ich sagen, daß die PKP für die Sitzplatzzüge, die zum Beispiel von Kattowitz bis nach Przemysl fahren, die Preise nicht erhöht hat. Allgemein gilt die Polnische Staatsbahn eher als...“
MHG1023 in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
„"Warum verlangt die PKP von den Fahrgästen solch einen Preis ?" - Weil sie es können ... Die Nachfrage dürfte weiter hoch sein und weil es keine vergleichbaren Alternativen gibt (Buslinien über Nacht...“
JohannesTim in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
„Die Polnische Staatseisenbahn PKP Intercity S.A. erhöhte für den Schlafwagen-Zug D 68 am 1. Februar 2025 die Fahrpreise um + 38 Prozent. : Vom Warschauer Ostbahnhof fährt abends um 17.49 Uhr der Schlafwagen-Zug...“
HelloMick in Hilfe und Rat • Brauchen Hilfe bei Diia Registrierung
„Hallo. Meine Ex-Frau ist schon über 22 Jahre in Deutschland. Jetzt benötigt sie einen Termin für das Konsulat. Aber es werden nur Termine über Diia vergeben. Kann uns jemand erklären wie das genau...“
Trick in Recht, Visa und Dokumente • Visa D14
„Hallo..... Ich benötige nochmals euer Schwarmwissen.... Bin seit Dezember letzten Jahres in der Ukraine verheiratet worden Jetzt meine Frage.....ich habe auf der Seite der ukrainischen Botschaft einen...“