Im letzten Jahr erinnerten wir die Welt von der Eurovision Song Contest-Bühne an die Annexion der Krim und die Verbrechen der Besatzer gegen die Krimtataren. Nun versucht auch Moskau den Wettbewerb zu benutzen, um der Ukraine eine zynische Provokation zu bereiten. In Kyjiw wägt man klar ab auf der Suche nach einem optimalen Ausweg aus der Situation. Sich auf sie einzulassen ist jedoch diesmal der beste Weg, um auf die Provokation zu reagieren.(der SBU hat Julia Samojlowa am 22. März die Einreise in die Ukraine für drei Jahre verboten)
Das mehrzügige Spiel Moskaus
Der russische Plan ist einfach, wie ein Akkord auf der Balalaika. Da das Motto des Eurovision Song Contest 2017 „Vielfalt feiern“ lautet, entsandte Moskau die „vielfältigste“ Sängerin zum Wettbewerb, die sich finden ließ – die an den Rollstuhl gebundene Julia Samojlowa (Samoylova bzw. Samoilowa). Das Minimalprogramm: der Welt die gesamte Breite und Toleranz der russischen Seele zu demonstrieren und das Image Russlands aufzurichten. Zu sagen, seht her, wie wir Menschen mit besonderen Bedürfnissen unterstützen! Würde das Imperium des Bösen ein solch zartes Mädchen zum Contest schicken? Schachmatt, liberales Europa! Zugleich kann man auch mit dem inneren Publikum arbeiten, indem man ihm zeigt, dass man im Kreml nicht nur Kobson (aus dem Donbass stammender Sänger, inzwischen russischer Dumaabgeordneter, A.d.R.) und das Alexandrow-Ensemble liebt. Putins Pressedienst nimmt bereits sicheren Kurs auf eine berührende Fotostrecke mit Samojlowa.
Doch all das sind Kleinigkeiten. Das Maximalprogramm: die Ukraine zu provozieren und sie in einen lauten Skandal zu verwickeln. Genau darum wurde für den Wettbewerb eine Sängerin aufgestellt, die nicht nach Kyjiw gelassen werden kann. Erinnern wir uns daran, wie Samojlowa am 27. Juni 2015 im besetzten Kertsch aufgetreten ist, also gemäß ukrainischer Gesetzgebung rechtswidrig ukrainisches Gebiet betreten hat. Der SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine) ließ über Wassyl Hryzak seine klare Position verlauten: „Das Gesetz ist für alle gleich und bedeutet eines: Überquert eine Person die Grenze des besetzten Gebietes, heißt das, sie begeht eine Rechtsverletzung und dies ist Grundlage dafür, ihr die Einreise in die Ukraine zu verwehren.“ Geht Kyjiw nach dem Prinzip, kann Moskau die Ukraine beschuldigen, den Eurovision Song Contest zu ruinieren, intolerant zu sein etc., und das Wichtigste – es kann der Welt ein verweintes Mädchen im Rollstuhl vorführen, deren Träume vom Stiefel der Bandera-Anhänger zertreten wurden. Die ideale Illustration der verbrecherischen Natur der Kyjiwer Junta!
Wenn aber Samojlowa tatsächlich in die Ukraine gelassen wird, bezeugt Kyjiw damit seine Bereitschaft Moskau entgegen zu kommen, insbesondere in der Krim-Frage. Umso mehr, da Samojlowa nicht nur eine Sängerin im Rollstuhl ist, sondern auch eine Person, die die Annexion der Halbinsel unterstützt hat. Wenn Sie es nicht glauben, sehen Sie ihre „Akte“ auf der Plattform des „Myrotworez“ (dt. „Friedensstifter“, staatlich geförderte Website mit Adressdaten von vermeintlichen und wirklichen Unterstützern der Separatisten im Donbass, A.d.R.) ein. Und nicht einmal jetzt, kurz vor dem Eurovision Song Contest, hat sie ihre Ansicht geändert. „Ich bin in Kertsch aufgetreten… Ich fuhr dorthin genauso, wie in jede andere Stadt. Um sauber zu singen, Leute zu erfreuen, sie mit neuen Emotionen aufzuladen. Vielleicht passiert es, dass man mir sagt: ‚Oje, warum bist du nach Perm gefahren, du bist so schlecht!‘“, sagte Samojlowa in einem Interview und gibt damit zu erkennen, dass sie den Unterschied zwischen Perm und dem besetzten Kertsch nicht versteht. Wenn man sie also in die Ukraine lässt, kann das Ministerium für Kultur seine schwarzen Listen für ungültig erklären und sich gleich bei allen Künstlern entschuldigen, denen es Touren durch die Ukraine wegen Konzerten auf der besetzten Krim untersagt hat.
Ein nützlicher Skandal
Auf der Waage liegen nun ein lauter Skandal und ein stilles Entgegenkommen. Und dieses Mal wäre es für die Ukraine besser, den Skandal zu wählen. Verständlicherweise wird die ewig besorgte internationale Gemeinschaft Erklärungen fordern, warum Kyjiw allen das Vergnügen verdirbt. Und hier erhielten wir die Möglichkeit, die Welt einmal mehr daran zu erinnern, was in der Ukraine geschieht und woher wir unsere ukrainische Unnachgiebigkeit nehmen. Denn Millionen Europäer verstehen den Unterschied zwischen Perm und Kertsch ebenfalls nicht und ein Teil des westlichen Politikums will schon lange zu „normalen Beziehungen“ mit Russland zurückkehren und hofft darauf, die Ukraine zu unumgänglichen Kompromissen drängen zu können. Gerade heute klingen aus Kyjiw vollkommen eindeutige Aussagen: Wir vergessen die Krim nicht, den Donbass geben wir nicht auf. Und Samojlowa nicht auf ukrainisches Gebiet zu lassen wird eine gelungene Bestätigung dessen, dass die Ukraine bereit ist, für ihre Prinzipien einzustehen, ungeachtet situativer Imagevorteile.
Man kann erahnen, dass das europäische Publikum diese Erklärungen nicht hören und stattdessen die Tränen eines Mädchens im Rollstuhl sehen wird – und so zu der komplett vorhersehbaren Schlussfolgerung gelangt, dass die ukrainische Regierung egoistisch handelt. Damit das nicht passiert, müssen wir die Welt daran erinnern, dass unsere Prinzipien mit Blut geschrieben worden sind – dem Blut von 10.000 Umgekommenen und 23.000 Verletzten im Donbass sowie von durch die Besatzer Getöteten auf der Krim. Falls unsere zutiefst beunruhigten Genossen meinen, Politik und Kunst sollten nicht vermischt werden, dann sollten sie das, zum Beispiel, auch Oksana Neschalska sagen, einer Lehrerin aus der Luhansker Oblast, die im Rollstuhl sitzt, seit sie auf eine russische Mine getreten ist. Oder einem der Hunderten Kämpfer der Antiterror-Operation, die durch die russischen Besatzer verkrüppelt wurden. Wenn wir auf die russische Provokation eingehen, erhalten wir eine großartige Gelegenheit den Westen vor die unbequeme Tatsache unserer Existenz zu stellen, womit wir den öffentlichen Dialog aktivieren, der seit langem zum unendlichen „Minsker Prozess“ degradiert.
Offen gesagt ist es für die Ukraine längst an der Zeit, sich von der Strategie der maximalen Bequemlichkeit für unsere Verbündeten loszusagen. Am bequemsten für den Westen wäre die Kapitulation der Ukraine nach „dem Plan von Pintschuk“: sich loszusagen von der Krim sowie der Mitgliedschaft in EU und NATO, die LNR und DNR (Luhansker und Donezker Volksrepubliken Anm. d. Ü.) mit einem „besonderen Status“ zu legitimieren usw. Die Liste der europäischen Führungspersonen, die vor Erleichterung aufatmen würden, kann sich jeder selbst vorstellen. Dagegen hat Kyjiw zum Glück – bei aller Inkonsequenz unserer Regierung – auch bis jetzt der Umsetzung der schändlichsten Kompromisse noch nicht zugestimmt. Nur deshalb glimmt noch Hoffnung auf ein Ende der Besetzung. Wenn wir aber aufhören, ein Splitter im Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft zu sein, wird ihre Besorgtheit verklingen und dann bleiben wir mit Russland von Angesicht zu Angesicht allein.
21. März 2017 // Maksym Wichrow
Quelle: Zaxid.net
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