Hypothesen zum Elektorat der ukrainischen radikalen Nationalisten bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2012
Das mit ca. 10,4 % bemerkenswert gute Abschneiden der sog. Allukrainischen Union “Swoboda” (Freiheit) von Oleh Tjahnybok bei den Parlamentswahlen nach Verhältniswahlrecht am 28.10.2012 war für die meisten ukrainischen und internationalen politischen Beobachter – den Autor dieser Zeilen eingeschlossen – eine Überraschung. Eine Eigentümlichkeit des Ergebnisses der Freiheitspartei ist die unkohärente Wählerschaft der ukrainischen Rechtsextremisten. Da bisher Forschungsarbeiten zu dieser Frage fehlen, kann hier nur vermutet werden, dass diese Eigenheit des ukrainischen Ultranationalismus womöglich der Hauptgrund für die Diskrepanz der meisten Wahlprognosen einerseits und des tatsächlichen Wahlergebnisses der Partei andererseits war.
Erstaunlich ist nicht nur, dass die schon bei Umfragen mehrere Wochen vor den Wahlen identifizierte Wählerschaft Swobodas ebenso pro-europäisch eingestellt ist, wie die Unterstützer der Parteien Batkiwschtschyna/Vaterland und UDAR. Während 65 % bzw. 69 % der Wähler der letztgenannten Parteien einen EU-Beitritt der Ukraine unterstützen, liegt dieser Wert im September 2012 für Swoboda-Wähler bei 64 %. Lediglich bei der Einstellung gegenüber der Russland-geführten Zollunion (57 %, 47 % bzw. 69 % dagegen) sowie der NATO (55 %, 49 % bzw. 42 % für einen Beitritt) ergibt sich ein relevanter Abstand zwischen den Demokraten und den Ultranationalisten: Swoboda-Wähler sehen diese beiden Organisationen deutlich skeptischer.
Noch bemerkenswerter ist, dass Swoboda womöglich bis zur Hälfte ihrer Unterstützung bei den letzten Parlamentswahlen von Wählern erhalten hat, die kaum als radikale Nationalisten zu bezeichnen sind. Vielmehr scheint ein großer Teil der Unterstützung von Bürgern zu kommen, die Swoboda weniger aus ideologischen denn aus taktischen und strategischen Gründen gewählt haben. Eingehende wahlsoziologische Untersuchungen sind noch abzuwarten, aber es gibt Anzeichen dafür, dass die über zehnprozentige Unterstützung für die radikalen Nationalisten bei den Wahlen über dem tatsächlichen Rückhalt für das Swoboda-Programm in der Bevölkerung liegt.
So hatten z. B. zwei prominente oppositionelle Journalisten, Mustafa Nayem und Sonja Koschkina, vor den Wahlen öffentlichkeitswirksam bekanntgegeben, dass sie für Swoboda stimmen würden. Pikant war hierbei, dass Nayem einen Migrationshintergrund hat und Koschkina russischsprachig ist. Damit repräsentieren die beiden Journalisten zwei jener Bevölkerungsgruppen, gegen deren unregulierte Präsenz im öffentlichen Leben der Ukraine sich die Swoboda-Ideologie richtet.
Ähnlich verblüffend war eine unmittelbar im Anschluss an die Wahlen veröffentlichte Analyse der Daten, die am 28.10.2012 im Rahmen eines Nationalen Exit Polls (dif.org.ua, knapp 20.000 Respondenten) erhoben wurden. Demnach ist die Wählerschaft von Swoboda die mit Abstand am höchsten gebildete und urbanste: 48 % der Befragten Swoboda-Wähler gaben an, einen Hochschulabschluss zu haben, und 47,5 % sind Einwohner von Gebietshauptstädten – Werte, die deutlich über den vergleichbaren Angaben für alle anderen relevanten Parteien liegen.
Eine umfassende sozialwissenschaftliche Interpretation solcher Eigentümlichkeiten im Wahlverhalten der ukrainischen Intelligenz steht noch aus. An dieser Stelle daher nur die folgende vorläufige Hypothese bzw. ein noch zu spezifizierender Konzipierungsvorschlag: Neben den eindeutig ideologisch motivierten Wählern Swobodas, die womöglich weniger als die Hälfte der Gesamtwählerschaft der Partei ausmachen, kann man zwischen drei halb- bzw. sogar nichtideologischen Motivationen für die Stimmabgabe unterscheiden. Eine erste Gruppe bilden offenbar diejenigen Wähler Swobodas, die mit ihrer Stimmabgabe gegen die als antiukrainisch verstandene Politik der Janukowytsch-Asarow-Regierung, z. B. gegen die Kulturpolitik des Bildungsministers Dmytro Tabatschnyk, protestieren wollen und daher die am lautesten “proukrainische” Partei gewählt haben.
Eine zweite Gruppe stellen offenbar “strategisch” orientierte Wähler dar, welche Swoboda ihre Stimme gegeben haben, um eine möglichst harte Opposition gegen die Regierung sicherzustellen. Die orangen Parteien haben sich 2010 u. a. dadurch diskreditiert, dass ihnen viele Parlamentsabgeordnete abhanden gekommen waren, die nach Janukowytschs Sieg bei den Präsidentschaftswahlen als Mandatswechsler (“tuschki”) zur Regierungskoalition überwechselten. Swoboda wird hingegen als disziplinierte Partei betrachtet, und man traut ihr zu, die eigenen Abgeordneten in der Fraktion zu halten. Vor dem Hintergrund der schwammigen Vaterland- und UDAR-Programme, die sich nur partiell vom Programm der Regionenpartei unterscheiden, wirkt das ideologische Profil der Freiheitspartei schärfer. Der prononcierte Radikalismus, ja ausdrückliche Revolutionarismus einiger Parteivertreter, wie Andrij Illjenko oder Jurij Mychaltschyschyn, mag den “strategischen” Wählern daher als Vorteil erscheinen – und das obwohl diese Wähler womöglich die radikalen Vorstellungen solcher Parteivertreter nicht unterstützen.
Eine dritte Gruppe waren offenbar Wähler, die man als “taktisch” bezeichnen könnte. Diese gut informierten Wähler sind mit einem Teil der FDP-Wählerschaft in Deutschland vergleichbar. Sie wollten aufgrund der ambivalenten Wahlprognosen für Swoboda – ca. 5 % – sicherstellen, dass eine dritte Oppositionskraft ins Parlament einzieht. Für diese taktischen Wähler mag die Hauptmotivation gewesen sein, mit ihrer Stimmabgabe dafür zu sorgen, dass Swoboda die 5%-Marke überschreitet und die Stammwählerschaft der Ultranationalisten der Opposition im Parlament nicht durch ein knappes Unterschreiten der 5%-Marke verlorengeht. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass solche taktische Unterstützung unnötig war, da Swoboda auch ohne sie ins Parlament gekommen wäre.
Lesetipps:
Schechowzow, Anton / Umland, Andreas: Der verspätete Aufstieg des ukrainophonen Rechtsradikalismus in der postsowjetischen Ukraine I & II, in: Ukraine-Nachrichten, 28.10.2012.
Schechowzow, Anton: Ukraine – The Far Right in Parliament for the First Time, in: Open Democracy, 1.11.2012, http://www.opendemocracy.net/od-russia/anton-shekhovtsov/ukraine-far-right-in-parliament-for-first-time.
Dieser Beitrag erschien zuerst in den ‘‘Ukraine-Analysen’‘, Nr. 109, 2012, S. 8-9.
Forumsdiskussionen
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„@lev dann wünsche ich Dir eine gute Reise, es war sehr schön in LVIV, muss unbedingt nochmals so eine Rundreise machen. Ich habe so wundervolle Menschen kennengelernt, ich bin zutiefst beeindruckt! Es...“
lev in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Danke Bernd für deine Eindrücke. Ich fahre Ende Mai wieder für mehrere Wochen nach Lviv. Nicht um Urlaub zu machen, sondern in unsere Wohnung. Hatte sie ja vor dem Krieg, aufwendig saniert und möchte...“
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Hallo liebe Forengemeinde und Mitleser, ich bin gerade auf einem Kurztripp durch die Ukraine. Es ist wunderschön wieder hier zu sein. Es fehlen die Touristen, gestern habe ich einen persönlichen und...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Kurzer Bericht, hab dann doch den Wachwechsel erwischt, bei den Polen ging dann bestimmt 45 Minuten gar nix. Und dann wurde in zwei Schüben eingelassen, ich finde, dann ging es in einem guten Tempo voran....“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Bin jetzt da, 10 PKW vor mir, das ist akzeptabel, ist ja auch der 1.Mai. Bin zufrieden mit der Situation. @Frank Fahre immer noch ein schwarzes Auto... kennst doch meine Erfahrung mit der Polizei in UA...Kaffeebraun...“
Frank in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Probier doch einfach. Wenn der offen ist doch alles ok. Bin da glaube mal zurück drüber gefahren. War dann nur eine ewige Kurverei bis zur A4. Bin da aber eh erstmal bis Krakau. Kann natürlich auch...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Schade, dass es keine Info´s zu Zosin gibt, wer aber noch was weiß, bitte schreiben, ich fahre jetzt in 30 Minuten los und kann immer noch in ca. 10h bei einem Stopp nochmals nachlesen. Google Maps schickt...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Diesen Grenzübergang hatte ich schon auf dem Schirm, kenne ihn nur noch nicht. Kann jemand noch etwas zu Zosin sagen, wäre ja auch machbar oder lieber nicht? Vielen Dank Bernhard.“
bernhard1945 in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Hallo Bernd Es hängt etwas davon ab, wohin Du in Ukraine fahren möchtest. So wie es scheint möchtest Du (wie ich normalerweise) in Richtung Kiew fahren. Ich benütze deshalb seit Jahren den Übergang...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Ergänzend, möchte nach Luzk fahren, ist ja sicherlich nicht uninteressant für einen Ratschlag.“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Möchte morgen über Nacht in die Ukraine fahren und plane die Ankunft an der Grenze sehr früh am Morgen. Fahre entweder über Polen oder ggf. über Tschechien, je nachdem was google maps empfiehlt. Normalerweise...“
Ahrens in Recht, Visa und Dokumente • Re: Visa D14
„Das ist ein simples D-Visum, wie man es auch in Deutschland für die Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung braucht. Man benötigt dazu keine Mindestaufenthaltszeit. Auch bei der Aufenthaltserlaubnis...“
JohannesTim in Berichte und Reisetipps • Mit dem Zug in die Ukraine
„Zunächst möchte ich sagen, daß die PKP für die Sitzplatzzüge, die zum Beispiel von Kattowitz bis nach Przemysl fahren, die Preise nicht erhöht hat. Allgemein gilt die Polnische Staatsbahn eher als...“
MHG1023 in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
„"Warum verlangt die PKP von den Fahrgästen solch einen Preis ?" - Weil sie es können ... Die Nachfrage dürfte weiter hoch sein und weil es keine vergleichbaren Alternativen gibt (Buslinien über Nacht...“
JohannesTim in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
„Die Polnische Staatseisenbahn PKP Intercity S.A. erhöhte für den Schlafwagen-Zug D 68 am 1. Februar 2025 die Fahrpreise um + 38 Prozent. : Vom Warschauer Ostbahnhof fährt abends um 17.49 Uhr der Schlafwagen-Zug...“
HelloMick in Hilfe und Rat • Brauchen Hilfe bei Diia Registrierung
„Hallo. Meine Ex-Frau ist schon über 22 Jahre in Deutschland. Jetzt benötigt sie einen Termin für das Konsulat. Aber es werden nur Termine über Diia vergeben. Kann uns jemand erklären wie das genau...“
Trick in Recht, Visa und Dokumente • Visa D14
„Hallo..... Ich benötige nochmals euer Schwarmwissen.... Bin seit Dezember letzten Jahres in der Ukraine verheiratet worden Jetzt meine Frage.....ich habe auf der Seite der ukrainischen Botschaft einen...“