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Vergiftete „Tuschki”¹ - Politische Folgen des Niedergangs des ukrainischen Parlamentarismus

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Der neue Präsident der Ukraine Wiktor Janukowytsch hat eine de facto illegitime Regierung an die Macht gebracht. Obwohl durch eine scheinbar normale parlamentarische Prozedur bestätigt, verfügt das neue ukrainische Kabinett über kein adäquates demokratisches Mandat.

Parteirenegaten und Parlamentsfraktionen nach den Präsidentschaftswahlen

In der Ukraine gilt ein Verhältniswahlsystem mit geschlossenen Listen: die Wähler stimmen nicht für konkrete Kandidaten, sondern für im voraus zusammengestellte, feste Listen politischer Parteien oder Blöcke. Die Listen werden von der betreffenden Partei oder dem jeweiligen Block selbständig gebildet und befinden sich damit außerhalb des Einflusses der Wähler. Daher werden der Wahlerfolg und die Zahl der Abgeordneten der Fraktionen der Parteien oder Blöcke im Parlament vor allem von der Attraktivität ihrer Ideologie und dem Charisma ihrer Führer bestimmt. Die ukrainischen Parlamentswahlen sind damit Wettbewerbe großer politischer Lager und ihrer mehr oder minder attraktiven Leitfiguren. Einzelne Kandidaten für die Abgeordnetenmandate spielen eine unbedeutende Rolle. Ein solches System steht im Kontrast zu Mehrheitswahl- oder gemischten Systemen, bei denen die Reputation auch lokaler und nicht nur landesweiter politischer Führer Bedeutung für die Bestimmung der Zusammensetzung des nationalen gesetzgebenden Organs hat.

Es ist daher nur logisch, dass die Verfassung der Ukraine parlamentarischen Fraktionen und nicht den Abgeordneten als solchen die entscheidende Rolle bei der Bildung der Regierungskoalition zuweist. Zwar gibt diese Regel den Parteiführern viel Macht und verringert die Bedeutung der einzelnen Abgeordneten. Die besondere Rolle der Fraktion bei der Bildung der Regierungskoalition geht jedoch mit dem Wahlsystem konform und ergibt sich aus diesem. Gemäß dem gegenwärtigen ukrainischen Verhältniswahlrecht repräsentieren Fraktionen als feste Kollektive, die aus vorbestimmten Parteilisten rekrutiert werden, den Willen des Volkes in der Legislative.

Nichtsdestoweniger basiert die derzeitige ukrainische Regierung nur teilweise auf den Fraktionen der Parlamentsparteien. Die drei Fraktionen, die heute die Koalition bilden, haben keine Mehrheit in der Werchowna Rada. Die Abgeordnetengruppen der Partei der Regionen, die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) und der Lytwyn-Block zählen im Parlament nur 219 der 450 Abgeordneten, d.h. sie besitzen weniger als die Hälfte der Sitze. Um trotzdem eine Koalition zu bilden, haben Janukowytsch und Co. einzelne Abgeordnete der Blöcke Julia Tymoschenkos (BJuT) und „Nascha Ukrajina – Narodna Samoobrona“ (NUNS; Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes) abgeworben. Diese zwei Fraktionen repräsentieren Parteien, die bei den Parlamentswahlen 2007 in direkter Opposition zur Partei der Regionen standen. Als die Wähler 2007 ihre Stimmen für BJuT oder NU-NS abgaben, stimmten sie damit zweifellos auch gegen die Partei der Regionen. Doch unterzeichneten am 11. März 12 Abgeordnete, sog. “Tuschki”¹, die ursprünglich ihre Parlamentssitze über die Listen dieser beiden orangen Blöcke bekommen hatten, das Koalitionsabkommen für die neue Regierung. Diese Abgeordneten handelten offen gegen den Willen ihrer Fraktion. Darüber hinaus muss ihr Verhalten als Ausdruck einer skandalösen Missachtung gegenüber den Wählern gewertet werden, die sie einst mit Mandaten ausgestattet hatten.

Solch ein Wechsel der politischen Orientierung von Deputierten ist natürlich nichts ungewöhnliches in jungen Demokratien. Von Zeit zu Zeit kommt derartiges auch in gefestigten Demokratien vor – etwa in der Bundesrepublik Deutschland, wo ebenfalls ein Verhältniswahlrecht gilt (wenn auch ein teils personalisiertes). Jedoch betreffen in entwickeltem Demokratien solche politischen Übertritte für gewöhnlich nur einzelne Abgeordnete, die von einer Fraktion in die andere aus persönlichen Gründen wechseln. Vor diesem Hintergrund schützt das deutsche Grundgesetz beispielsweise die unbeschränkte „Freiheit des Mandats“ der Abgeordneten, obwohl die Hälfte der Mitglieder des Bundestages, wie in der Ukraine, über Parteilisten gewählt wird. Die Idee, dass eine größere Abgeordnetengruppe gezielt von bestimmten Fraktion in eine opponierende Koalition mit dem Ziel der faktischen Annullierung der Parlamentswahlergebnisse gelockt werden könnte, erscheint im westlichen Kontext so absurd, dass diese Möglichkeit bisher wenig Beachtung unter Verfassungsingenieuren und politischen Komparativisten erfahren hat. Ein zielgerichteter Wechsel der politischen Loyalität einer relevanten Abgeordnetengruppe würde zu solch einer offensichtlichen Verletzung des Wählerwillens führen, dass viele Beobachter die Diskussion eines derart seltsamen und hypothetischen Szenarios als Zeitverschwendung betrachten würde.

In ungefestigten pluralistischen Staaten findet derartiges allerdings leider statt. Wie die Vorgeschichte der „Orangen Revolution“ zeigt, sind Janukowytsch und Co. keine Demokraten. 2004 bemühten sie sich nicht einmal besonders zu verbergen, dass sie die Präsidentschaftswahlen fälschen wollten. Ähnliche politische Aktionen der Regionalen in den letzten Jahren wiesen ebenfalls auf ihr ambivalentes Verhältnis zu demokratischen Normen hin.

Mit seinem letzten Urteil zur Frage, ob sich einzelne Abgeordnete an der Gründung einer Regierungskoalition beteiligen können, hat das Verfassungsgericht einen neuen Versuch der Weiß-Blauen befördert, die Regeln während des Spiels zu ändern. Dies war insofern eine seltsame Wendung, als das Verfassungsgericht der Ukraine zuvor die entgegengesetzte Position eingenommen hatte: in seiner Entscheidung vom 17. September 2008 urteilte das Gericht, dass „in den Bestand einer Koalition nur diejenigen Parlamentsabgeordneten eingehen können, die Mitglieder der Parlamentsfraktionen sind, welche die Koalition bilden“.

Das verbleibende „Proto-“ in der ukrainischen Protodemokratie

Mit seinem Urteil hat das Verfassungsgericht das Wahlsystem der Ukraine nachhaltig disbalanciert. Sollten ukrainische Parlamentswahlen auch weiterhin nach dem Verhältniswahlrecht stattfinden, werden die Wähler unsicher darüber sein, was ihre Stimmabgabe bedeutet und zur Folge hätte. Wenn Wähler auch weiterhin nur für vorbestimmte Parteilisten abstimmen können, haben sie keine Möglichkeit, diejenigen Abgeordneten zu bestrafen, die ihre Wählerschaft verraten haben. Hinzu kommt, dass Wähler, die für diejenigen Parteien oder Blöcke stimmten, welche unter der Abwerbung ihrer Abgeordneten in die Koalition der anderen Fraktionen am meisten gelitten haben, sich fragen werden: Wozu wähle ich überhaupt? Wenn die Abgeordneten, für die sie ihre Stimme abgeben, danach zum entgegengestetzen Lager überlaufen und ihre politischen Ansichten wechseln: Macht es da überhaupt Sinn, Deputierte in die Werchowna Rada abzuordnen? Nach der faktischen Rücknahme des vorhergehenden Urteils zur Koalitionsbildung durch das Verfassungsgericht ist die Partei der Regionen nun doppelter Gewinner: sie dominiert die Exekutivorgane mit Hilfe von Abtrünnigen aus anderen Fraktionen und untergräbt damit gleichzeitig die Wählerbasis ihrer politischen Gegner. Auf diese Weise wird eine vorrangige Funktion demokratischer Wahlen geschwächt: ein transparentes Bindeglieds und einen effektiven Rückkoppelungsmechanismus zwischen Regierten und Regierung zu bilden.

Die ukrainischen Politiker müssen verstehen, dass eine nur halbherzige Umsetzung demokratischer Regeln und ledigliche rhetorische Akzeptanz von politischem Pluralismus ungenügend für die Beibehaltung der Perspektive einer zukünftigen Mitgliedschaft in der Europäischen Union sein wird – einem Ziel, dem sich alle großen politischen Kräfte der Ukraine verschrieben haben. Der Erhalt mündlicher Zusagen zu bestimmten Handlungen durch einzelne Vertreter offizieller Delegationen des Westens wird für die Beibehaltung einer kontinuierlichen Bewegung der Ukraine in Richtung Europa unzureichend sein. Die Regierungsbildung vom 11. März etwa könnte ein Absinken der Ukraine in den Demokratieratings relevanter Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen nach sich ziehen. Falls die Ukraine infolge der letzten Ereignisse etwa aus der Kategorie „frei“ in die Sparte „teilweise freie“ in den Freedom House Ratings überführt wird, könnte das bedauernswerte politische Folgen haben. Die westliche Öffentlichkeit würde die Ukraine erneut als ein Land betrachten, das zwischen Autoritarismus und Demokratie schwankt, anstatt ein Staat zu sein, der sich europäischen Werten verpflichtet fühlt. Die Ukraine würde in die Kategorie solcher Länder wie Moldova oder Armenien absinken – halbdemokratische Staaten, die die EU möglicherweise hofft, eines Tages in ihren Bestand aufzunehmen, die jedoch heute weit vom Erhalt einer Mitgliedschaftsperspektive entfernt sind. Nicht einzelnen Botschaftern oder Beamten der EU, sondern den Völkern Europas – einschließlich den Ukrainern selbst – müssen die neuen politischen Führer der Ukraine ihre Ergebenheit gegenüber demokratischen Werten und dem Rechtsstaatsprinzip beweisen.

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¹ “Tuschki” – Kürzlich in der Ukraine in Umlauf gebrachte ironische Metapher für Fraktionsüberläufer in der Werchowna Rada (der Oberste Rat – das Einkammernparlament); wörtlich: zur Verspeisung zubereitete Körper toter Kleintiere.

Der Artikel erschien zuerst im Ukrajinskyj Tyshden

Autor:    — Wörter: 1219

Dr. Andreas Umland (1967) ist seit 2010 Dozent am Fachbereich Politikwissenschaft der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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