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Vorwärts in die Vergangenheit: Die ukrainische Verfassungsreform von 2004 wurde zurückgenommen

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Die ukrainische Verfassungsreform von 2004 stärkte die Macht des Parlaments. Seit Oktober 2010, gilt nun wieder die Verfassung von 1996. War die orange Revolution 2004 umsonst?

von Kyryl Savin, Andreas Stein und Alexander Vorbrugg

Die Macht- und Kontrollverhältnisse zwischen Staatspräsidenten, Regierung und Parlament (Werchowna Rada) waren seit der Unabhängigkeit der Ukraine umstritten gewesen, was das Regierungssystem insgesamt destabilisiert hat. Dies spiegelt sich auch im wiederholten Ringen um Änderungen der Verfassung nieder. 1996 wurde die bis dahin in abgeänderter Form gültige Verfassung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik durch eine Version abgelöst, die ein präsidial geprägtes Regierungssystem festschrieb. Dagegen stärkte die reformierte Fassung von 2004, die bis September dieses Jahres in Kraft gewesen war, die Macht des Parlaments.

Wiktor Janukowytsch und seine Partei der Regionen hatten bereits sehr bald nach der Präsidentschaftswahl im Februar 2010 de facto fast die gesamte Staatsmacht in der Ukraine konsolidiert. Selbst die Legislative steht nach der sogenannten Reform des Gerichtswesens unter der Kontrolle der Partei der Regionen. Doch das scheint dem Präsidenten und seiner engsten Umgebung nicht genug zu sein: nach der Rücknahme der Verfassungsreform von 2004 Anfang Oktober geht es nun um die gesetzliche Ausgestaltung eines präsidialen Regierungssystems in der Ukraine.

Nach etlichen Anläufen: zurück zur Verfassung von 1996

Auf verschiedenen Wegen hatte Janukowytsch versucht, die Verfassungsreform von 2004 rückgängig zu machen. Noch vor der Sommerpause hatte er dem Parlament einen Gesetzentwurf über Referenden in der Ukraine vorgelegt, der eine Verfassungsänderung bzw. die Rücknahme einer Verfassungsänderung per Volksreferendum ermöglicht hätte. Dieses Vorhaben ist aber grandios gescheitert, da die Kommunisten und der Lytwyn-Block dem umstrittenen Gesetz nicht zustimmen wollten.

Mit dem Beginn der politischen Herbstsaison setzte Janukowytsch auf das Verfassungsgericht der Ukraine (VerfG), welches jegliche Verfassungsänderung vor Inkrafttreten prüfen muss. Am 13. Juli hatten 252 Abgeordnete der Regierungskoalition eine Klage gegen die Verfassungsreform von 2004 eingereicht, da nach der ersten Lesung des Entwurfes zahlreiche relevante Änderungen zugefügt worden seien, ohne eine neuerliche Prüfung des Verfassungsgerichtes. Mit 17 von 18 Stimmen erklärte das Verfassungsgericht am 1. Oktober das Verfahren der Reform 2004 für verfassungswidrig und damit für ungültig. Was noch bis vor kurzem nahezu unvorstellbar gewesen wäre, ist damit eingetreten: die Fassung der Verfassung von 1996 ist wieder in Kraft.

Damit sind auch alle Gesetzesänderungen, die auf der reformierten Verfassung beruhen, hinfällig geworden und müssen nun mit der 1996er Version in Einklang gebracht werden. Das bedeutet weitreichende und zuweilen recht undurchsichtige Änderungen an den rechtlichen Fundamenten des ukrainischen Regierungssystems. Wenn auch diese Änderungen im Einzelnen und der Weg dorthin bislang unklar und Gegenstand der politischen Diskussion sind, so ist die Richtung, die mit dem Urteil des VerfG eingeschlagen wurde, doch eindeutig: eine deutliche Stärkung der Position des Präsidenten und die Rückkehr von einem parlamentarisch zu einem präsidial geprägten System.

Die Verfassung von 1996 gilt als die Verfassung Kutschmas (Präsident der Ukraine von 1994 bis 2005) und räumt dem Präsidenten jene umfangreichen Vollmachten ein, die auch jener in seiner von Autoritarismus-Vorwürfen geprägten Amtszeit besessen hat. Das gilt vor allem für die Position des Präsidenten gegenüber der Regierung, die ihm in vielerlei Hinsicht untergeordnet wird: er kann sie absetzen und umorganisieren, Akte der Regierung aufheben und sie faktisch zur Ausführerin seiner Verfügungen und Dekrete machen. Doch gibt es heute schon Stimmen, die den Vergleich noch weiter treiben. Denn im Gegensatz zu Kutschma hat Janukowytsch derzeit auch die Mehrheit des Parlamentes hinter sich, womit es zum ersten Mal seit der ukrainischen Unabhängigkeit kein reales Gegengewicht zur Macht der Präsidialexekutive gibt!

Tatsächlich muss man den Prozess der Verfassungsänderung vor allem im Kontext sich stark wandelnder Kräfteverhältnisse in der Ukraine begreifen. Auch Juschtschenko hatte (mit anfänglicher Unterstützung von Tymoschenko) während seiner Amtszeit als Präsident zwei Anläufe zur Rücknahme eben jener Verfassungsreform unternommen. Im Gegensatz zu Janukowytsch saß dieser aber weit weniger „fest im Sattel“ und musste letztlich zurückrudern. Auch der jetzige `Durchbruch´ von Janukowytsch war nicht ohne weiteres durchzusetzen und hatte seine Vorgeschichte.

Die zweifelhafte Rolle des Verfassungsgerichts

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Das Verfassungsgericht der Ukraine galt schon nach seinem skandalösen Beschluss vom 06.04.2010 über die Rechtsmäßigkeit der Bildung der neuen Koalition (Partei der Regionen, Lytwyn-Bündnis und Kommunisten) im ukrainischen Parlament als politisches Instrument in den Händen des Präsidenten. Aber nach der Wahl von Anatolij Holowin zum neuen VerfG-Vorsitzenden im Juli, den „freiwilligen“ Rücktritten von vier Verfassungsrichtern und der Vereidigung der neuen, regierungstreuen Verfassungsrichter im September gibt es überhaupt keinen Zweifel mehr an der Loyalität des Verfassungsgerichtes gegenüber der Präsidialadministration. Zudem wurde mit Serhij Wdowitschenko ein Vertrauter Janukowytschs zum berichterstattenden Richter im Prozess zur Verfassungsreform ernannt. Die vier zurückgetretenen Richter dagegen hatten sich bei der Abstimmung über die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens der Koalition im April 2010 als widerspenstig erwiesen. Damit war das Urteil des Gerichtes im aktuellen Fall schon Wochen vor der Verkündung quasi vorprogrammiert.

Tatsächlich gibt es einige gute Gründe für eine Nachbearbeitung der Verfassung. Diese wurde im Dezember 2004 verabschiedet und ist somit zum einen und wesentlich als Teil jenes Demokratisierungsprozesses des politischen Systems zu verstehen, wie er während und nach der Orangen Revolution stattgefunden hat. So ging es denn in der damaligen Verfassungsreform im Kern auch um die Übertragung von Vollmachten vom Präsidenten auf das Parlament, welches damit deutlich gestärkt wurde. Gleichwohl gab es substantielle Defizite im Prozess dieser Reform, und zwar nicht nur was die formelle Prüfung der Änderungen durch das VerfG angeht (an diesem Punkt alleine setzte die aktuelle Verfassungsklage an), sondern auch aufgrund des Mangels an politischen Debatten, Einbeziehung der Öffentlichkeit und Transparenz des Verfahrens. Damit fehlte es dem 2004er Verfassungstext auch an demokratischer Legitimität, was es der Regierung nun ausgesprochen leicht macht, ihr Vorgehen zu legitimieren.

Grundsätzlich also wäre eine öffentliche politische Debatte über die Verfassungsreform und eine demokratisch fundierte Nachbearbeitung sehr zu begrüßen. Allerdings zielt das derzeitige Projekt genau in die entgegengesetzte Richtung: die gesamte Frage wird zu einer formal-rechtlichen Angelegenheit reduziert und damit entpolitisiert. Das damalige Verfahren sei eben nicht verfassungskonform gewesen, dieser Fehler sei nun behoben und damit die Ukraine der Demokratie wieder einen Schritt näher gekommen, so lautet die verkürzte Argumentation. Diese ermöglicht es, die de facto Verfassungsänderung durch das Verfassungsgericht überhaupt erst plausibel zu machen: es ist natürlich sehr bemerkenswert und höchst zweifelhaft, das Parlament über die Rücknahme einer Verfassungsänderung nicht (mit)entscheiden zu lassen. Zudem hätte eine Feststellung formeller Verstöße nicht zur gänzlichen Annullierung der Reform von 2004 führen müssen, denn inhaltlich war diese durchaus verfassungskonform.

Debatten nach dem Urteil

Wurde vor der Verkündung des Urteils die gesamte Angelegenheit zur Verfahrenssache erklärt und damit das offensichtliche politische Kalkül (Stärkung der Macht des Präsidenten durch die Umgehung von Parlament und demokratischer Prozesse), das hinter dem Vorstoß stand, zu verschleiern versucht, so hat nun die Diskussion über die politischen Folgen und Perspektiven begonnen. In diesem Kontext wird auch an einer Umdeutung und Umbewertung der jüngsten ukrainischen Geschichte gearbeitet. So wird von Seiten der Regierung die Zeit der Orangen Revolution heute gerne als Phase politischen Chaos oder gar der tiefen gesamtpolitischen Krise dargestellt, in der adäquates Handeln nicht möglich gewesen sei. Entsprechend unbrauchbar und illegitim sei unter anderem die Verfassungsreform, die ein Resultat dieses Prozesses gewesen ist. Dem so kreierten Bild der Wirren und politischen Grabenkämpfe wird die Vision von Ordnung, Stabilität und Sicherheit entgegengesetzt, woran die derzeitige Regierung arbeite. Die Rücknahme der Verfassungsreform sei ein bedeutender Schritt in Richtung der Stabilisierung gewesen, und da diese Grundvoraussetzung für überfällige Reformen ist, sei man damit auch der ´Demokratisierung´ und europäischen Integration des Landes näher gekommen. Was in diesen Darstellungen geleugnet wird, sind die tatsächlichen demokratischen Zugewinne, die die Reformen im Zuge der Orangen Revolution mit sich gebracht haben, und so sind einige der Errungenschaften aus jener Zeit, so unvollkommen und unausgegoren sie zunächst auch gewesen sein mögen, heute in Gefahr.

Wenn Janukowytsch heute davon spricht, dass eine starke politische Führung zu den Hauptzielen der aktuellen Reform zählt, dann hat er damit nicht wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Umfragen des Gorschenin-Instituts zufolge würden die Hälfte der Befragten ein präsidiales oder präsidial-parlamentarisches Regierungssystem in der Ukraine befürworten. Was die selben Umfragen allerdings auch zeigen ist das dürftige Vertrauen in den Prozess der Verfassungsänderung und das politische System im Allgemeinen: so gaben 52 Prozent der Befragten an, dass die Rücknahme der Verfassungsänderung „keinen Einfluss auf ihr Leben“ haben würde und 36 Prozent glaubten, dass der eigentliche Grund für diesen Schritt die „Bereicherung von Politikern und deren Verbündeter“ sei. Solche Erhebungen mögen zur Erklärung dafür beitragen, wieso die öffentlichen Reaktionen auf die Rücknahme der Verfassungsreform eher verhalten gewesen sind. Scharfe Kritik kam natürlich aus den Reihen der Opposition, die einen dauerhaften Machtverlust fürchtet. Allerdings haben die Oppositionsparteien in dieser Frage nicht selten Legitimationsprobleme: einige weisen selbst autoritäre Tendenzen auf und Juschtschenko, der heute zu den schärfsten Kritikern gehört, hatte während seiner Präsidentschaft einen ganz ähnlichen Zug versucht, was ihm natürlich heute auch vorgehalten wird.

Die Selbstdiskreditierung der heute oppositionellen Kräfte in Verbindung mit dem Glauben der Bevölkerung, selbst nur geringen Einfluss auf die politischen Prozesse zu haben, bietet für Proteste keine Basis. Daher wirken die Appelle von Tymoschenko und Co. bisweilen eher hilflos denn gefährlich für die Regierung. Die Chuzpe, mit der die Rückkehr zur Verfassung von 1996 umgesetzt wurde, legt somit die derzeitigen Machtverhältnisse in der Ukraine offen. Bei einer stärkeren Opposition hätte diese Änderung nicht durchgesetzt werden können, doch haben Juschtschenko und Tymoschenko in den letzten Jahren ihren Kredit bei der Bevölkerung verspielt und damit der Partei der Regionen den Weg für diesen Coup bereitet.

Das (verfassungs)rechtliche Chaos danach

Mit dem Urteil bleiben viele rechtliche Fragen zunächst offen. Dutzende Gesetze und hunderte Bestimmungen, die seit dem Inkrafttreten der 2004er Verfassung im Jahr 2006 verabschiedet wurden, haben mit dem Urteil des VerfG ihre Gültigkeit verloren und müssen überarbeitet werden. Eine hierfür gebildete Kommission soll Vorschläge ins Parlament einbringen, über die dieses dann entscheidet. Auch hier geht es zwangsläufig um sehr grundlegende Fragen der Verfasstheit des politischen Systems: Verteilung von Befugnissen, Zuständigkeiten, Kontrollmechanismen zwischen Präsidenten, Regierung und Parlament sowie zwischen Zentralregierung und den Verwaltungssubjekten der unteren Ebenen, Legislaturperioden etc. Damit herrscht in der Ukraine derzeit ein gewisses rechtliches Vakuum, welches durchaus willkommen, wenn nicht gar beabsichtigt sein könnte. Denn es eröffnet in aktuellen Konflikten und in der derzeitigen Situation sich verändernder Machtkonstellationen – auch in Anbetracht der anstehenden Kommunalwahlen – erweiterte Handlungsspielräume.

Gleichwohl werden die Anpassungen bereits zügig angegangen. Das Reglement der Werchowna Rada und das Gesetz über das Ministerkabinett wurden geändert und zwei Vizepremierminister entlassen, um die tatsächliche Anzahl der Vizepremiers an die formalen Anforderungen der neuen-alten Verfassung anzupassen. Darüber hinaus wurden bereits Termine für die Wahlen zur Werchowna Rada und des Präsidenten festgelegt, die nach der neuen-alten Verfassung anderen Regelungen unterlagen.

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Der Artikel erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung

Autor:   Kyryl Savin und Andreas Stein — Wörter: 1761

Dr. Kyryl Savin war Leiter des Länderbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Das komplette Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung zur Demokratie in der Ukraine finden Sie hier

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