Gestern wurde die ehemalige Premierministerin Julia Timoschenko gerade so in Freiheit gelassen. Die Generalstaatsanwaltschaft schloss die Untersuchung der Strafsache zur Überschreitung der Amtsvollmachen bei der Unterzeichnung der Gasverträge mit Russland 2009 ab. Für die Gewährleistung der Durchführung der Ermittlungen sicherte man sich bei der Generalstaatsanwaltschaft mit einem Gerichtsurteil zur Verhaftung von Timoschenko ab. Die Aussicht auf eine Untersuchungshaft der Ex-Premierin erregte ihre Anhänger und die europäische Öffentlichkeit, die durch Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka gestern beruhigt werden musste.
Sie hätte aus dem Kampf nicht zurückkehren können
Julia Timoschenko traf genau zur festgesetzten Zeit, um 10.00 Uhr, am Gebäude der Hauptermittlungsverwaltung der Generalstaatsanwaltschaft ein. Dort wurde sie von zwei Dutzend Journalisten und ebenso vielen Anhängern der Allukrainischen Vereinigung „Batkiwschtschyna/Vaterland“ mit Parteiflaggen erwartet. „Seid gegrüßt, meine Lieben, danke, dass Ihr gekommen seid“, dankte Julia Timoschenko den Versammelten und erklärte, sich an die Fernsehkameras wendend: „Sie (die Regierung) forciert die Ereignisse, denn die Angst davor sogar die Unterstützung derjenigen zu verlieren, die einst Janukowitsch unterstützt haben, sitzt ihnen im Nacken und zwingt sie dazu die wirklich funktionierende Opposition zu vernichten“.
In Begleitung ihrer Pressesprecherin Marina Soroka, der Bodyguards und ihres Anwalts, des Parlamentsabgeordneten Sergej Wlassenko („Block Julia Timoschenko – Batkiwschtschyna“), verschwand Timoschenko hinter den Türen der Generalstaatsanwaltschaft (GPU). Nach 15 Minuten rief jemand ihrer Anhänger in der Menge: „Julia wird ins Untersuchungsgefängnis gebracht!“ Diese Mitteilung brachte die Menge in Bewegung. „Aj-aj-aj, Juletschka!“, klagte eine der Aktivistinnen mit einer „Batkiwschtschyna“-Baseballmütze. Ein Teil der Anhänger Julia Timoschenkos lief sogleich zu den Toren, die aus dem Innenhof der Hauptermittlungsverwaltung der GPU auf die Nabereshno-Kreschtschatizkaja-Straße herausführen. Die Tore waren verschlossen. Den Versuch unternehmend zu verstehen, was hinter ihnen vorgeht, begannen einige die Feuerleiter des Nachbarhauses zu besteigen und von dort öffnete sich ihnen ein Bild, welches ihre Befürchtungen bestätigte; der Hof war mit maskierten Mitarbeitern der Spezialabteilung der Miliz in kugelsicheren Westen gefüllt und im Hof stand ebenfalls ein mobiler Gefangenentransporter. „Legen wir uns vor das Auto!“, rief eine der Aktivistinnen aus, vernehmend, dass Julia Timoschenko vor Gericht für eine Änderung der Sicherheitsmaßregelung gebracht werden könnte. Bekanntlich unterliegt die Führerin von „Batkiwschtschyna“ seit Ende Dezember letzten Jahres einer Meldeauflage (siehe Ausgabe des „Kommersant-Ukraine“ vom 21. Dezember 2010). „Freiheit für Timoschenko!“, begann die Menge zu skandieren. Müde vom Rufen der Losungen gingen die Anhänger der Ex-Premierin zum Gebet „Otsche nasch/Vaterunser“ über, anschließend sangen sie die Hymne der Ukraine. Am Ende brach aus der Menge das Lied „Wstawaj, strana ogromnaja/Steh auf du gewaltiges Land“ heraus.
„Heute wurde die Bewachung bei der GPU verstärkt. Alle Unbefugten wurden gebeten den Korridor beim Arbeitszimmer freizumachen, wo die Untersuchungshandlungen stattfinden. Daher waren wir mit den Bodyguards von Julia Wladimirowna (Timoschenko) gezwungen aus dem Gebäude zu gehen. Bei ihr verblieb nur der Verteidiger“, erklärte die Pressesprecherin Julia Timoschenkos, Marina Soroka, aus dem Gebäude kommend, dabei hinzufügend, dass sie in der GPU niemals eine solche Menge an maskierten bewaffneten Leuten gesehen habe.
Gegen 11 Uhr wurde die Gruppe der Unterstützer von Julia Timoschenko durch Parlamentsabgeordnete aus den Oppositionsfraktionen verstärkt. Der Parlamentsabgeordnete Wladimir Arjew („Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung“) parkte seinen BMW-X5 mit Nummernschildern der Werchowna Rada so, dass er die Ausfahrt aus dem Innenhof der Hauptermittlungsverwaltung versperrte. „Sollen sie mich bestrafen“, rief er unter zustimmenden Rufen der Aktionsteilnehmer beim Aussteigen aus.
Nach der Ausweisung aus der GPU unternahmen die Julia Timoschenko begleitenden Abgeordneten der Fraktion „Block Julia Timoschenko – Batkiwschtschyna“ einige erfolglose Versuche in das Gebäude zu gelangen. Jedoch waren die Türen zur Ermittlungsverwaltung verschlossen. Sie öffneten sich lediglich ein Mal, um den Leiter der Abteilung bei der Untersuchung von Strafsachen im Bereich von dienstlichen Tätigkeiten, Oleg Puschkar, herauszulassen, welcher eine Presseerklärung machte. „Der Generalstaatsanwaltschaft liegt ein Urteil des Petschersker Gerichts zur Verhaftung und Überstellung der Führerin von ‚Batkiwschtschyna‘ Julia Timoschenko vor das Gericht vor“, teilte er mit. Puschkar erklärte ebenfalls, dass der GPU Ermittler sich mit einem Bericht an das Gericht gewandt hatte, da „Julia Wladimirowna mehrfach die Ermittlungstätigkeiten sabotiert habe“.
Die Information über das Gerichtsurteil rief eine unverzügliche Reaktion in Europa hervor. „Ich bin außerordentlich beunruhigt über die Nachricht von dem Gerichtsurteil. Der Kontext und die Bedingungen für diesen Urteilsspruch verstärken die Beunruhigung bezüglich der politischen Motivation dieser Sache noch mehr“, erklärte der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek.
Zur Tagesmitte erhitzte sich die Atmosphäre beim Gebäude der Hauptverwaltung der GPU weiter. „Es wurde bereits eine Frauenbrigade des Innenministeriums angefordert, sie (Julia Timoschenko) wurde durchsucht“, rief eine der „Batkiwschtschyna“ Aktivistinnen aus. Die Anhänger Julia Timoschenkos, deren Anzahl bereits 200 Menschen überstieg, patrouillierten an jedem der drei möglichen Wege für den Gefangenentransporter. Um die Möglichkeit einer Überstellung der Ex-Premierin vor das Gericht auszuschließen, brachten die Aktivisten sogar die Idee hervor den Verkehr auf der Nabereshno-Kreschtschatizkaja zu sperren. Derweil traf zur Unterstützung von Timoschenko ihr Ehemann Alexander ein. „Bis zum heutigen Tag habe ich nicht geglaubt, dass derartiges möglich ist“, sagte er.
Bei der Staatsanwaltschaft ist alles ruhig
Bei der Generalstaatsanwaltschaft hat man die Informationsbegleitung der gestrigen Ereignisse sorgfältig und, allem Anschein nach, rechtzeitig vorbereitet. Zu der Zeit, wo die Vertreter von „Batkiwschtschyna“ die Ausfahrten der Hauptermittlungsverwaltung blockierten und Journalisten ihren Verdacht bezüglich einer Verhaftung Julia Timoschenkos mitteilten, telefonierten die Protokolldienste der Generalstaatsanwaltschaft die diplomatischen Vertretungen der westlichen Länder ab, die Diplomaten zu einem Treffen mit dem Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka einladend. Unter den Geladenen waren die Botschafter der USA, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Schwedens und der Nachbarstaaten der Ukraine – Polen, Ungarn, Rumänien und ebenfalls der Leiter der Vertretung der Europäischen Union. Ein Teil der Botschaften vermochte es nicht so schnell auf die Einladung zu reagieren und war auf der Stellvertreterebene der Botschaftsleiter vertreten.
Das Gespräch mit dem Generalstaatsanwalt dauerte mehr als eine Stunde und, wie dem „Kommersant-Ukraine“ Diplomaten anonym mitteilten, war es praktisch vollständig der Situation um die Festnahme Julia Timoschenkos gewidmet. „Beispielsweise wurde nicht einmal eine Frage zu Jurij Luzenko gestellt“, teilte einer der Teilnehmer des Treffens mit. Wiktor Pschonka erzählte den Diplomaten, dass gestern Morgen die Möglichkeit eines Arrests von Timoschenko komplett möglich war. „Er verwies auf das Urteil des Petschersker Gerichts, von dem wir zu diesem Moment bereits von den Nachrichtenagenturen erfahren hatten. Und soweit dies ein Gericht war, dann ist das eine unabhängige Entscheidung, die nicht von der Staatsanwaltschaft abhängt. Über die Motivation des Gerichts wurden wir nicht informiert“, erläuterte dem „Kommersant-Ukraine“ ein Diplomat die Logik der Generalstaatsanwaltschaft.
Übrigens beeilte sich der Leiter der GPU den Vertretern der Botschaften zu versichern, dass der Ermittler die vom Gericht eingeräumte Möglichkeit nicht zu nutzen beabsichtigt. „Pschonka betonte, dass es keine Verhaftung geben wird. Seinen Worten nach ist zwischen Timoschenko und den Ermittlern bereits eine entsprechende Vereinbarung erreicht worden, ein Geschäft“, erzählte einer der Gesprächspartner des „Kommersant-Ukraine“. Timoschenko versprach im Austausch dafür die Zusammenarbeit mit den Ermittlern fortzusetzen. Die Notwendigkeit des Treffens mit den Botschaftern erklärte man bei der GPU mit der weiten Resonanz, welche die Strafsache gegen Julia Timoschenko in der Welt hervorgerufen hatte. „Die Bedeutung, die heute dieser Strafsache zugesprochen wird und soweit diese politisiert ist und ebenfalls die Bedeutung, die dieser Sache von den europäischen demokratischen Instituten gegeben wird, hat diese Unterredung erforderlich gemacht“, erläuterte der Erste Stellvertreter des Generalstaatsanwalts, Renat Kusmin, später.
Sofort nach dem Treffen mit den Botschaftern fand in der Generalstaatsanwaltschaft eine außerordentliche Pressekonferenz mit Kusmin statt, der die Tätigkeit der Hauptverwaltung bei Ermittlungen in besonders wichtigen Angelegenheiten betreut. Er teilte mit, dass Julia Timoschenko der Überschreitung ihrer Macht und der Amtsvollmachten bei der Unterzeichnung der Gasverträge beschuldigt wird. „Ich denke, dass die Ermittlungshandlungen im Laufe einer Stunde abgeschlossen werden, wonach Timoschenko ungehindert das Gebäude der Ermittlungsverwaltung verlassen kann“, erklärte Kusmin. Er bestätigte, dass am Montag vom Petschersker Bezirksgericht ein Urteil zur Festnahme Julia Timoschenkos und ihrer Überstellung zum Gericht für die Änderung der Sicherheitsmaßregel von einer Meldeauflage zu einer Haft gefällt wurde. „Es gibt einen solchen Gerichtsentscheid und er kann umgesetzt werden“, sagte Renat Kusmin. „Doch heute sind die Ermittlungen in der Strafsache faktisch abgeschlossen und die Ermittlung sieht keine Notwendigkeit in einer Haft von Timoschenko“.
Der Stellvertreter des Generalstaatsanwalts betonte, dass das Urteil des Petschersker Gerichts mit dem Ziel erhalten wurde „mögliche Störungen der Ermittlungshandlungen auszuschließen“. „Falls die Ermittlungshandlungen gestört werden würden, dann wären wir heute gezwungen gewesen, diese harte Maßnahme anzuwenden“, erzählte Renat Kusmin. „Doch Julia Wladimirowna ist selbst freiwillig beim Ermittler erschienen, offensichtlich wusste sie, dass es das Gerichtsurteil zu ihrer Festnahme gab und damit kam sie möglichen negativen Folgen für sich zuvor“.
Kusmins Worten nach könnte die Strafsache gegen Julia Timoschenko bald einem Gericht übergeben werden. „Diese Strafsache umfasst acht Bände und gemäß der existierenden Praxis kann man sich mit diesen qualifiziert und qualitativ im Verlaufe einer, maximal zwei, Arbeitswochen vertraut machen“, sagte er. Dabei hob der Stellvertreter des Generalstaatsanwalts hervor, dass, falls die Beschuldigte oder ihre Verteidiger den Prozess des Materialstudiums verzögern, der Ermittler „gezwungen sein wird sich an das Gericht zu wenden und auf dem Gerichtsweg diese Fristen beschränken wird“.
Julia Timoschenko kam um 17.30 Uhr unter „Julia! Julia!“ Freudenrufen der Menge aus der GPU. „Bei der Staatsanwaltschaft hat man mich durchsucht, es wurde persönliche Dinge aufgeschrieben, in der Tasche gekramt, versuchte man mein Telefon und elektronischen Kommunikationsmittel, darunter das iPad, wegzunehmen. Das ist Unkultur“, beschwerte sie sich. „Ich habe keine Zweifel daran, dass sie die Entscheidung zur Verhaftung erst unter dem Druck der Leute revidiert haben“. Bei der Kommunikation mit der Presse wandte sich Julia Timoschenko an Präsident Wiktor Janukowitsch und rief ihn dazu auf „ein Mann zu sein“. „Ich habe heute, Herr Janukowitsch, keine Machtstrukturen, keine Richter in der Tasche, keine Repressionsmaschine, keine Banden, die Sie umgeben, keine Milliarden, die Sie dem Staat genommen haben. Möglicherweise habe ich überhaupt nichts, doch nach solch schwerwiegenden Handlungen , glauben Sie mir, sehen Sie mit all Ihren Kanonen weitaus schwächer aus, als ich. Denn Sie haben Angst, nicht ich“, verkündete sie. „Daher seien Sie wenigstens ab und zu ein Mann und kein Mensch, der Anspruch auf fremde Hüte erhebt“. Diese Erklärung für die Presse machend und den Anhängern für die Unterstützung dankend, fuhr Julia Timoschenko weg.
Olga Kurischko, Jelena Geda, Sergej Sidorenko
Quelle: Kommersant-Ukraine
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