Die deutsche und europäische öffentliche Debatte um die sogenannte Ukraine-Krise dreht sich meist um politische Ideen, völkerrechtliche Argumente und wirtschaftliche Interessen. Ausgeblendet wird dabei kurioserweise häufig, wie geografisch nah an Deutschland die Sicherheitsprobleme Osteuropas und tragischen Ereignisse in der Ukraine sind. Anders lässt sich die Fixierung der aufgeheizten deutschen Ukraine-Debatte auf solche Fragen, wie historische Verantwortung, europäische Ideale und ökonomische Herausforderungen kaum erklären. Dabei müsste es für die Deutschen zuerst um andere Fragen gehen – nämlich unsere eigenen sicherheitspolitischen Kerninteressen. Dominierend wäre in einer realistischen Bewertung von Russlands Hybridkrieg gegen die Ukraine, dass dessen Ziele für Deutschland und viele andere EU-Länder entweder hohe oder sehr hohe sicherheitspolitische Risiken birgt.
Die Ziele des Kremls
Moskaus Minimalziel ist es, den ukrainischen Staat so weitgehend wie möglich zu destabilisieren oder zumindest so lange als möglich in einem Schwebezustand zu halten. Dies geschieht vor allem durch große militärische Aufmärsche an der russisch-ukrainischen Grenze und nahezu tägliche paramilitärische Scharmützel mit Verletzten und Toten in der Kampfzone im Donezbecken. Zusatzinstrumente des Kremls sind internationale Drohgebärden, geheimdienstliche Subversion, ein unnachgiebiger Handelskrieg, eine weltweite Desinformationskampagne und die permanente Verleumdung der ukrainischen Elite und Demokratisierung seitens russischer Politiker, Diplomaten, Pseudojournalisten, Quasiexperten und radikaler politischer Freunde im Westen. Durch diese konzertierte Aktion sollen Investoren von der Ukraine abgeschreckt, die politischen Partner Kiews frustriert, das Land seiner ökonomischen Perspektiven beraubt und das ukrainische demokratische Experiment diskreditiert werden.
Maximalziel des Kremls ist eine weitere territoriale Aufspaltung der heutigen Rumpfukraine und Schaffung von „Neurussland“ (Noworossija) – so ein unter anderem von Putin benutzter imperialer Begriff aus der Zarenzeit. „Neurussland“ würde entweder aus einer Reihe neuer russischer Föderationssubjekte bestehen oder aber ein staatsähnliches Riesenprotektorat des Kremls darstellen, das den Großteil der Ost- und Südukraine nach dem Vorbild existierender kleineren Moskauer Protektorate (Transnistrien, Abchasien, Südossetien) erfassen würde. Man kann nur vermuten, dass die Schaffung „Neurusslands“ ein höchst blutiges Unternehmen sein würde, welches die Annexion der Krim und den bisherigen Krieg im Donezbecken lediglich als Vorspiel erscheinen lassen würde. Die Umsetzung der Neurusslandidee würde vermutlich neue russisch-ukrainische Schlachten, zehntausende Todesopfer und weitflächige Zerstörung in den russischsprachigen ukrainischen Regionen am Asowschen und Schwarzen Meer bedeuten.
Europas größtes Kernkraftwerk in der Nähe der Kampfzone
All dies könnte für die Deutschen eine zwar höchst unerfreuliche, aber doch nur bedingt relevante Auslandsnachricht sein, wäre da nicht die kurze Entfernung der Ukraine zu Deutschland – zwei Stunden mit dem Flugzeug von Berlin nach Kiew. Da das Aggressionsobjekt des Kremls so nah ist, erscheint aus deutscher Sicht selbst Moskaus Unterwanderung des weltweiten Regimes der Nichtverbreitung von Kernwaffen als nur zweitrangig. Es ist nicht nur die Entwertung des Atomwaffensperrvertrages durch den russischen Überfall auf die Ukraine, als einst drittgrößte Nuklearmacht der Welt, die uns kümmern muss. Als Mitteleuropäer haben wir dringendere Sorgen, als die flagrante Verletzung der Sicherheitszusagen, die die Ukraine beim Budapester KSZE-Gipfel 1994 von Russland, den USA und Großbritannien im Austausch gegen die Abgabe ihres damals enormen Kernwaffenpotenzials an Russland erhalten hat. Es sind nicht nur die künftigen Gefahren für das weltweite Sicherheitssystem, sondern auch einige Prioritäten unmittelbar mitteleuropäischer Sicherheit, die heute für Deutsche wichtig sind.
Hauptsorge aller Europäer, einschließlich Russen, bezüglich der gezielten Moskauer Unterwanderung seiner westlichen „Brudernation“ sollten die vier Atomkraftwerke der Ukraine sein. Insbesondere gilt dies für das größte Kernkraftwerk Europas in der Region Saporischschja – ca. 250 km vom Kampfgebiet im Donezbecken entfernt. Ob Russland den ukrainischen Staat nun durch einen traditionellen militärischen Überfall oder hybriden Handels-, Informations- und Stellvertreterkrieg zerstört: Was passiert mit diesen Atomkraftwerken, wenn die Kiewer Regierung keine Kontrolle mehr über sie ausübt? Wer kümmert sich um die Kernreaktoren, sollte der ukrainische Staat von Russland in den Bankrott getrieben, zerstückelt oder militärisch besiegt werden? Die gesamteuropäischen Erfahrungen mit der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 vermitteln einen Vorgeschmack.
Schlimmer noch: Die russischsprachige Region Saporischschja, ohnehin nah am derzeitigen Kampfgebiet, könnte selbst zur Kriegszone werden. Damit könnte Europas größter Kernreaktor unbeabsichtigt von Artilleriegeschossen, Raketen oder Bomben getroffen bzw. auf andere Art und Weise beschädigt werden. Im allerschlimmsten Fall könnten die fragwürdigen Persönlichkeiten, die Russland in den paramilitärischen Einheiten der Ostukraine für seine Zwecke mobilisiert hat, der Kontrolle Moskaus entgleiten. Die eng mit ultranationalistischen Kreisen in Russland verbundenen „Separatisten“ könnten in einer für sie ausweglosen Situation einen gezielten Beschuss oder eine vorsätzliche Sprengung z.B. des Saporischschjaer Kernkraftwerks androhen. Vor dem Hintergrund der Tschernobyl-Erfahrung, könnte dies im Extremfall einem der vielen schwerbewaffneten prorussischen Hasardeure in der Ostukraine als ein veritables Druckinstrument gegen Kiew erscheinen.
Die hier gezeichneten düsteren Zukunftsszenarien sind spekulativ. Der Verlauf einer Spannungs- und Kriegssituation, wie diejenige in der heutigen Ukraine, ist nur schwer zu prognostizieren. In Gebieten ohne effektive staatliche Kontrolle, wie derzeit in den moskaugefütterten sogenannten „Volkrepubliken“ im Donezbecken, ist die politische Lage naturgemäß fragil und wird von einer unüberschaubaren Zahl von Faktoren, Akteuren sowie deren Interaktionen beeinflusst. Die hohe Konzentration nicht nur leichter, sondern auch schwerer Waffen, ja sogar von militärischem Hightech in den semianarchistischen Regionen ist ein zusätzlicher unberechenbarer Aspekt. Wahrscheinlich ist, dass Worst-Case-Szenarios nicht eintreten. Da ihr möglicher Schaden jedoch schlimmstenfalls enorm wäre, können sie nicht ignoriert werden.
45 Millionen potenzielle Flüchtlinge
Ein zweites Problem für die EU, sollte der ukrainische Staat auf die eine oder andere Art kollabieren, wäre demo- und geografischer Natur. Die Ukraine hat 45 Millionen Einwohner und ist nur politisch, jedoch nicht geologisch von der EU getrennt – weder durch ein Meer noch durch ein unüberwindbares Gebirge. Unabhängig vom Ergebnis der derzeit laufenden Visaliberalisierungsverhandlungen zwischen der EU und Ukraine hat dieser simple räumliche Fakt Folgen. Kann der ukrainische Staat seine Grundfunktionen nicht mehr erfüllen oder wird er gar im Krieg besiegt, könnten sich Millionen Ukrainer auf den Weg in die Emigration machen. Zwar würden einige zu Verwandten oder auf der Suche nach Arbeit nach Osten, d.h. vor allem nach Russland, aufbrechen. Angesichts der gesunkenen Popularität Russlands infolge des russischen verdeckten Krieges gegen die Ukraine sowie der unklaren Aussichten der russischen Wirtschaft dürfte jedoch die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Migranten sich nach Westen bewegen.
Die Grenzdienste Polens, Ungarns und Rumäniens können möglicherweise mit tausenden oder zehntausenden illegalen Grenzübertritten umgehen. Was passiert jedoch, wenn sich Hunderttausende oder gar Millionen Ukrainer auf die Ostgrenze der EU zubewegen? Wird die NATO Militärtechnik auffahren, um verzweifelte Flüchtlinge vor dem Grenzübertritt abzuschrecken? Sollten die Grenzländer der Ukraine Internierungslager für illegale Immigranten aus Osteuropa errichten? Baut die EU eine Mauer von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, um sich von ostslawischen Flüchtlingsströmen abzuschotten?
Die Ukraine ist zwar kein EU-Mitgliedsstaat, jedoch aufgrund ihrer geografischen Nähe, prekären Situation und hohen Bedeutung für die europäische Sicherheitsordnung für die Union und Deutschland wichtig. Vor diesem Hintergrund verdienen die sogenannte „Ukraine-Krise“, d.h. die russischen Machenschaften in Osteuropa und ihre sicherheitspolitischen Folgen mehr Aufmerksamkeit. Die häufigen Diskussionen, ob die Ukraine und Russland zu Europa gehören, haben angesichts der Dringlichkeit existenziellerer Fragen eine therapeutische Funktion. Die „großen Fragen Europas“ lenken davon ab, dass die EU zunächst adäquate Antworten auf einige triviale Gefährdungen ihrer eigenen Sicherheit finden muss.
Eine Kurzversion dieses Textes erschien unter anderem Titel zuerst in der Zeitschrift „Focus“ vom 30.8.2015.
Forumsdiskussionen
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„@lev dann wünsche ich Dir eine gute Reise, es war sehr schön in LVIV, muss unbedingt nochmals so eine Rundreise machen. Ich habe so wundervolle Menschen kennengelernt, ich bin zutiefst beeindruckt! Es...“
lev in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Danke Bernd für deine Eindrücke. Ich fahre Ende Mai wieder für mehrere Wochen nach Lviv. Nicht um Urlaub zu machen, sondern in unsere Wohnung. Hatte sie ja vor dem Krieg, aufwendig saniert und möchte...“
Bernd D-UA in MDR • Re: Ukraine: Trotz Krieg Touristen
„Hallo liebe Forengemeinde und Mitleser, ich bin gerade auf einem Kurztripp durch die Ukraine. Es ist wunderschön wieder hier zu sein. Es fehlen die Touristen, gestern habe ich einen persönlichen und...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Kurzer Bericht, hab dann doch den Wachwechsel erwischt, bei den Polen ging dann bestimmt 45 Minuten gar nix. Und dann wurde in zwei Schüben eingelassen, ich finde, dann ging es in einem guten Tempo voran....“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Bin jetzt da, 10 PKW vor mir, das ist akzeptabel, ist ja auch der 1.Mai. Bin zufrieden mit der Situation. @Frank Fahre immer noch ein schwarzes Auto... kennst doch meine Erfahrung mit der Polizei in UA...Kaffeebraun...“
Frank in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Probier doch einfach. Wenn der offen ist doch alles ok. Bin da glaube mal zurück drüber gefahren. War dann nur eine ewige Kurverei bis zur A4. Bin da aber eh erstmal bis Krakau. Kann natürlich auch...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Schade, dass es keine Info´s zu Zosin gibt, wer aber noch was weiß, bitte schreiben, ich fahre jetzt in 30 Minuten los und kann immer noch in ca. 10h bei einem Stopp nochmals nachlesen. Google Maps schickt...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Diesen Grenzübergang hatte ich schon auf dem Schirm, kenne ihn nur noch nicht. Kann jemand noch etwas zu Zosin sagen, wäre ja auch machbar oder lieber nicht? Vielen Dank Bernhard.“
bernhard1945 in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Hallo Bernd Es hängt etwas davon ab, wohin Du in Ukraine fahren möchtest. So wie es scheint möchtest Du (wie ich normalerweise) in Richtung Kiew fahren. Ich benütze deshalb seit Jahren den Übergang...“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Ergänzend, möchte nach Luzk fahren, ist ja sicherlich nicht uninteressant für einen Ratschlag.“
Bernd D-UA in Berichte und Reisetipps • Re: An welchem Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine geht es am schnellsten?
„Möchte morgen über Nacht in die Ukraine fahren und plane die Ankunft an der Grenze sehr früh am Morgen. Fahre entweder über Polen oder ggf. über Tschechien, je nachdem was google maps empfiehlt. Normalerweise...“
Ahrens in Recht, Visa und Dokumente • Re: Visa D14
„Das ist ein simples D-Visum, wie man es auch in Deutschland für die Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung braucht. Man benötigt dazu keine Mindestaufenthaltszeit. Auch bei der Aufenthaltserlaubnis...“
JohannesTim in Berichte und Reisetipps • Mit dem Zug in die Ukraine
„Zunächst möchte ich sagen, daß die PKP für die Sitzplatzzüge, die zum Beispiel von Kattowitz bis nach Przemysl fahren, die Preise nicht erhöht hat. Allgemein gilt die Polnische Staatsbahn eher als...“
MHG1023 in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
„"Warum verlangt die PKP von den Fahrgästen solch einen Preis ?" - Weil sie es können ... Die Nachfrage dürfte weiter hoch sein und weil es keine vergleichbaren Alternativen gibt (Buslinien über Nacht...“
JohannesTim in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
„Die Polnische Staatseisenbahn PKP Intercity S.A. erhöhte für den Schlafwagen-Zug D 68 am 1. Februar 2025 die Fahrpreise um + 38 Prozent. : Vom Warschauer Ostbahnhof fährt abends um 17.49 Uhr der Schlafwagen-Zug...“
HelloMick in Hilfe und Rat • Brauchen Hilfe bei Diia Registrierung
„Hallo. Meine Ex-Frau ist schon über 22 Jahre in Deutschland. Jetzt benötigt sie einen Termin für das Konsulat. Aber es werden nur Termine über Diia vergeben. Kann uns jemand erklären wie das genau...“
Trick in Recht, Visa und Dokumente • Visa D14
„Hallo..... Ich benötige nochmals euer Schwarmwissen.... Bin seit Dezember letzten Jahres in der Ukraine verheiratet worden Jetzt meine Frage.....ich habe auf der Seite der ukrainischen Botschaft einen...“