Nach dem Maidan ist die Eurointegration zur primären „Klammer“ geworden. Um dieses Thema herum wird die öffentliche Rhetorik der Staatschefs ausgebildet; daraus schöpfen auch die loyalen Intellektuellen Sinn und Inspiration. Und am wichtigsten ist, dass es bezüglich der Eurointegration einen wackeligen gesellschaftlichen Konsens gibt: Den EU-Beitritt unterstützen etwas mehr als 46 Prozent der Bevölkerung. Tatsächlich ist das einer der wichtigsten Grundpfeiler der politischen Stabilität unserer zerrütteten und zerstreuten Gesellschaft. Deswegen pflegt die Staatsmacht so sorgfältig den ukrainischen Eurotraum – denn sollte er weg sein, kann das politische System wieder in allen Fugen krachen.
Generallinie
Es ist nicht schwierig, die Quellen der Euroideologie zu verfolgen. Die ideologische Spaltung, an der die Ukraine seit 2004 krankt, stellte die Frage der Eurointegration in den Rang der Entscheidenden. Zumindest diskutierten die ukrainischen Eliten darüber am liebsten im Unterschied zu sozialen Fragen. Der Euromaidan, der zur Verteidigung der Eurointegration begann, änderte seinen Inhalt nach der brutalen Verprügelung der Studenten. Die Geopolitik rückte in den Hintergrund und in den Vordergrund trat das Verlangen der gerechten Bestrafung von Janukowytsch und seinen Komplizen. Aber nach der Niederlage des Regimes wollte die neue Staatsmacht den Widerstand gegen das Regime vergessen und der Revolution den geopolitischen Akzent wiedergeben.
So wurden der Maidan und seine Opfer zu einem Auftakt der Großen Geopolitischen Wendung. Die erfolgreiche Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU festigte die Stellung und trug im wesentlichen zur Etablierung der neuen Staatsmacht bei. Seither verleiht die Bewegung Richtung Europa der ganzen ukrainischen Politik ihren Sinn – die Eurointegration ist das Hauptkriterium unserer Erfolge und Misserfolge geworden, und was besonders wichtig ist, sie ist das Kriterium der Erfolge und Misserfolge der jetzigen Staatsmacht. In der Tat ist die Eurointegration zu einer universalen Rechtfertigung der Aktivitäten der Regierung geworden. Die Politik des Gürtel-enger-Schnallens, die Kürzungen der Sozialbudgets und andere unpopuläre Reformen — alle Mittel heiligt der strahlende „europäische“ Zweck.
Die Rhetorik der Bürokraten ist sattsam bekannt, vor allem der Generation, der noch das Leben im Kommunismus versprochen wurde. Aber das Assoziierungsabkommen ist nur ein Zwischenpunkt auf dem Weg zum europäischen Glück. Die nächste Bestätigung der Richtigkeit des Kurses muss die Einführung des visafreien Regimes mit der EU sein. Die Visafreiheit wird zu einer Rechtfertigung der Regierungspolitik der vergangenen zwei Jahre und zugleich können die Chefs des Landes auf eine Rettung ihrer Umfragewerte hoffen. Genau deswegen wird die Verzögerung der Visafreiheit so schmerzhaft in Kyjiw wahrgenommen. Mit der Visafreiheit bekommt die Staatsmacht das Gegenargument für 76 Prozent Ukrainer, die meinen, dass das Land in die falsche Richtung geführt wird.
Einen großen Dienst erweist Moskau, auf dessen Aggression man alles abschreiben kann, was vom Eurotraum nicht kompensiert wird. Manipulierend mit diesen zwei Faktoren, surft die ukrainische Staatsmacht erfolgreich auf den Wellen der gesellschaftlichen Empörung. Der Situation nach urteilend, die um die Ukraine entstanden ist, weicht die Elite nicht vom Weg der Eurointegration ab. Erstens ist die Elite es gewöhnt mit den gewohnten geopolitischen Themen seit Jahrzehnten zu hantieren und zweitens warnt die Erfahrung des vorigen Regimes vor scharfen Wendungen. Jedoch kann am Ende auf die Staatsmacht eine große Überraschung warten.
Volksträume
Der Durchbruch in die helle europäische Zukunft ist ein sehr starkes mobilisierendes Thema. Aber es braucht stets konkrete Errungenschaften. Gestern war das die Assoziierung, heute das visafreie Regime, und morgen die vollwertige Mitgliedschaft in der EU. Am Beispiel der Türkei wissen wir, dass der Weg von der Assoziierung zur Mitgliedschaft länger sein kann, als der für eine Schnecke zum Berg Fuji. Für ein politisches Regime, das um die Eurointegration konstruiert wurde, kann es sich als eine große Herausforderung erweisen. Wie es in der Praxis aussehen wird, ist nicht schwierig sich vorzustellen. Es reicht zu schauen, wie die Gesellschaft und die politischen Kreise auf die Verzögerung des „Minsker Prozesses“ reagieren.
Allerdings erwarten die größten Herausforderungen die Ukraine am Ende des Weges, wenn der Eurotraum endlich in Erfüllung geht. Im Unterschied zu den Intellektuellen und der Mehrheit der Meinungsführer haben die einfachen Ukrainer ziemlich pragmatische Erwartungen bezüglich der Eurointegration. Als erster Punkt ist das die Reisefreiheit in die Ländern Europas (lies einfachere Arbeitssuche im Ausland), als zweiter Punkt – die Verbesserung des Lebensniveaus, als dritter – Zugang für Jugendliche zum Studium im Ausland. Ein wesentlicher Teil der Eurooptimisten erwartet auch eine Beschleunigung der Binnenreformen in der Ukraine.
Es ist kein Geheimnis, dass die Staatsmacht diese Träume aktiv durch Versprechungen von neuen Horizonten und Perspektiven speist. Aber auch die Gesellschaft selbst (zumindest ihr aktiver Teil) beschäftigt sich seit vielen Jahren mit autogenem Training zum Thema der glänzenden europäischen Perspektiven der Ukraine. Aber wenn die Träume sich nicht erfüllen, erwartet die Ukraine das Debüt der Euroskeptiker, die die Enttäuschung in ihr eigenes politisches Kapitel umsetzen. Geht man davon aus, dass die Zahl der EU-Anhänger in der Ukraine schon jetzt geringer wird, gibt es den begründeten Verdacht, dass es doch nicht so schwer wird, die primäre ukrainische „Klammer“ zu lösen.
Die einzige Art, sich dagegen zu versichern, ist aufzuhören Illusionen zu pflegen und die Tagesordnung zu einer realistischeren zu ändern. Das wird auf keinen Fall helfen Herausforderungen in der Zukunft zu vermeiden, aber es kann ihre sozialen und politischen Folgen abmildern. Aber dafür muss die ukrainische Elite ihren wichtigsten Trumpf im unendlichen Dummkopf-Spiel mit der Gesellschaft opfern. Und genau diese Perspektive scheint kaum wahrscheinlich.
26. Juni 2016 // Hryhorij Schwez
Quelle: Zaxid.net
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