In der Ukraine gibt es, wieder einmal, einen großen Skandal. Dieses Mal geht es um die Äußerung des Kulturministers Jevhen Nyščuk (Durch seine Moderation auf dem Maidan auch als „Stimme des Maidans“ bekannt, A.d.R.). „Das zweite unsichere Moment (nach der gegenwärtigen Bewaffnung, Anm. d. Verf.) ist die Kultur, denn sie hat die Fähigkeit, die Gesellschaft zu erziehen und zu formen. Und die Situation, die sich im Osten und Süden des Landes ergab, ist ein Abgrund des Bewusstseins – vor allem, wenn wir so viel reden über das Erbgut im Gebiet von Zaporižžja oder im Donbas – sie ist aus den Städten eingeführt. Es gibt dort keinerlei Erbgut“, erklärte Nyščuk, die Frage beantwortend, warum die ukrainische Kultur so langsam in den ukrainischen Osten vordringt. So also, mit einer leichten Handbewegung, warf der Minister ein paar Millionen Ukrainer in irgendwelche „Abgründe des Bewusstseins“, wo sie, gezeichnet schließlich durch ihre genetischen Merkmale, auch hingehörten. Kein Wunder, dass die sozialen Netzwerke vor Empörung platzten, weswegen sich Nyščuk dann zu einer Entschuldigung genötigt sah. Wo nun also irrte der Minister – und wo hatte er recht?
„Die Situation im Osten und Süden der Ukraine“, das heißt: Die Illoyalität eines Teils der dortigen Bevölkerung gegenüber der Ukraine, sei eine Folge der Ablehnung ukrainischer Kultur. Das wiederum sei Resultat einer Besiedlung des Südostens mit einer umgesiedelten, nicht ukrainischen Bevölkerung – etwa so kann man, ausgehend von seiner skandalösen Äußerung, die Position Nyščuks rekonstruieren. Es erscheint zunächst, als verweise er auf offensichtliche Tatsachen, schließlich wurden in der Sowjetunion tatsächlich massive Bevölkerungsumsiedlungen und -vermischungen praktiziert. Allerdings war der Donbass eigentlich schon immer ein Gebiet, in dem Zuwanderung stattfand – seit Beginn der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Region Ende des 17. Jahrhunderts kamen hierher Ströme von Übersiedlern aus den ukrainischen und russischen Gouvernements und dieser Prozess endete zur Zeit der Sowjetherrschaft nicht. Die Situation im Südosten aus dem Erbgut der „Umgesiedelten“ abzuleiten, ist freilich ein Fehler.
Beginnen wir mit dem, das die ethnische Zugehörigkeit von Vätern und Großvätern nicht zwangsläufig die kulturelle Orientierung ihrer Kinder und Enkel bestimmt.
(Folgender Abschnitt ist im ukrainischen Originaltext auf russisch, A.d.Ü.)
„Sind Sie also der Nachkomme eines Okkupanten? War Ihr Vater Soldat?“
- „Nicht mein Vater, aber mein Großvater. Im Jahr 1944 gelang er irgendwie in die Spitze der Kommandantur der Region. Dann arbeitete er bei der Errichtung der 125. Fabrik, die den Namen Lenins trug, mit. Er fertigte dort offiziell die Verstärker `Amfyton“ für den Massenbedarf. Die eigentliche Produktion wurde allerdings streng geheim gehalten hinter sieben Siegeln und geheimen Losungswörtern. Kurz gesagt, wie in Baikonur“ (ehemals geheimer Weltraumbahnhof in der heute kasachischen Stadt Baikonur, A.d.Ü.)
Dies ist ein Auszug aus einem Interview mit dem verstorbenen Serhij Kuzʹminsʹkyj, dem Frontmann der Gruppe „Brüder Hadjukiny.“ Wie wir sehen, konnte der Nachfahre von „Umgesiedelten“, der ein Interview auf Russisch gab, eine Lemberger Rock-Legende werden. Genauso gibt es hunderte anderer „Umgesiedelter“ Männer und Frauen aus der Ukraine, die bekannte Kulturschaffende in verschiedenen Ländern der Welt wurden. Während man Kvitka Cisyk noch amerikanische Ukrainerin nennen kann, muss man fragen: Wie viel Ukrainisches steckt noch in den Werken Čak Polaniks, dessen Großvater sich selbst Anfang des 20. Jahrhunderts über den Atlantik „übersiedelte“? Ganz ähnlich ist es mit dem Konzept Erbgut, auf das Nyščuk so sicher verweist, das aber in Teilen nicht funktioniert.
Und wenn es um die politische Orientierung geht, verfälscht „Herkunft“ noch viel mehr. Es ist ziemlich leicht, auf die Idee zu verfallen, die Träger prorussischer Ansichten seien Nachfahren „umgesiedelter“ Russen, welche die ukrainische Kultur nicht angenommen haben. Aber was macht man dann mit Nihojan oder Žyznjevsʹkyj (erste Opfer des Maidans im Januar 2014 armenischer und weißrussischer Herkunft), die keine Ukrainer waren, aber ins Pantheon ukrainischer Helden eingingen? Was macht man mit den russischen Freiwilligen, die aufseiten der ATO-Kräfte kämpfen, obwohl sie wohl kaum das „Testament“ (hier: bekanntes Gedicht von Taras Ševčenko, A.d.Ü.) auswendig kennen? Natürlich, man kann sie alle als Ausnahmen betrachten – aber wird man dann nicht allzu viele solcher Ausnahmen finden? Man kann die Situation auch umgekehrt betrachten: Nach Erkenntnissen der Soziologen betrachtet sich die absolute Mehrheit der Bevölkerung im ukrainischen Südosten als Ukrainer, was sie allerdings nicht davon abhält, bei den Wahlen russlandfreundliche Kräfte und ganz besonders Viktor Janukovič zu wählen. Und wenn schon die nationale Identität nicht eine solche Kraft hat, was kann man dann über die Biologie sagen?
Moderne Untersuchungen zeigen, dass Kultur und Erbgut sich gegenseitig beeinflussen. Dieser gegenseitige Einfluss allerdings betrifft eine viel tiefere und feinere Materie, die sich nicht bloß aus dem einfachen und fehlerhaften Schema „Russen für Russland, Ukrainer für die Ukraine“ zusammensetzt. Würde Herkunft politische Handlungen bestimmen, wäre der Kuban schon lange ein Zentrum des ukrainischen Separatismus. Von der „Grünen Ukraine“ (Ferner Osten Russlands, A.d.R.) und anderen Gebieten in Weißrussland und Russland ganz zu schweigen. Und würden die Amerikaner tatsächlich Obama als „Umgesiedelten“ schmähen, der in seiner Position als Präsident die Interessen seiner kenianischen Heimat vertreten hätte? Es ist offensichtlich, das Minister Nyščuk bewusst oder unbewusst die Vorstellung von Nation als einem ethischen Konzept benutzt. Daher ist in seiner Vorstellung ethnische Vielfalt Ursache für die schwache Loyalität der Bürger – und daher sind die „Umgesiedelten“ ein wunder Punkt für die nationale Sicherheit.
Solche archaischen Ansichten sind nicht nur falsch, sie sind sogar gefährlich, weil sie selbst die höchsten Lenker des Landes desorientieren. Grundlage bürgerlicher Loyalität liegt nicht in vorbestimmten, ins Erbgut eingravierten Formeln eines jeden Bewohners des Landes begründet, sondern in einem sozialen Vertrag. In diesem Vertrag haben Staat und Bürger eine ganze Bandbreite gegenseitiger Verpflichtungen. Wenn diese systematisch nicht eingehalten werden, zerbricht der Vertrag: Der Staat verrät seine Bürger, und die Bürger schaden dem Staat. Der Separatismus ist die radikalste Form der Trennung von einem unzureichenden Vaterland, welches nicht die geeigneten Bedingungen zum Leben bietet. Allzu oft begehen Ukrainer kleine Schäden am Staat (sie zahlen ihrer Steuern nicht oder nehmen in aus) oder wandern einfach aus, schwören ihre Treue einem anderen Staat (wobei sie dabei doch ethnische Ukrainer bleiben).
Bislang ist das Verständnis dieser einfachen Zusammenhänge unter den ukrainischen Eliten nicht allzu vorherrschend, in der Ukraine gibt es daher immer Probleme mit der Loyalität der Bevölkerung. Die Ursachen dieser Probleme sind keineswegs kulturell und noch viel weniger hängen sie von der Herkunft ab. Die Rolle der Herkunft als eigenständige politische Erscheinung zu sehend, bemerken die Eliten nicht (oder erwecken zumindest den Eindruck des Nicht-Bemerkens) die tatsächlichen ökonomischen und sozialen Ursachen des Problems. Verweisend auf die Gefahr der „Zugezogenen“, ignoriert die Regierung die reale Gefahr der Unzufriedenen, deren Befindlichkeiten seit Langem und nicht ohne Erfolg gefährliche Populisten und Kräfte von außerhalb des Landes aufgreifen.
Und was die Kultur betrifft, stellt sich hier nicht die Frage der „Umgesiedelten“, sondern die Frage von Nyščuk und seinen Vorgängern. Die amerikanische Kultur etwa wird derart stark von Millionen von Menschen außerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten nachgeeifert, weil sie es schlicht wert ist. Genauso füllt Okean Elʹzy nicht nur Stadions in L´viv und Kyïv, sondern auch in Luhansʹk. Wenn nur die durch Kolonialisierung und Repression beschädigte ukrainische Kultur stark auf ihren Beinen stände, würde sie zweifellos angenommen. Aber dafür müsste das Kulturministerium sehr effektiv arbeiten. Und aufhören, Millionen an Poplavsʹkyj (Entertainer, der für seine Casting-Show `Schritt zu den Sternen‘ knapp vier Millionen Hrywnja vom Ministerium bewilligt bekommen hat – A.d.Ü.) zu überweisen.
23. November 2016 // Maksym Vichrov
Quelle: Zaxid.net
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