Nach Beginn der russischen Aggression beunruhigt Kiew nicht nur die östliche, sondern auch die westliche Grenze.
Die Mitteilungen über Abspaltungsgelüste nationaler Minderheiten, die offensichtlich von russischer Propaganda angeheizt wurden, hatten nicht nur das Ziel, die Situation in den westlichen Regionen zu destabilisieren, sondern auch Kiew und die Nachbarländer zu entzweien. Im Laufe einiger Jahre unternahm die Ukraine bedeutende Bemühungen zur Wiederherstellung des Vertrauens und die Verbesserung des Verhältnisses zu Rumänien, Moldawien, Ungarn, und es scheint, als ob das, was 2014 nicht gelungen ist, im Herbst 2017 Realität zu werden droht. Und zum schon traditionellen Zankapfel wurde die Frage der Sprache.
In der letzten Woche stimmte die Werchowna Rada in zweiter Lesung auch für das Gesetz „Über die Bildung“, das eine groß angelegte Reform in Gang setzt, die die ukrainische Schule an europäische Standards annähern soll. Eine der Neuerungen ist die Veränderung des Vorgehens bei der Unterrichtung der Staatssprache bei nationalen Minderheiten. Diese Frage wurde lange unter anderem im Parlament diskutiert und eine ganze Reihe radikaler Vorschläge wurde abgelehnt. Im Bildungsministerium wusste man von der negativen Bewertung der vorgeschlagenen Änderungen seitens der einzelnen Staaten, aber es scheint, weder im Bildungsministerium noch in der Regierung war man auf die scharfen diplomatischen Reaktionen vorbereitet, die die sprachliche Lage provozierte.
Der Präsident Moldawiens Igor Dodon kritisierte das Bildungsgesetz, nannte es Unrecht, das den Weg zur Entnationalisierung der Minderheiten bereitet. In Polen brachte man die Hoffnung zum Ausdruck, die Ukraine möge sich in ihren Angelegenheiten zurückhalten und man erwarte eine Beratung über die Gesetzeslage und seiner Implementierung. Das rumänische Außenministerium brachte ernsthafte Beunruhigung zum Ausdruck, und bewertete das Gesetz als Verletzung der Rechte ihrer Minderheit. Als schärfste Reaktion stellte sich jedoch die aus Budapest heraus, wo man das Handeln Kiews als Messer im Rücken der ungarischen Partner bewertete. Präsident Poroschenko forderte man nun auf das Gesetz nicht zu unterzeichnen (Poroschenko unterzeichnete das Gesetz am Montag, A.d.R.).
Der Ukraine wirft man vor, dass der Beschluss des Gesetzes der ukrainischen Verfassung und ihren internationalen Verpflichtungen zum Schutz nationaler Minderheiten widerspricht. Doch wie es scheint, lief es auch hier nicht ohne den russischen Faktor ab. Besonders die russischen Medien und prorussische Medien in der Ukraine begannen aktiv das Interesse an der „totalen Ukrainisierung“ aufzublähen, als ob diese vom Bildungsministerium angeheizt worden wäre. Insbesondere auf einen Artikel in einer prorussischen Ausgabe bezog sich Igor Dodon, als er seinen Protest äußerte. In der Reihe der Empörten erschien Russland selbst als Letztes, obwohl normalerweise das russische Außenministerium außerordentlich schnell auf Initiativen Kiews reagiert. Die entsprechende Erklärung mit der Kritik am Gesetz „dessen offensichtliches Ziel die Einschränkung der Interessen von Millionen russischsprachiger Einwohner der Ukraine ist“, erschien erst am 12. September (eine Woche nach der Abstimmung) auf der Seite des Außenministeriums Russlands.
Anführend, dass das Gesetz schon von einer Reihe von Staaten kritisiert wurde, rief Russland zu „kollektiven Anstrengungen unter anderem auf den ‚Plätzen‘ internationaler Organisationen mit dem Ziel des Widerstands gegen die Machtstrukturen der Ukraine, die allgemein anerkannte menschenrechtliche Standards verachten“ auf.
Die Frage der Minderheiten bleibt ein ständiges Reizthema im Verhältnis der Ukraine zu den Nachbarstaaten. Der aktuelle Konflikt auf dem Feld der Sprache zeugt davon, dass das Thema nicht an Brisanz verloren hat, wie auch das Misstrauen der Ukraine gegenüber. Ob es Moskau gelingt, die „Sprachkarte“ zu nutzen, um Kiew mit seinen westlichen Nachbarn zu entzweien, wird sich in den nächsten Wochen herausstellen. Viel wird davon abhängen, wie überzeugend die Argumente des Außen- und des Bildungsministeriums sind, sowie von der Bereitschaft der Nachbarn der Ukraine, diese Argumente anzuhören. Die Situation verschlechterte der Fakt, dass die Tatsachen weder in Bukarest, noch in Budapest noch in den anderen Hauptstädten bekannt sind, worüber genau die Werchowa Rada abgestimmt hat. Das Fehlen des endgültigen Gesetzestextes bot ein weites Feld für Spekulationen und Missverständnisse. Es ist kränkend, dass das Image der Ukraine wiederholt zum Opfer unzureichender Kommunikation wird.
So beharrt man im Bildungsministerium darauf, dass die Gesetzeslage in keinem Fall Menschenrechte verletzt und internationalen Standards entspricht.
Betrachten wir im Detail, welche internationalen Verpflichtungen die Ukraine hat.
Die Rahmenkonferenz über den Schutz nationaler Minderheiten, die von der Ukraine ratifiziert wurde, sieht die Plicht des Staates vor, das Recht von Menschen, die einer Minderheit angehören, auf das Erlernen der Sprache ihrer Minderheit anzuerkennen (Artikel 14). Der Staat muss für angemessene Bedingungen für die Unterrichtung der Minderheitensprachen oder für die Ausbildung in dieser Sprache sorgen. Dabei wird in der Konferenz gesondert unterstrichen, dass diese Bedingungen ohne Schaden für das Erlernen der offiziellen Sprache oder der Unterrichtung in dieser Sprache verwirklicht werden sollen.
Übereinstimmend mit der Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (von 1992), auf die sich die Kritik an der Ukraine ebenfalls bezieht, ist der Staat verpflichtet, „geeignete Formen und Mittel für die Unterrichtung und Ausbildung in regionalen Sprachen oder Sprachen von Minderheiten auf allen entsprechenden Ebenen vorzusehen.“ Aber die konkrete Ausgestaltung dieser Formen und Mittel kann variieren. So verstärkt Artikel 8 der Charta, der unmittelbar die Bildung betrifft, die Verpflichtung des Staates, „ohne Beeinträchtigung der Unterrichtung der offiziellen Sprache“ die Möglichkeit der Bildung auf allen Ebenen (von vorschulischer Bildung bis zur Universität) in der Sprache der Minderheiten anzubieten, oder einen wesentlichen Teil der Bildung in Minderheitensprachen anzubieten, oder mit der untersten Ebene beginnend für die Unterrichtung der entsprechenden Minderheitensprachen als integrierten Bestandteil des Bildungsprogramms zu sorgen.
Das neue ukrainische Gesetz „Über die Bildung“ sieht im Grunde genommen die Ausweitung der Verwendung der ukrainischen Sprache in Bildungseinrichtungen, bei Beibehaltung der Möglichkeit des Lernens und des Unterrichtens in den Sprachen der nationalen Minderheiten vor. In Artikel 7 ist verankert, dass die Sprache des Bildungsprozesses in Bildungseinrichtungen die Staatssprache ist, das heißt Ukrainisch. Daneben wird Personen, die der Stammbevölkerung oder nationalen Minderheiten angehören das Recht auf Bildung in der Muttersprache neben der ukrainischen Sprache garantiert. Man nimmt an, dass die Schüler im Kindergarten und in der Grundschule in ihrer Muttersprache lernen können und sie die ukrainische Sprache lernen. Ab der 5. Klasse werden allgemeinbildende Fächer in Ukrainisch unterrichtet, parallel dazu können die Schüler aber die Sprache ihrer nationalen Minderheit lernen, ihre Literatur, Geschichte in der Muttersprache. So sieht das Gesetz außerdem die Möglichkeiten der Lehre „einer oder mehrerer Disziplinen in zwei oder mehr Sprachen, der Staatssprache, Englisch, in anderen offiziellen Sprachen der EU“ vor. Das Gesetz sieht eine dreijährige Übergangsfrist bis 2020 vor. Im laufenden Schuljahr sind keine Änderungen vorgesehen, aber im nächsten Schuljahr wird sich die Zahl der Fächer erhöhen, die in Ukrainisch unterrichtet werden.
Die Notwendigkeit von Veränderung in der Art und Weise der Unterrichtung der Staatssprache erklärten wiederholt Experten aus dem Bildungsbereich und verwiesen auf das niedrige Niveau in der Verwendung der Staatssprache bei Angehörigen nationaler Minderheiten. So erhielten nach Angabe des Bildungsministeriums 2016 etwa 40 Prozent aller Schulabgänger des mittleren Schulabschlusses in Transkarpatien im Fach Ukrainische Sprache 1 bis 3 von 12 möglichen Punkten. Und bei 60 Prozent der Schüler der ungarischen und rumänischen Minderheit wurde in der Spalte „bestanden/ nicht bestanden“ für den Test in Ukrainischer Sprache überhaupt nichts eingetragen. Unter der Voraussetzung, dass die Sozialisation der Kinder (in der Familie, dem Kindergarten, der Schule) vollständig unter Verwendung der Sprache der nationalen Minderheit stattfindet, und sie die Staatssprache nur in den Unterrichtsstunden für ukrainische Sprache und Literatur hören, können diese Resultate kaum als Überraschung gelten. Im Ergebnis unterliegen die Schulabgänger wesentlichen Schwierigkeiten bei der Aufnahme in höhere Bildungseinrichtungen der Ukraine, und perspektivisch haben sie begrenzte Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung in der Ukraine.
Die europäischen Erfahrungen im Bereich der Bildung von Angehörigen nationaler Minderheiten sind verschieden. In fast 20 Ländern gibt es die Verwendung von Regional- und Minderheitensprachen im Unterricht neben der Staatssprache. Jedes Land entscheidet selbst, welches Bildungsformat es für sich für am besten hält anhand der Mischung der Ethnien und der sozialpolitischen Situation. Ein allgemeiner Trend ist die Ausweitung der Autonomie der Bildungseinrichtungen, unter anderem die Ausweitung der Freiheit in der Festlegung des Bildungsprogramms. In Ungarn bestehen Schulen mit deutscher und slowakischer Unterrichtssprache. Man unterscheidet drei Schultypen für nationale Minderheiten: die, in denen man die Minderheitensprache wie eine Fremdsprache lehrt, die, in denen einzelne gesellschaftswissenschaftliche Fächer (Geschichte, Literatur) in der Minderheitensprache unterrichtet werden und die, in denen alle Fächer in der Minderheitensprache unterrichtet werden und man die offizielle Sprache nur in „Sprache und Literatur“ lernt.
In den letzten Jahren erfolgte eine spürbare Annäherung zwischen der Ukraine und Rumänien, was gemeinsame Erfolge beider Länder betrifft. Vor dem Hintergrund der Unterstützung, die Rumänien gegenüber der Ukraine als Antwort auf die russische Aggression demonstrierte, keimte die Hoffnung, dass es endlich gelingt gegenseitige Vorurteile und Stereotypen abzulegen, die lange Zeit schwer auf dem Verhältnis beider Länder lasteten. Das Bildungsgesetz scheint zur ersten ernsthaften Probe für die noch ziemlich schwachen ukrainisch-rumänischen Verbindungen zu werden. Jetzt hat Bukarest angekündigt, dass die Frage der Bildung der ethnischen Rumänen in ihrer Muttersprache zum prioritären Thema des Besuchs des rumänischen Staatssekretärs Wiktor Mikuluj in Kiew wird, die nächste Woche stattfinden soll (Präsident Klaus Iohannis hat unterdessen einen angekündigten offiziellen Besuch abgesagt, A.d.R.).
Bedeutend enger wird das Feld für einen Dialog mit Ungarn. Die ungarische Regierung hat bereits versprochen, auf allen möglichen europäischen Foren aktiv gegen das Inkrafttreten der „Sprachregelung“ vorzugehen. Mehr noch, Ungarn hat deutlich gemacht, dass es gewillt ist, keine einzige der für die Ukraine wichtigen Entscheidungen auf internationaler Ebene zu unterstützen, erklärte aber, dass dies nicht diesbezügliche Sanktionen treffen wird. Besondere Verärgerung rief in Budapest anscheinend der Fakt hervor, dass das Gesetz ungeachtet der Proteste von ungarischer Seite beschlossen wurde. Aber der Ton und die Entschiedenheit der Ankündigungen des Leiters des ungarischen Außenministeriums Peter Szijjarto passt völlig zum Stil der Kommunikation und Diplomatie in anderen Fragen.
Die nationale Frage wurde in dem Moment ins Zentrum der Außen- und Innenpolitik der Regierung gestellt, als die Partei Fidesz von Viktor Orban an die Macht kam, daher war die scharfe negative Reaktion auf die ukrainische Bildungsreform völlig vorhersehbar. Gerade unter der aktuellen Regierung wurde der Erhalt der ungarischen Staatsbürgerschaft deutlich vereinfacht und Ungarn, die im Ausland leben, erhielten das Recht zur Teilnahme an nationalen Wahlen. Die ungarischen Minderheiten in den benachbarten Staaten werden als unabdingbarer Teil der ungarischen Nation betrachten und ihre Bildung als Mittel zur Bewahrung der ungarischen Identität. Budapest gibt große Mittel zum Erhalt und zur Entwicklung der Infrastruktur der ungarisch-sprachigen Bildungseinrichtungen aller Ebenen und unterstützt Lehrer und Eltern mit direkten Zuwendungen, damit sie ihre Kinder in ungarisch-sprachige Schulen schicken.
Das ukrainische Bildungsgesetz verurteilten alle Parlamentsparteien Ungarns und riefen Präsident Poroschenko auf, es nicht zu unterschreiben. Diese Frage einte die regierenden und oppositionellen Kräfte des Landes. Im kommenden Frühling werden in Ungarn Wahlen durchgeführt und deshalb möchte keine der politischen Kräfte die Unterstützung ihrer Wähler wegen einer „weichen“ Position in der nationalen Frage verlieren. Aus dieser Frage Kapital schlagen möchte die rechtsradikale Jobbik, die sich oft als einzige echte Unterstützung der transkarpatischen Ungarn positionierte.
Ungarische Kommentatoren äußern Bedenken: das Zwischenmodell führt in der Praxis zu einsprachiger Bildung, was im Endergebnis den Assimilierungsprozess verstärkt. Insofern als man in der internationalen Erfahrung Beispiele zur Unterstützung dieser These findet, kann man diese Angst kaum unbegründet nennen. Heute wird nur in einem ungarischen Artikel, der auf Index.hu (dem größten online-Nachrichten-Medium) erschien, der Versuch unternommen, das Problem detaillierter und aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, unter anderem die genannten Schwierigkeiten, die den Angehörigen der ungarischen Minderheit in Transkarpatien begegnen, wenn sie die ukrainische Sprache nicht in ausreichendem Umfang lernen. Es wird gezeigt, dass vieles von der Implementierung des Gesetzes abhängen wird. Derzeit wird im Bildungsministerium nur der Umsetzungsmechanismus des abgestimmten Gesetzes vorbereitet.
Wenn man die offensichtlichen Risiken, die durch den Beschluss der Sprachnormen entstehen, einrechnet, stellt sich die Frage: wie gerechtfertigt ist dieser Schritt? Unter der Voraussetzung der fortgesetzten russischen Aggression ist es für die Ukraine von kritischer Bedeutung, die europäische Einheit und Unterstützung zu bewahren, auch in Bezug auf die Nachbarländer, die zur EU gehören. Einseitige Beunruhigung führt in Kreisen mit kompakter Besiedlung von Angehörigen nationaler Minderheiten zu einer Situation, die sich radikale politische Kräfte zur weiteren Verärgerung der Bevölkerung zunutze machen können. Wird der Preis für die Bildungsreformen nicht ziemlich hoch sein? Es gibt wohl keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Die Befürworter der Neuerungen verweisen darauf, dass die Unkenntnis der Staatssprache bei den nationalen Minderheiten eine Bedrohung für die nationale Sicherheit und Einheit sein könnte.
Wenn man andererseits die Empfindlichkeit und die Schwere der Probleme betrachtet, können jegliche unvorbereitete radikale Schritte die Situation nur verschlechtern. Kiew sollte maximal vorsichtig vorgehen und sich aktiv der Erfahrungen unserer Nachbarn in der EU bedienen, sowie besondere Aufmerksamkeit auf die Kommunikation mit den Partnern und nationalen Minderheiten legen. Nicht weniger wichtig ist die Verbesserung des Prestiges der ukrainischen Bildung, damit die Vertreter der nationalen Minderheiten nicht gezwungen, sondern daran interessiert sind, die ukrainische Sprache zu beherrschen. Nur dies kann uns vor weiteren Konflikten bewahren.
In jedem der internationalen Dokumente ist unterstrichen, dass die Verwirklichung der sprachlichen Rechte nationaler Minderheiten ohne negative Auswirkungen auf das Erlernen der Staatssprache stattfinden soll. Das Bildungsministerium gab zu verstehen, dass die bisherigen Bildungsmechanismen diese Forderung nicht erfüllen und sie deshalb unbedingt verändert werden müssen. Wenn man bedenkt, dass Budapest einen Brief mit der Kritik am ukrainischen Handeln schon an die OSZE, die EU und die UNO geschickt hat, sollte Kiew dringend eigene Argumente formulieren und sich darauf vorbereiten, seine Position auf internationaler Ebene zu verteidigen.
22. September 2017 // Darja Gajdaj
Quelle: Serkalo Nedeli
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