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Warum Putin eskaliert, aber doch nicht in den Krieg ziehen könnte

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Andreas Umland: Warum Putin eskaliert, aber doch nicht in den Krieg ziehen könnte

Russland und die Ukraine stehen möglicherweise am Rande eines offenen und großen zwischenstaatlichen Krieges. Er könnte im schlimmsten Fall ein im Nachkriegseuropa nie dagewesenes Ausmaß erreichen. Die beiden territorial größten europäischen Staaten sind beide militärische Schwergewichte. Russlands konventionelle Streitkräfte übertreffen die der Ukraine freilich sowohl quantitativ als auch qualitativ bei weitem. Zudem ist Russland eine nukleare Supermacht, während die Ukraine ein Nichtkernwaffenstaat ist, dem der Atomwaffensperrvertrag den Erwerb von Nuklearsprengköpfen untersagt.

Dennoch hat die Ukraine in den letzten sieben Jahren eine beachtliche konventionelle Armee aufgebaut, die kampferprobt ist. Die ukrainischen Streitkräfte sind jetzt teilweise mit modernen High-Tech-Waffen ausgestattet – sowohl aus ukrainischer Produktion als auch aus dem Ausland. Im Falle einer Eskalation würden sie durch weitere westliche Waffen und Geheimdienstinformationen unterstützt werden. Angesichts dieser Faktoren ist es unklar, ob Russland so leicht und schnell einen offensichtlichen Sieg erringen könnte, wie dies etwa im russisch-georgischen Fünftagekrieg im August 2008 der Fall war.

Darüber hinaus ist ungewiss, wie die westliche und russische Öffentlichkeit auf einen solchen Krieg reagieren würden. Die Erfahrungen der Vergangenheit scheinen darauf hinzudeuten, dass viele Russen erfolgreiche Gebietsexpansionen befürworten. Russlands unverblümte Besetzung eines Fünftels des georgischen Territoriums im Jahr 2008 und die offizielle Annexion der Krim im Jahr 2014 waren beide im Volk Russlands beliebt. Sie verstärkten die Unterstützung für Putins Regime und antiwestlichen Gefühle.

Schlimmer noch: Die Reaktionen des Westens auf Russlands Südexpansion waren erstaunlich zurückhaltend. Im Jahr 2008 wurden keinerlei nennenswerten Sanktionen gegen Moskau verhängt. Merkwürdigerweise verbesserten sich die russisch-westlichen Beziehungen stattdessen nach dem Krieg und der Teilbesetzung Georgiens. Im Jahr 2014 wurden Russlands offene Annexion der Krim und verdeckte Intervention im Donbass zunächst mit geringfügigen Sanktionen geahndet. Deren begrenzte Wirkung ermutigte den Kreml zu weiterer Eskalation.

Zwar verhängte die EU im Sommer 2014 endlich einige (wenn auch nur moderate) sektorale Sanktionen gegen Moskau. Sie waren jedoch offensichtlich eine Reaktion auf die Tötung von über 200 EU-Bürgern an Bord des Fluges MH17 der Malaysian Airlines, den eine russische reguläre Armeeeinheit am 17. Juli 2014 über der Ostukraine abgeschossen hatte. Dies könnte Putin & Co. suggerieren, dass russische territoriale Expansion für den Westen kein großes Problem darstellt. Der Kreml muss nur verhindern, dass EU-Bürger in größerer Zahl umgebracht werden.

Was kann die Ukraine heute angesichts von Moskaus Abenteuern 2008 und 2014 tun? Die Schlüsselvariable, die sowohl das dargelegte vergangene als auch mögliche künftige Verhalten Moskaus bestimmt, sind die relativen Kosten militärischer Eskalationen und die öffentliche Bewertung dieser Kosten in Russland. Die materiellen und menschlichen Verluste im Ergebnis von Moskaus Eskapaden 2008 und 2014 erschienen damals und erscheinen auch heute noch vielen Russen als verhältnismäßig gering.

Was Moskaus Georgien-Operation 2008 betrifft, so waren und blieben sie ganz objektiv gering. Im Falle des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde der deutlich höhere Preis von der russischen Öffentlichkeit auch als erträglich wahrgenommen. Die Auswirkungen des nationalen Triumphs von 2014, als Putin die schöne Halbinsel Krim im Handstreich eroberte, sind noch heute zu spüren. Viele Russen tolerieren angesichts der Krim-Annexion die anhaltende sozioökonomische Stagnation Russlands, die unter anderem auf das 2014 errichtete westliche Sanktionsregime zurückzuführen ist.

Das Verhalten des Kremls war daher sowohl 2008 als auch 2014 in gewissem Sinne rational. Die expansionistischen Aggressionen erhöhten die öffentliche Unterstützung für Putins Regime und verringerten die Popularität des Westens. Gleichzeitig hielten sich die politischen und finanziellen Kosten für Putins Regime in Grenzen. Man kann nur spekulieren, dass die Entscheidungsträger im Kreml beide Auswirkungen – sowohl die großen und unmittelbaren innenpolitischen Gewinne als auch die geringen oder gedämpften außenwirtschaftlichen Verluste – erwartet haben. Aus ihrer Sicht wäre es eine Unterlassungssünde gewesen, die Gelegenheiten, die sich im August 2018 in Georgien und im Februar 2014 in der Ukraine boten, nicht entschlossen zu nutzen.

Die Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit für das Verhalten der Ukraine und des Westens in der aktuellen Situation sind dreierlei Natur. Erstens sollten die Regierung und Gesellschaft der Ukraine darauf achten eine Situation zu vermeiden, die vom Kreml nach außen und gegenüber der russischen Bevölkerung als Casus Belli dargestellt werden und den Eindruck innerukrainischer Schwäche erwecken könnten. Kiew muss innenpolitische Konflikte vermeiden, die zu Instabilität führen könnten, welche der Kreml nutzen könnte.

Zweitens müssen der ukrainische Staat und die ukrainische Nation Moskau unmissverständlich signalisieren, dass sie bereit und geeint sind, auch einen großen Krieg von Anfang bis Ende auszutragen. Der Kreml sollte den Eindruck gewinnen, dass eine erneute russische Invasion, anders als im Fall der Krim 2014, sofortigen und entschlossenen militärischen Widerstand auslösen wird und dass es keinen voreiligen Waffenstillstand zu welchen Bedingungen auch immer geben wird, wie in Georgien 2008.

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Drittens muss der Westen über öffentliche und nicht-öffentliche Kanäle seine Bereitschaft kommunizieren, Sanktionen zu verhängen, die mehr als nur symbolisch sind. Insbesondere müsste die EU einen Weg finden, öffentlich zu beschließen und plausibel zu signalisieren, dass sie nicht erst wieder auf eine russische Massentötung von EU-Bürgern warten wird, bevor zusätzliche sektorale Sanktionen verhängt werden. Es wird nicht leicht sein, eine solche einheitliche Entscheidung aller 27 Mitgliedsstaaten zu erreichen. Die Spitzenbeamten der EU sollten ihr Möglichstes tun, um eine solche Einigkeit mit Unterstützung interessierter Mitgliedstaaten zu erreichen. Leider ist das putinkritische Vereinigte Königreich nicht mehr Mitglied. Polen, der größte Fürsprecher der Ukraine in der EU, wird durch einen hausgemachten Konflikt mit Brüssel behindert. Die Ukraine wird daher auf andere Mitglieder der Union angewiesen sein und darauf, dass sie eine Führungsrolle bei der Anregung und Durchsetzung von Sanktionen übernehmen.

Auch wenn die Lage düster aussieht, ist noch nicht alles verloren. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den derzeitigen Spannungen und denen vor Moskaus Angriffen auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 besteht darin, dass die sozioökonomischen Aussichten Russlands heute schlecht sind. Die russische Bevölkerung will im Prinzip keinen Krieg mit der Ukraine. Auch sind die Russen heute vielleicht weniger geneigt, sich auf ausländische Abenteuer einzulassen als in Zeiten relativen wirtschaftlichen Erfolgs. Wenn die Ukraine und der Westen einen kühlen Kopf bewahren und genügend Entschlossenheit zeigen, kann ein neuer großer Krieg vermieden werden.

Autor:    — Wörter: 986

Dr. Andreas Umland (1967) ist seit 2010 Dozent am Fachbereich Politikwissenschaft der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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