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Die Juden und der Maidan

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Um zu verstehen, was um den Maidan herum geschieht, muss man wissen, was der Maidan war. Und bei der Gelegenheit auch herausfinden, wer die Ukrainer und wer die ukrainischen Juden sind.

Der “Antisemitismus des Maidans” ist in den letzten Monaten eins der wichtigsten Kernthemen der russischen Propaganda geworden, die darauf ausgerichtet ist, die Protestbewegung in dem Land in Verruf zu bringen. Ãœber die Gefahren des Antisemitismus sprach der russische Außenminister Sergej Lawrow als einer der ersten. Das Leitthema Antisemitismus wurde auf der letzten Pressekonferenz des seine Macht verlorenen Wiktor Janukowitschs wiederholt angesprochen. Von der falschen Berichterstattung, die die antisemitischen Gefühle der sich auf dem Maidan versammelten ausmalt, spreche ich nicht einmal. Diese Lüge können keine Fakten verhindern. Nicht die Präsenz der jüdischen Aktivisten und Rabbiner auf der Bühne des Maidans, nicht die Selbstverteidigungskräfte des Maidans, die die Synagogen bewachen, auch nicht die “jüdische Hundertschaft” und der Tod ukrainischen Bürger jüdischer Herkunft während des Auseinanderjagens der Proteste – auf all diese Tatsachen wird man die Auszüge aus alten Auftritten der Anführer der Swoboda und des Rechten Sektors zitieren, an antisemitische Parolen erinnern und sie des Versuchs bezichtigen, einen “ethnisch reinen” Staat zu schaffen.

Diese meisterhaft vorbereitete Informationswelle kann keine Handlung derselben Radikalen aufhalten, ob sie nun über die Priorität europäischer Werte im Parlament oder auf der Maidanbühne sprechen, oder israelische Botschafter in Kiew treffen, um zu diskutieren, wie man zusammenarbeiten sollte, um Provokationen zu verhindern. Deshalb will ich nicht die Leitsätze der Kreml-Politstrategen und ihrer Marionetten diskutieren. Um zu verstehen, was um den Maidan geschieht, muss man wissen, was der Maidan war. Und bei der Gelegenheit auch herausfinden, wer die Ukrainer und wer die ukrainischen Juden sind.

Wenn wir annehmen, dass der Maidan zu einem starken Impuls zur Bildung der modernen ukrainischen politischen Nation wurde, müssen wir verstehen, dass diese Nation keine ethnischen Grenzen hat – wie zum Beispiel die moderne französische politische Nation sie auch nicht hat. Französische Juden fühlen sich schon lange – abgesehen von allen antisemitischen Ausschreitungen der Vergangenheit – als Teil der politischen Nation, gerade weil ethnische Grenzen weggewischt sind, und jeder, der sich wie ein Franzose fühlen, seine jüdische Identität bewahren oder beide Identitäten kombinieren möchte, die freie Wahl bekommt. Wenn es keine politische Nation gibt – gibt es auch keine freie Wahl.

Genau so war es in der Ukraine. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden sowohl die Ukrainer als auch die Juden als Teil eines Super-Ethnos des “sowjetischen Volkes” wahrgenommen, der in Republiken und nationale Gruppen aufgesplittert war. Dabei wurde stillschweigend davon ausgegangen, dass dieses Konzept des “sowjetischen Volkes” in Wahrheit kokett die Anziehung aller anderen Völker zur russischen Kultur in ihrer bolschewistischen Version maskierte. Und während es unter den Ukrainern solche gab, die bereit waren, die Russifizierung und die Aufgabe nationaler Identität als Preis für sozialen Erfolg hinzunehmen, und solche, die diese um jeden Preis auch bei widrigen Bedingungen bewahren wollten, hatten die Juden im Wesentlichen keine solche Wahlmöglichkeit.

Ukrainische Juden sind überhaupt das größte Phänomen unter den jüdischen Gemeinden in Ost-und Mitteleuropa. Phänomen, gerade weil es schon lange keine ukrainischen Juden gibt. Man kann nicht sagen, dass es sie nie gab – die gab es natürlich – aber sie wurden ein Opfer von Bogdan Chmelnizkijs –Aufstand, der zur fast vollständigen Vernichtung des jüdischen Volkes auf dem modernen ukrainischen Gebiet führte. Die neue jüdische Ansiedlung begann nach der Angliederung dieser Regionen – und danach des Rests der Rzeczpospolita – an das russische Reich. So kamen die Juden in die Gebiete, in denen aktiv alles Ukrainische verbannt wurde – mit der Teilnahme von unter anderem nicht nur der Kolonialverwaltung, sondern auch der Ukrainer selbst: dem Teil von ihnen, die immer die eigene Karriere der Verteidigung nationaler Interessen vorzog. Die neuen ukrainischen Juden wiederum bestanden aus zwei Gruppen. Die erste von ihnen wollte ein Teil der “neuen Welt” sein, einer imperialen oder sowjetischen Welt, durch die vollständige Aufgabe der nationalen Wurzeln. Die zweite versuchte, ihre Identität zu bewahren bei gleichzeitiger Teilnahme am öffentlichen und staatlichen Leben – aber dieser Staat war niemals die Ukraine, es war immer Russland, in welcher Kleidung auch immer es auftrat. Während die Ukrainer diese Verkleidung der Ukrainischen SSR als echt wahrnehmen konnten, weil es so einfacher war, ihre eigene machtlose Stellung zu akzeptieren, war diese Verkleidung für die Juden sehr offensichtlich und nicht interessant. Und sie, genau wie viele ihrer Nachbarn, wurden russischsprachig, auch wenn in der Vergangenheit ihre Muttersprache Jiddisch war und ihre Nachbarn Ukrainisch sprachen.

Dabei darf man nicht vergessen, dass die Juden, die nicht mit ihrer Identität brechen wollten, immer unter Angriffen der Machtelite litten, die durchaus mit dem erbitterten Kampf vergleichbar waren, den der russisch imperialistische Chauvinismus oder seine bolschewistische Form mit der ukrainischen Nationalbewegung führte. Die zionistische Bewegung des Russischen Reiches und der Bund, der die nationale Autonomie anstrebte, wurden von den Bolschewisten zerstört. Danach waren die jüdische Kultur und die jiddische Sprache an der Reihe: die Repressionen begannen in den 30er Jahren und in den letzten Jahren Stalins, als die Klassiker der jüdischen Literatur erschossen wurden und der große Schauspieler Solomon Michoels getötet wurde, wurde diese Kultur im Wesentlichen vernichtet. Zu diesem Zeitpunkt haben die ethnischen Gruppen der Juden, die von der Russifizierung betroffen waren, praktisch aufgehört zu existieren. Die Juden Galiziens und Bukowinas, die aktiv mit den Ukrainern, Polen und Rumänen interagierten, wurden vollständig durch den Holocaust vernichtet. Der Holocaust löschte auch die Existenz einer anderen Gruppe der Juden aus, die nicht von der Russifizierung betroffen war – die Krimtschaken, die mit den Krimtataren zusammenlebten. So kam es, dass Mitte der 50er Jahre die Juden der Ukraine einfach zu “sowjetischen Menschen” wurden, deren nationale Identität für jeden Träger gefährlich war – wie sie für jeden Ukrainer gefährlich war, wenn sie sich nicht auf die Interpretation der Folklore beschränkte. Und die Angst, man selbst zu sein, blieb mit den ukrainischen beziehungsweise sowjetischen Juden, solange die Sowjetunion existierte. Eine natürliche Reaktion auf diese Angst war die Assimilation zugunsten des Kolonisators – des russischen Volkes, die Repatriierung nach Israel oder die Emigration in die Vereinigten Staaten mit ihren institutionalisierten jüdischen Gemeinden. Aber sicher nicht der Beitritt zur verfolgten und marginalisierten ukrainischen Nationalbewegung.

Was hat sich seit der Unabhängigkeit in der Ukraine geändert? Fast nichts, weil diese Unabhängigkeit einfach ein neuer Name der sowjetischen Ukraine war. Natürlich hat die Abhängigkeit vom ehemaligen Zentrum abgenommen, aber der Einfluss des russischen Informations- und Zivilisationsraumes bleib dominant. Vor allem – die Entwicklung des ukrainischen Staates wurde weiterhin durch die sowjetische Zivilisation definiert, die alles Ukrainische als zweitklassig auffasst und auf Folklore reduziert. Der Triumph dieser Wahrnehmung kam paradoxerweise kurz nach 2004, als der König der ukrainischen politischen Folklore Wiktor Juschtschenko an die Macht kam. Die Ukrainer versuchten, sich vor der wachsenden Marginalisierung der eigenen Kultur im eigenen Land durch eine “ethnische Revolution” zu schützen, die zu der Entstehung von nationalistischen und radikalen politischen Gruppen führte und schließlich das Land in den Westen und das Zentrum auf der einen Seite und in den Osten und den Süden auf der anderen spaltete, die Regionen, also, in denen die “ethnische Revolution” triumphierte und das Gebiet, in dem die sowjetische Zivilisation in ihren rohen und kitschigen Formen unschlagbar war.

Was sollten die Juden in diesem ihnen fremden Widerstand tun? Nichts, denn es gab praktisch keine einflussreiche jüdische Gemeinde im Land, da die meisten Juden der Ukrainischen SSR in den frühen 90er Jahren Bürger von Israel, den USA oder Deutschland wurden. Die verbliebenen Juden waren wie auch in der Kaiserzeit in die Prozesse integriert, die sich auf dem Territorium, auf dem sie lebten, abspielten. Deshalb akzeptierten die Juden der westlichen und zentralen Regionen die Wiederbelebung der ukrainischen Kultur, auch in seiner ethnischen Variante, und die im Osten und Süden blieben die gleichen sowjetischen Menschen, die fest an ihrer Verbindung mit der russischen Kultur hingen und von dem Primat dieser Kultur über alle anderen überzeugt waren. Dass auf der Bühne des Maidans der Präsident des eurasischen jüdischen Kongress Josef Zissels war oder der Autor dieser Zeilen ist genauso natürlich, wie die Tatsache, dass die lokalen Machthaber in Charkow Michail Dobkin und Gennadij Kernes zu Symbolen des neo-sowjetischen Chauvinismus in seiner pöbelhaften Form wurden.

Die Protestbewegung, die diese Randexistenz unterbrach und der Auftakt zu einer neuen politischen Nation wurde, änderte alles. Plötzlich stellte sich heraus, dass man in der Ukraine alles teilt: die Flagge, die Hymne, die Werte und auch den Slogan “Ruhm der Ukraine!”. Es stellte sich heraus, dass nicht nur die Ukrainer, sondern auch Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft, auch Russen, Juden, Armenier, Weißrussen, Aserbaidschaner oder Krimtataren bereit sind, sich für das Land zu opfern. Ja, man kann sagen, dass dieser Protest an den Ostgrenzen anhielt, aber jetzt, unter dem Einfluss der aggressiven Politik des auferstandenen “Reichs des Bösen”, gewinnt er auch in den östlichen Regionen der Ukraine an Dynamik – und wenn sie nicht der russischen Besatzung zum Opfer fallen, bildet sich die moderne ukrainische politische Nation auch dort. Das bedeutet, dass ukrainische Juden sowie andere ethnische Gruppen überall zu einem natürlichen Teil der neuen politischen Nation werden. Und Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus werden dauerhaft marginalisiert und bleiben höchstens in der Propaganda des russischen Außenministeriums.

Im Grunde genommen ist ebendiese Schaffung einer modernen politischen Nation die größte Sorge des putinschen Regimes. Die Ukraine blieb im Wesentlichen eine Kolonie von Russland nicht, weil sie für Gas bezahlte und auch nicht, weil der vierte Präsident eine Kreml-Marionette war, sondern weil die sowjetische Mentalität der Ukrainer mit der sowjetischen Mentalität der Russen korreliert, die auf tragische Weise unfähig sind, die Gegenwart wahrzunehmen. Das Ende der Sowjetmentalität in der Ukraine ist ein Ende der Besatzung, die aus der Zeit der Perejaslawska Rada, ein Bruch mit der Vergangenheit und der Beginn der Bewegung in die Zukunft. Und das ist etwas, was die bis auf die Knochen sowjetische und furchtbar provinzielle politische Elite Russlands nicht zu verstehen vermag, die diesen Festigungsprozess der modernen politischen Nation in der Ukraine als einen großen Triumph der “ethnischen Revolution” wahrnimmt und nicht versteht, dass die “ethnische Revolution” nun lediglich ein Element der ukrainischen Reise in die Moderne geworden ist.

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10. März 2014 // Witalij Portnikow

Quelle: Lb.ua

Ãœbersetzerin: Natalia Sadovnik

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