Am vergangenen Samstag veranstaltete der Polit-Club Witalij Portnikows seine auswärtige Sitzung in Moskau. Das gemeinsam mit dem Projekt „Freiheit in den Clubs“ (Swoboda v klubach) auf Radio Swoboda und der Moderatorin Jelena Fanajlowa organisierte Treffen wollte man der recht allgemeinen Frage nach dem gegenseitigen Verstehen der russländischen und ukrainischen Gesellschaft widmen. Wie aber zu erwarten gewesen ist, war es schwierig, am Tag des Meetings auf dem Bolotnaja-Platz über irgendetwas anderes zu sprechen. Im Angesicht der Tatsache, dass alle eingeladenen Experten ohnehin Spezialisten der ukrainisch-russländischen Beziehungen und der Innenpolitik dieser Länder sind, waren Vergleiche mit dem Majdan unausweichlich.
Der Chefredakteur der Zeitschrift „Zeitgenössisches Europa“ (Sowremennaja Ewropa) Wiktor Mironenko sieht praktisch keinen Unterschied zwischen den Protesten der Russländer gegen die Fälschung der Dumawahlen und den ukrainischen Ereignissen vor sieben Jahren. Der einzige wirkliche Unterschied sei ein zeitlicher von fünf bis sechs Jahren. Die ukrainische Protesterfahrung könne zum guten Beispiel, mindestens hinsichtlich seines friedlichen Ausdrucks, der Organisation und des Erfolges werden. Ob die Russländer sich dieses guten Beispiels bedienen könnten, hinge allerdings von ihnen selbst ab.
Eine Gemeinsamkeit liege auch in den Gründen für die Unzufriedenheit. Die Menschen in allen Teilen der Welt reagierten auf öffentliche Erniedrigung in gleicher Weise – wenn man sie unverfroren betrüge, sie ihrer gesetzlichen Rechte beraubte, würden sie früher oder später beginnen sich zu wehren. So sei es 2004 in der Ukraine gewesen, als man versuchte Janukowitsch durchzuschmuggeln, und so sei es jetzt auch in Russland. Nur im letzten Fall seien die Folgen der Proteste noch nicht bekannt.
Die Leiterin des Zentrums für Problemanalysen der Länder des nahen Auslands am Russländischen Institut für strategische Studien (RISI) Tamara Gusenkowa sprach von grundlegenden Unterschieden. In Russland passierte etwas vollkommen Neues. Überhaupt, seien es die Beobachter bereits gewohnt, Russland und die Ukraine zu vergleichen. Während man früher gesagt habe, die Ereignisse kämen in Kiew mit drei- bis sechsjähriger Verspätung an, so sei es plötzlich normal anzunehmen, dass die Ukraine einen Sprung nach vorne gemacht habe. Aber all diese Vergleiche hätten aus vielen Gründen keinen Bestand.
Die Länder verfügten über unterschiedliche politische Systeme und seit 2005 sei bereits zu viel passiert, als dass die russländischen Ereignisse diejenigen der Orangen-Revolution spiegeln könnten. Es seien auch viele andere Prozesse vonstattengegangen – zu erinnern sei beispielsweise an jenen „Arabischen Frühling“. Deshalb sei so ein Vergleich ausschließlich als Bild zulässig, als Erinnerung daran, dass jedes beliebige Land im Zusammenhang mit Wahlprozessen bestimmte Transformationen durchlebte.
Als weiterer Grund, weshalb es sich nicht lohne, das in der Ukraine sich Ereignete auf russländischen Boden zu übertragen, könne die Tatsache gelten, dass es den Ukrainern nicht gelungen sei, ihre Proteste in ein erfolgreiches und blühendes Land einzutauschen. Wenn dies passiert wäre, so würde man nun den Majdan als Beispiel nehmen können. Die Ukrainer seien hingegen verzweifelt, weil sie für ihre Ziele und Ideale gekämpft hätten, welche zu erreichen ihnen aber nicht gelungen sei.
Für den Politologen und Publizisten Andrej Okara macht sich ein Unterschied auch wie folgt bemerkbar: wenn in der Ukraine von Präsidentschaftswahlen die Rede gewesen sei, wo sich mit aller Schärfe die Frage stelle – gewinnt der eine oder gewinnt der andere Kandidat, hätte man es in Russland mit den Ergebnissen der Parlamentswahlen zu tun, wo es keinen eindeutigen Gewinner gebe – die Frage stelle sich hier nach dem prozentualen Anteil der verschiedenen Teilnehmer – und das seien schon Einschätzungen im Graubereich.
Und überhaupt habe Wladimir Putin einfach keine personifizierte Alternative – die russländische Opposition verfüge über viele Persönlichkeiten, aber es gebe nicht eine, welche für die Menschen allgemein akzeptabel wäre. Dies gelte nicht nur für Persönlichkeiten. Wenn einerseits Juschtschenko, obgleich ein populistisches, aber doch ein Programm gehabt hätte, so hätten andererseits die sich versammelnden Menschen auf dem Bolotnaja keine verbindlichen Ideen, die die Mehrheit vereinen könnten. Das Einzige, was die Menschen zusammenrücken könne, mit Ausnahme der Unzufriedenheit mit der Regierung, könne der Kampf gegen die Fälschungen werden. Aber auch hier gebe es Meinungsverschiedenheiten: einer würde sagen, dass neue Wahlen erforderlich seien, ein anderer, dass man die Stimmen einfach nochmals zählen müsse.
Eine ganz starke Gemeinsamkeit sei allerdings darin zu beobachten, wer auf den Platz ginge. Sowohl diejenigen, die auf dem Majdan gewesen seien, als auch diejenigen, die auf dem Bolotnaja stünden, seien keine „Sozialhilfeempfänger“, die vom Staat Geld forderten – sie wollten vom Staat nicht mehr für Idioten gehalten werden und dass ihnen die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung gegeben werde.
Nach Meinung des Experten der Presse- und Nachrichtenagentur “LIGABisnesInform” Sergej Wyssozkij, lohne es sich auch deshalb nicht die ukrainischen Ereignisse von vor sieben Jahren mit der aktuellen Tagesordnung in Russland zu vergleichen, weil in vielem die russländischen Aktionen Proteste gegen die Alternativlosigkeit in der Politik seien, an welche die Ukrainer schon lange nicht mehr denken würden. Es sei sehr wohl möglich, dass es dank der Anstrengungen Wiktor Janukowitschs gelinge, solch eine Alternativlosigkeit auch in Kiew durchzusetzen – und dann gingen die Ukrainer mit Protestaktionen auf die Straße, die dem ähnelten, was gerade auf dem Bolotnaja-Platz passiere. Nur die ökonomischen Bedingungen für solch eine Monopolisierung der Macht fehlten sehr wahrscheinlich in der Ukraine.
Wenn man aber wollte, könne man sehr viele Gemeinsamkeiten mit dem Majdan von 2004 und insbesondere den vorausgegangenen Ereignissen finden, meint Witalij Portnikow. In der Ukraine sei es auch zur Protestaktion „Ukraine ohne Kutschma“ (Ukraina bes Kutschmy) gekommen, als es zum damaligen Präsidenten keine Alternative zu geben schien – und es seien Menschen auf die Straße gegangen, die mit der Regierung in nichts übereingestimmt hätten. Wiktor Juschtschenko habe damals die Protestierenden „Faschisten“ genannt, aber nach einer gewissen Zeit habe er dann selbst auf dem Majdan gestanden. Zum Zeitpunkt der Durchführung der Aktion „Ukraine ohne Kutschma“ habe eben jene „Nicht-System-Opposition“ die Menschen auf die Straße gebracht, von der jetzt Russland rede.
Den eklatanten Unterschied zwischen den beiden Protestbewegungen dürfe man auch nicht ignorieren. Äußerlich seien dies sehr ähnliche Prozesse, allein schon deshalb, weil die Organisatoren und Teilnehmer der Proteste in Russland die Logik des Majdans in ihr Vorgehen theoretisch einbeziehen, würden sie diese teilweise sogar nachahmten. Politisch gehe es aber um eine ganz andere Erscheinung. Wir hätten es mit einem Prozess zu tun, bei dem das aus der Politik verdrängte schließlich von der Gesellschaft aktiv gegen diese gewandt werde.
In der Ukraine habe es solch eine Verdrängung nie gegeben. Sogar in den allerschwierigsten Zeiten habe die Elite der Mächtigen wenigstens teilweise die Fähigkeit zum Dialog aufrechterhalten. Aus äußeren und inneren Gründen hätten die Machthabenden mit den Meinungen ihrer politischen Konkurrenten und der Gesellschaft rechnen müssen. Wenn nicht in allem, so doch teilweise. In Russland gebe es für solch einen Dialog nicht mal ein Anzeichen, wobei der Wunsch solch einen einzurichten auf beiden Seiten gänzlich fehle. Und in diesem Unwillen sich gegenseitig zuzuhören und zu verstehen finde sich der grundlegende Unterschied dieser beiden scheinbar ähnlichen Prozesse.
14.12.2011 // Aleksandr Golubow
Quelle: Lewyj Bereg
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